A: karita. – E: catastrophe, desaster.
F: catastrophe, désastre. – R: katastrofa.
S: catástrofe. – C: zaihuo灾祸


Nichts weniger als das »Lebenselement des Kapitalismus« hat Rosa Luxemburgs in ihr gesehen. Doch der Sensationalismus und Alarmismus der je neuen K, die sich eben ereignet hat oder gerade beschworen wird, verdecken die andauernd vorgehenden und die jetzt schon vorgängigen, künftigen K.n. Gerade der Katastrophismus trägt dazu bei, »dass es so weitergeht« – worin Walter Benjamin die K gesehen hat. Dies galt auch für seine marxistische Spielart, solange er wieder und wieder »die Unausweichlichkeit der ›Endkrise‹« annahm und daraus »die Unausweichlichkeit der Revolution« ableitete (KWM 4, 713). Je größer die Ohnmacht, desto größer die Hoffnung aufdie K als glückliche Wendung des Schicksals (fortunae vicissitudo, fortunae commutatio).

Das Wort καταστροφή bedeutet (nach Gemoll) Umkehr, Umsturz (der bestehenden Ordnung); auch Ausweg, Ausgang, Ende, Tod. In manchen Kontexten Unterwerfung, Unterjochung. Dominant wurde seine neutestamentarischeBedeutung: Zerstörung, Verderben. In der vonAristotelesausgehenden Poetologie bezeichnet es die mit der Katastase oder Peripetie – »plötzliches Umschlagen« (Wb. d. Lit.Wiss, Leipzig 1986, 393 u. 257) – eingeleitete Wendung des Handlungsverlaufs, der in der Tragödie mit Notwendigkeit zum Untergang des Helden führt. Der beim Zuschauer angezielte Effekt heißt Katharsis. Eine Chronik wäre zu erstellen von jenen großen K.n., die zum Umdenken nötigten, wie der Vesuvausbruch 79 oder das Erdbeben von Lissabon 1755, das hinreichte, um »Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren« (Adorno, GS 6, 354), und Rousseau dazu brachte, die Frage nach der K entscheidend zu säkularisieren und die (klassen-)gesellschaftlich bedingten Auswirkungen von Natur-K zu thematisieren (Brief vom 18. Aug. 1756). Der Versuch einer solchen Chronik würde ergeben, dass jedes eingetragene Datum den Eintrag eines weiteren verlangte und am Ende eine fast lückenlose Serie von K.n entstünde. Dabei würde sich Theodor AdornosThese bestätigen, dass die »K.n der ersten Natur« »unbeträchtlich« und »überschaubar« sind verglichen mit denen »der zweiten, gesellschaftlichen«, allein schon, wenn man an die mit dem Namen Auschwitz verbundene denkt, »die der menschlichen Imagination sich entzieht « (ND,GS 6, 354). Die aber doch wie die andern auch zu begreifen wäre, um nicht »die wichtigsten Wendepunkte der Geschichte in sinnlose K.n verwandeln«, wie Georg Lukács dereinst befürchtet hatte (GuK, 169, Fn. 1). Aber anders als Lukács, der die Kategorie der K der »Bewusstseinsform der Unmittelbarkeit« zuschlägt und aus dem »Begriffssystem der Vermittlungen« ausschließt – das »Wesen der Geschichte« kennt keine K – versuchen Autoren wie Étienne Balibar,»die Auswirkungen der Anomalie und der K, der Ausnahme und des Unvorhersehbaren ins Zentrum der politisch-anthropologischenReflexion zu stellen, ohne dabei auf eine rationale Analyse der Formen zu verzichten, in denen sich die Geschichte vollzieht« (2006, 7f).

 

1.

Marx zeigt Durchsetzung und Reproduktion der kapitalistischenProduktionsweise als durchweg katastrophischen Prozess, als ebensolchen prognostiziert er deren schließlicheÜberwindung. Dem »Reichtum« entspricht das »Elend« (23/675), jedenfalls in »absoluter, allgemeiner« Hinsicht. Ihre Regulative setzen sich ›hinterrücks‹, ›anarchisch‹ (vgl. K I,23/179, 511, 526) durch, wie »wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt« (89), gleich einem »überwältigenden Naturgesetz« mit »blind zerstörender Wirkung« sich austobend in »gewaltsamer Vernichtung von Kapital« (Gr,42/642), »maßlosester Vergeudung der Arbeitskräfte und den Verheerungengesellschaftlicher Anarchie« (23/511). Die »K« ist ihr Normalfall, »regularly recurring« (42/643), nicht die Ausnahme, resultierend aus dem grundsätzlich »antagonistischenCharakter derkapitalistischen Akkumulation« (23/675). So hat die kapitalistische Produktion zwar einerseits »die gesellschaftlichenProduktivkräfte hervorragend entwickelt, andererseits aber hat sie die eigene Unvereinbarkeit mit den von ihr selbst hervorgebrachten Kräften gezeigt. Ihre Geschichte ist nichts weiter als eine Geschichte von Antagonismen, Krisen, Konflikten und K.n« (2. Briefentwurf an V. I. Sassulitsch, 1881; 19/397) – von den Verheerungen der Gewaltgeschichte der »sog. ursprünglichen Akkumulation« (vgl. K I, Kap. 24)bis zur sog. »reellen Subsumtion« der Arbeit unters Kapital mittels der Maschinerie.

Den Umschlag von»revolutionärer« Entwicklung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte zeigt Marxz.B. im Kapitel über »Maschinerie und großeIndustrie« (K I, Kap. 13). Die technisch induzierte Umwälzung der »Funktionen der Arbeiter und diegesellschaftlichen Kombinationen desArbeitsprozesses« enthalten auf die »Aufhebung der alten Teilung der Arbeit« drängende »Umwälzungsfermente«, zu denen aber »die kapitalistische Form der Produktion« in »diametralstem Widerspruch« steht. »Wechsel der Arbeit, Fluss der Funktion, allseitige Beweglichkeit des Arbeiters« – Möglichkeitsbedingungenfür »das total entwickelte Individuum« ebenso wie für »eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter« (514) – gehorchen in der herrschenden Form einzig dem »wechselnden Exploitationsbedürfnis des Kapitals« (512). Wo dasArbeitssubjekt nicht überhaupt ›herausgeschleudert‹ wird aus dem Verwertungszusammenhang(›Lumpenproletariat‹) oder jederzeitdisponierbar »in Reserve gehalten« wird, ist es weiterhin degradiert zum »Teilindividuum«, zum »bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion« (512). Hier herrscht ein »absoluter Widerspruch« (511), der sich systemimmanent nicht aufheben, sondern in seinenEffekten allenfalls (durch politische und gesetzliche Maßnahmen) lindern lässt.

Im »wichtigsten Gesetz der modernen politischen Ökonomie« (42/641), der»immanenten Tendenz zum Fall der Profitrate« (42/647; vgl.K III, 25/221ff), und den »Momenten, die diese Bewegung aufhalten« (42/643),den ihr»entgegenwirkenden Ursachen« (25/242ff), äußert sich eben dieser Widerspruch zwischen Revolutionierung der Produktivkräfte und(gewaltsamer) Konservierung der kapitalistischen Form mitsamt ihren destruktivenEffekten. DieEntwicklung der technischen, wissenschaftlichen sozialen »etc.« Produktivkräfte wird, so prognostiziert Marx gewissermaßen idealtypisch, zu einem Punkt führen, ab dem sich »die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt« (42/641) – indem innerhalbder organischenZusammensetzung des Kapitals der mehrwertschaffendeAnteil, die»unmittelbare Arbeit« (642) bzw. ausbeutbare Arbeitskraft, im Verhältnis zum konstanten Kapital immer mehr abnimmt. Entsprechend sinkt die Profitrate. Dieser unweigerlichen,systemimmanenten Tendenz versucht das Kapital durch die zyklischen Krisen mit ihren kathartischen Effekten, durch Erhöhung des Ausbeutungsgrades der Arbeit, Lohnsenkung, Kapitalexport usw. zu begegnen (vgl. 25/242-50).

Aus dieser gegenstrebigen Fügung resultiert das Katastrophischeder kapitalistischenAkkumulationsweise und in ihr verdichtet sich die K als ›Wendepunkt‹: »These contradictions lead to explosions, cataclysms, crises, in which by momentaneous suspension of labour and annihilation of a great portion of capital the latter is violently reduced to the point, where it can go on fully employing its productive powers without committing suicide. Yet, these regularly recurring catastrophes lead to their repetition on a higher scale, and finally to its violent overthrow.« (Gr,42/642f)

 

2.

Die Anrufung der »endlichen K« im – 1879 von Engels in Abstimmung mit Marx geschriebenen – Zirkularbrief(19/164) erfolgt in einem Kontext, in welchem die Adressaten – führende Sozialdemokratenwie August Bebel und Wilhelm Liebknecht – dazu angehalten werden, sich der in der Partei breitmachenden Tendenz zu erwehren, den »Klassenkampf«, zumal den »zwischen Bourgeoisie und Proletariat«, als »großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung« zu streichen (165) und mithin den »Sturz der kapitalistischen Ordnung in unerreichbare Ferne« zu rücken, statt um seine »Bedeutung für die politische Praxis der Gegenwart« zu ringen (163). Doch daraus wird später, bei Liebknechtetwa, eine »eherne Logik«, nach der die kapitalistische Gesellschaft hintreibt in »eine K, in ihren eigenen Weltuntergang, der nicht abzuwenden ist« (Rede auf dem Erfurter Parteitag 1891, Prot., 339; zit.n. Korsch, GA 5, 594).

Im Gegenzug und mit dem Wind eines ökonomischen Aufschwungs im Rücken spottet Eduard Bernstein – der nachmals prominenteste Vertreter der von Engels kritisierten Fraktion jener, die an einen »allmählichen, stückweisen [...] Auflösungsprozess« (19/165) des Kapitalismus glaubten – über die »Ausbrüche vonsocialistischer Katastrophistis«, »den großen Kladderadatschalle Jahreein paar mal schon vor der Thüre [zu] sehen« (1896, 247). Seine Einwände gegen die »Katastrophentheorie« oder »Zusammenbruchstheorie«(1899/1991, 8 u.10) – Karl Kautsky stellt klar, dass diese Wortewie auch »das Wort ›Verelendungstheorie‹« nichtvon Marx oder Engels stammen, sondern von ihren»Kritikern« (1899, 114) – sind dreierlei. Erstens, der »totale Zusammenbruch descapitalistischen Systems an seinen eigenen Widersprüchen« (1896, 232) ist nicht in Bälde und auch auf lange Sicht nicht zuerwarten u.a. aufgrund der »Anpassungsfähigkeit«und der »Differenzierung« der Industrie und den unterschiedlichen Konjunkturen ihrer verschiedenen Zweige. Überhaupt ist die »bürgerliche Gesellschaft noch beträchtlicher Ausspannungfähig [...],ehe sie völlig ›zusammenbricht‹« (247). Zweitens ist die »große soziale K« (1899, 7) als »Product einer großen verheerenden Geschäftskrise« (234) auch nicht »herbeizuwünschen« (231), da die Arbeiterklasse zurMachtübernahme und zur sozialistischen Umgestaltung und Regulation der Gesellschaft noch nicht ausgebildet sei (234, 246). »Große Niederlagen« aber – wie zuletzt die der Pariser Kommune – wirken »noch Jahrzehnte demoralisierend unddesorganisierend auf die unterlegene Classe« (245). Drittens schließlich ist »klar«, dass die sozialistische Bewegung »in ihrem Vormarsch der Krise garnicht bedarf« (247). So unwahrscheinlich es ist, die angezielte Umwälzung »mit einer K durchsetzen zu können« (246), so gewiss ist nur eine »stückweise vollzogene Verwirklichung des Socialismus« möglich (234). Das Ziel »einer in allen Puncten streng communistisch geregelten Gesellschaft« liegt, da ist sich Bernstein gewiss, »in ziemlich weiter Ferne« (233). Die Dialektik von Fern- und Nahziel ist stillgestellt: Im (evolutionären) Reformismus fungiert die Revolution bestenfalls als eine Art regulative Idee, im (katastrophischen) Revolutionarismus wird sie ob der behaupteten Nähe zur realitätsfernen Phrase.

 

3.

Rosa Luxemburg – die von Bernstein zu den Katastrophisten gezählt wird – kritisiert die undialektische»Entgegenstellung [...] von ›K.n‹ und ›Entwicklung‹« (Erörterungen über die Taktik, 1898, GW 1.1, 259). Weder ist der »Gang der Dinge« vorzustellen als »eineReihe unvermittelter Kataklismen« noch als »ausschließlich friedlicher Prozess des Ineinandergleitens verschiedener Phasen und Entwicklungsstufen«; die»K« bildet vielmehr »ein Moment, eine Phaseder Entwicklung« (ebd.), und »in bestimmten Zeitpunkten« ist sie »unausbleiblich«. »Gerade wir also, die wir [...] einen sozialen Zusammenbruch als die Form des Überganges des Kapitalismus in die sozialistische Gesellschaft für unvermeidlich halten [...], stehen auf dem Boden der Entwicklung« (ebd.). Das heiße nicht, wie die reformistische Polemik unterstellt, dass »›man alles von dem Zusammenbruch erwarten‹ soll« (258).

Im Gegenteil, wie Bernsteingilt auch Luxemburg die »praktische alltägliche Tätigkeit behufs Aufbesserung der Lage der Arbeiterklasse« als »der einzigeModus [...], sich sozialdemokratisch zu betätigen«, d.h. »die Arbeiterklasse materiell zu konsolidieren, politisch zu organisieren und aufzuklären und« – hier bestehtder Gegensatz zum Glauben des »Opportunismus«,durch Reformen könne »die kapitalistische Gesellschaft unmerklich in eine sozialistische verwandelt« werden (259) – »auf den Zusammenbruch des Kapitalismus hinzuarbeiten« (258).

Soll aber der »positive alltägliche Kampf« nicht in opportunistischer Reformpolitik enden, ist jeweils nach seiner »Tragweite« und seinen »sozialen Folgen« im »Zusammenhang mit diesem oder jenem Gang der objektiven kapitalistischen Entwicklung« (259) zu fragen. Was aber kann man davon vorab wissen, aus der Analyse des geschichtlich Gewordenen und Gegebenen für Kommendes extrapolieren? Luxemburg antwortetmit einergroßen Untersuchungder Geschichte und der ›Logik‹ der kapitalistischen Akkumulation (Akku, 1913,Antikritik, posthum 1921; GW 5), deren Fazit lautet: »K: das Lebenselement des Kapitalismus von Anfang bis zu Ende« (Antikritik, 519). Sie ist die »normale Daseinsform des Kapitals«, das in seinem »Weltdrang« zusammen »mit den periodischen wirtschaftlichen K.n« eine»fortlaufende Kette politischer und sozialer K.n« bewirkt (Akku, 411). Als erste zur »Weltform« tendierende Wirtschaftsform, »zerschellt« der Kapitalismus an der »inneren Unfähigkeit«, eine »Weltform der Produktion« zu sein, da deren treibender Mechanismus, die Kapitalakkumulation um der Kapitalakkumulation willen, beständig nichtkapitalistisches ›Material‹ zur Kapitalisierung benötigt (ebd.).

Nicht nur in seiner »Entstehungsphase« – der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien –war seine »prometheische Leistung« mit einer Serie »herodischer Massenmorde« verbunden.Die sog.»primitive« oder ursprüngliche Akkumulation als»der erste Auftakt zur Expansion des Kapitals« ist ursprünglich auch in dem Sinne, dass sie ständig aufs Neue stattfinden muss, wobei der »Zusammenstoß zwischen dem Kapital und den vorkapitalistischen Gesellschaftsformen«immerfort »Gewalt,Krieg, Revolution«bedeutet (Antikritik,521). Mitder imperialistischen Kolonialpolitik und dem Weltkrieg siehtLuxemburgnun die »Schlussphase« gekommen, in der »die K als Daseinsform aus der Peripherie derkapitalistischen Entwicklung nach ihrem Ausgangspunkt« zurückkehrt. »Nachdem die Expansion des Kapitals vier Jahrhunderte lang die Existenz und dieKultur aller nichtkapitalistischen Völker in Asien, Afrika, Amerika undAustralien unaufhörlichen Konvulsionenund demmassenhaften Untergang preisgegeben hatte, stürzt sie jetzt die Kulturvölker Europas selbst in eine Serie von K.n, deren Schlussergebnis nur der Untergang der Kultur oder der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise sein kann.« (Ebd.)

 

4.

Karl Korschkritisiert bei seinem Versuch einer geschichtlich-sozialen Epistemologie der Krisentheorien – er versteht sie als bloße Reflexe der jeweils unmittelbar vorangegangenenökonomischen aufoder abschwingenden Konjunktur – beide Linien. Die ›subjektivistische‹, von Bernsteinzu Hilferding, Lederer,Naphtaliu.a. führende ob ihrer »Zerstörungaller objektiven Grundlagen der proletarischen Klassenbewegung«, indem sie den »Klassenkampf für die Befreiung des Proletariats zu einer bloßen ›sittlichen Forderung‹« (1933, GA 5, 596) erklärt. Aber auch die »›objektivistische‹ Grundhaltung« geht fehl, zumal inder Redeweise von der »Todeskrise« des Kapitalismus, die wahlweise als schon eingetreten oder unmittelbar bevorstehend oder mit »eherner Logik« alsbald eintretend behauptet wird. – Die Redeweise geht wohl auf Kautskyzurück(Vorw. v. Juli 1907 zu Engels’ Utopie) und reicht bis zu Trotzkis Übergangsprogramm (1938), das vom »Todeskampf des Kapitalismus« spricht; ihren »Stammvater« sieht Korsch aber in Engelsund dessen Prognose einer »›chronischenStagnation als Normalzustand der modernen Industrie‹« (Vorw. z. dt. A. von Elend, 1884; 4/566, Fn.). – Nicht nur, dass die These sich immer erneut vor der Wirklichkeit blamiert; schlimmer ist, dass sie »unbegründete Illusionen« (593) weckt und zum Attentismus (»ein fatalistisches Abwarten des automatischen Zusammenbruchs«) oder, umgekehrt, zu haltlosemAktivismus führt.

Korschs Einwand ist darüber hinaus ein grundsätzlich theoretischer und zielt nicht nur z.B. auf Werke wie Bucharins »berüchtigte ›Ökonomik der Transformationsperiode‹«,die »neuewissenschaftliche Theorie für den Ablauf dieses vermeintlichen kapitalistischen Weltuntergangs zusammenphantasiert«, sondern auch auf Rosa Luxemburg, in deren Akkumulationstheorie die objektivistische Grundhaltung ihre »sozusagen klassische Form« und »Vollendung« gefunden habe (596). Eine »Theorie von einer objektiv gegebenen und in ihrem schließlichen Ziel im voraus feststehenden ökonomischen Entwicklungstendenz« (i.O.hervorg.) ist wissenschaftlich fragwürdig, da sie »unvermeidlich auf eine unzureichende Induktion gegründet ist« (597). Korschbegreift Theorien dieser Art, die eher »mit bildlichen Vorstellungen«arbeiten, als »Mythos« im Sinne Georges Sorels(ebd.) und subsumiert darunter auch »die vonMarxin einer stark idealistisch-philosophisch gefärbten ›dialektischen‹ Sprechweise aufgezeigte Tendenz des Kapitalismus zu der durch den Aufstand der Arbeiterklasse herbeigeführten K« (597). Wenn Korschdies nicht mehr als »wissenschaftliche Voraussage gelten« lässt (597), so doch nicht um, wie Sorel, eine solche überhaupt für unmöglich zu erklären. Vielmehr gelte es, »durch eine immer genauere und gründlichere empirische Erforschung der gegenwärtigen kapitalistischenProduktionsweise und ihrer erkennbar bevorstehenden Entwicklungstendenzenauch gewisse[...] Zukunftsaussagen«machen zukönnen« (597f). Nur eine solche Haltung sei geeignet, »jenen vollen Ernst des selbstverantwortlichen Handelns der für ihre eigenen Ziele kämpfenden proletarischen Klasse hervorzubringen« (597).

Wenn hingegen, darauf verweist Antonio Gramsci (gegen Plechanow und Bucharin), die »Handlungsperspektiven und –programme« aus einer auf »ein mechanisches Formelwerk«reduzierten »Weltauffassung« konstruiertwerden, dieglauben macht,»die ganze Geschichte in der Tasche zu haben«, kann dies selbst zu »wahren K.n« führen, »deren ›knallharte› Schäden niemals wieder gutgemacht werden können« (Gef, H. 11, §25, 1423f). Wo es darum geht, »die großen Massen aus ihrer Passivität hervortreten zu lassen«, ist der Rekurs auf ein »schicksalhaft wirkendes Wesensgesetz« (1424) schädlich. Methodologisch gefordert ist vielmehr die bei Marx zu studierende ständige Vermittlung von »›Philologie‹« – »alsMethode [...] zur Feststellung der Einzeltatsachen« – und »Philosophie« – »verstandenals allgemeineMethodologie der Geschichte« (1423). Dann kann es auch von »praktischer Nützlichkeit« sein, »dass man ›Tendenzgesetze‹ ausmacht« (ebd.) – aber eben keine ›eherne Logik‹. Hinsichtlich Marx liefert Gramsci im übrigen eine bedeutsame historische Situierung, verbunden mit einer Forschungsaufgabe: Vor dem Hintergrund »der ›Religion des Fortschritts‹ und dem Optimismus des 19. Jh.«, der wie »Opium« gewirkt habe, sei »zu untersuchen, ob nicht die Reaktion von Marx legitim und von großer Tragweite gewesen ist, der mit dem Tendenzgesetz vom Fall der Profitrateund mit dem sogenannten Katastrophismus viel Wasser ins Feuer gegossen hat; es ist auch zu prüfen, in welchem Ausmaß die ›Opiumsucht‹ eine genauere Analyse der Aussagen von Marx verhindert hat« (H.28, §11, 2231).

 

5.

Walter Benjaminsberühmter »Engelder Geschichte« sieht in der »Kette« historischer Begebenheiten »eine einzige K, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft« (1940; GS I, 697). Benjamin fordert entsprechend, den Fortschrittsbegriff »in der Idee der K zu fundieren« (V, 592). Aber wie jener neu gefasst werden muss, so auch diese (vgl. V, 575). Beide Male geht es darum, »sich gegen die bürgeliche Denkgewohnheit scharf abzugrenzen« (574). Denn im Ordnungsdenken der Herrschenden bilden »Fortschrittsglaube« (I, 698) und Beschwörung der K eine unheimlich-heimliche Allianz. Benjamins Ziel ist es deshalb, beide Diskurse zu destruieren, um den Blick freizubekommen auf die realen Destruktionen als dem negativen Kriterium jedes tatsächlichen Fortschritts.

Benjamin nimmt folgende Umkodierungenvor: Aus ›So kann es nicht weitergehen, sonst droht eine K‹, wird: »Dass es ›so weiter‹ geht, ist die K« (V, 592). Aus ›Es droht eine K‹ – »Sie ist nicht das jeweilsBevorstehende sondern das jeweils Gegebene« (ebd.), also: »Definition der Gegenwart als K« (I, 1243). Und der Prozessreihe der herrschenden Ideologie ›Stabilität-Destabilisierung-Ausnahmezustand-Wiederherstellung der Ordnung‹ setzt Benjamin vom Standpunkt der Unterdrückten entgegen: »Der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, [ist] die Regel.« (I, 697) In dieser Regularität gibt es keinen Augenblick, »der seine revolutionäre Chance nicht mit sichführte« (I, 1231): Die K ist, diese Chance »verpasst« zu haben (V, 593). Das Ziel ist die Herbeiführung des »wirklichen Ausnahmezustands« (I, 697), und von hierher bedarf es eines neuen Fortschrittsbegriffs, nämlich in der Bedeutung: »die erste revolutionäre Maßnahme« (V, 593).

Das »so weiter« zitiert eine Redensart, zugleich Haltung und Verhaltensweise, nämlich die nach der ›K‹ des Ersten Weltkriegs in der Weimarer Krise modisch gewordene Beschwörung der»bevorstehenden K – indem gesagt wird, dass es ja ›nicht mehr so weitergehen‹ könne« (1924, IV, 94). Gerade diese Redeweise gehört nun Benjamin zufolge selbst zum »eingewöhnten Vollzug des Untergangs«, den aufzuhalten deshalb nicht in den Sinn kommt, weil jene, dieso sprechen, entgegen der geschichtlichen Erfahrung »den Verfall einer Gesellschaft oder Nation für einen automatisch sich restaurierenden Ausnahmezustand halten« (IV, 926). Im selben Moment, in dem die K, der Verfall, der Untergang zur Sprache kommen, ist ihr Sinngehalt bereits wieder aus dem Sinn.

Fixiert auf das Stabilitätsideal der Vorkriegszeit, verhindert der Katastrophismus die Wahrnehmung der»höchst bemerkenswertenStabilitäten ganz neuer Art« (94), dass nämlich gerade »die Erscheinungen des Verfalls [...] das schlechthin Stabile« sind. Mit anderen Worten: Der Katastrophismus ist der selbstverkennende Ausdruck der Tatsache, dass der Kapitalismus eine strukturelle K ist.

Den Grenzwert für dessen krisenhafte Reproduktion bildet die Apokalypse. Es wird, so prognostiziertBenjamin1924, »die Erwartung, dass es nicht mehr so weitergehen könne, eines Tages sich darüberbelehrt finden, dass es für das Leiden des einzelnen wie der Gemeinschaft nur eine Grenze, über die hinaus es nicht mehr weitergeht, gibt: die Vernichtung«(95). Diese sei in jedem Moment potenziell, da sie der Dialektik von Produktivkraftentwicklung und kapitalistischen Produktionsverhältnissen innewohne.Solange die»Bewältigung der gesellschaftlichen Elementarkräfte« (VII, 360, Fn. 4) nicht geleistet ist und »die Verfassung der Menschheit sich den neuen Produktivkräften« noch nicht »angepasst« hat (359), solangesind »Wirtschaftskrisenund Kriege«die Regel (I, 444; vgl. IV, 146).

Wie immer die Konjunkturen des Klassenkampfs verlaufen mögen,Benjaminist sich 1924 noch gewiss, dass die Bourgeoisie »zum Untergang durch die inneren Widersprüche verurteilt« ist. »Die Frage istnur, ob sie an sich selber oder durch das Proletariat zugrunde geht.« (IV, 122) Die später, zwischen 1937 und 1940 notierte »Erfahrung unserer Generation: dass der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird« (V, 819), verschärft diese Frage noch, da von ihrer Beantwortung das Schicksal der Menschheit abhängt. Die Frage ist, wie TheodorAdornoim Anschluss an Benjamin formulieren wird, »ob die Gesellschaft schließlich sich selbst bestimmen oder die tellurische K herbeiführen wird« (GS 10.1, 122), ob »die Vermeidung der K durch eine vernünftige Einrichtung der Gesamtgesellschaft als Menschheit«(10.2, 618) gelingen könnte?

 

6.

»Wir brauchen keinen Hurrikan / Wir brauchen keinen Taifun / Was der an Schrecken tuen kann / Das können wir selber tun«. Bert Brecht und Kurt Weills Mahagonny-Oper (1929, Nr. 11; GA 2, 357) zeigt den Niedergang einer Gesellschaft, die, eben noch dem »furchtbaren Ereignis«, dem »grausamen Geschick« (Nr. 10; 355) eines Taifuns auf wundersame Weise entkommen, sich selbst zugrunde richtet, weil in ihr der »Mangel an Geld« das größte Verbrechen darstellt. Das Stück zeigt zugleich die Absurdität, Hoffnung auf die K zu gründen, und offenbart kritisch, dass die katastrophisch gedachte Natur einephobische Projektionder herrschendenkatastrophischen Sozialnatur ist, die nicht unmittelbar einbekannt werden darf (vgl. Adorno 1930, GS 17, 119f).

Im vorherrschenden, theologischen Verständnis als unverfügbarem Schicksal ist »die K [...] nicht kritisierbar« (Kleines Organon, GA 23, 78). Während die modernen Naturwissenschaften längst schon die »›Naturgewalten‹ (wie die großen Seuchen, die meteorologischen Schrecken, die Nacht usw.) als zwar naturgegeben, aber keineswegs natürlich« behandeln (GA 30, 356), stehen die Menschen »ihren eigenen Unternehmungen«immer nochwie »denunberechenbaren Naturkatastrophen der alten Zeiten«gegenüber (GA 23, 72). Brechtsieht hier eine bemerkenswerte Art negativer Dialektik am Werk: »Die bürgerliche Klasse, die der Wissenschaft den Aufschwung verdankt, den sie in Herrschaft verwandelte, indem sie sich zur alleinigen Nutznießerin machte, weiß gut, dass es das Ende ihrer Herrschaft bedeuten würde, richtete sich der wissenschaftliche Blick auf ihre Unternehmungen.« Demgegenüber gelte es einen wissenschaftlichen Standpunkt zu erkämpfen, von dem aus »die großen K.n [...] als Unternehmungen der Herrschenden gesichtet« (73) werden.

Das Genre des Kriminalromans liefert hierzu eine populare Propädeutik, indem es – im Unterschied etwa zum K.n-Film, der seine Zuschauer bannt (Susan Sontag 1965) – dazu anhält, Fragen zu stellen und das Rätsel zu lösen. »Aus K.n haben wir die Art und Weise, wie unser gesellschaftliches Zusammensein funktioniert, zu erschließen. Zu den Krisen, Depressionen, Revolutionen und Kriegen müssen wir, denkend, die ›inside story‹ erschließen.« (1940; GA 22, 509) Dabei macht sich der Krimi zunutze, dass wir »unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form« machen. »Wir fühlen schon beim Lesen der Zeitungen (aber auch der Rechnungen, Entlassungsbriefe, Gestellungsbefehle usw.), dass irgendwer irgendwas gemacht haben muss, damit die offenbare K eintrat. Was also hat wer gemacht? Hinter den Ereignissen, die uns gemeldet werden, vermuten wir andere Geschehnisse, die uns nicht gemeldet werden. Es sind dies die eigentlichen Geschehnisse. Nur wenn wir sie wüssten, verstünden wir.« (Ebd.)

Marge Piercy zeigt in Fly away home (1984) exemplarisch die K weiblichen Alltags gerade da, wo er harmonisch geglückt scheint. Eine halbwegs erfolgreiche Frau (sie zeigt im Fernsehen, wie man in 20 Minuten ein hervorragendes Essen zaubern kann, wenn der Ehemann unvorhergesehen Gäste ins Haus bringt) erhält von ihrem Gatten zu Weihnachten gleich zwei neue Morgenmäntel und den Scheidungsantrag. Was über sie als absolute K hereinbricht, verlangt, dass sie sich in die Welt begibt und nach Gründen sucht. Sie, die sich nie für die Taten ihres Mannes interessiert hatte, entdeckt ihn inmitten gewöhnlicher Verbrechen wie Slumclearing, Erpressung, fahrlässigen Totschlags. Was als K erschien, war das Ende der K, die das Gewöhnliche in ihrem Leben war.

 

7.

Carl Schmitts Lehre von der Souveränität (1922) funktionalisiert die K für die Diktatur. Die drohende K legitimiert den katastrophischen Eingriff in die vorgängige K, nicht als soziale Revolution, sondern Außerkraftsetzung der Legalität, und dies wird – Ereignis und Ergebnis in einem – als »Wunder« artikuliert, dem theologischen Komplementärbegriff zur K also. In seiner Auseinandersetzung mit Schmitt zeigt Benjamin die ›geschichtslogischen‹ Koordinaten des diktatorialen Ausnahmezustands. Dieser bildet sich im Kraftfeld einer »theologischen Hyperbel«, deren eine Kurve »das Ideal einer völligen Stabilisierung« und deren andere »die Idee der K« bildet (Trauerspielbuch, 1925, GS I, 246f). Gerade dadurch, dass sie sich ins Unendliche verflüchtigen, werden Stabilität und K zur immerwährenden Legitimation des diktatorialen Ausnahmezustands. Allein dieser ist eigentliche Gegenwart – verstanden als ewig neue Restauration vergangener und immer weiter vergehender Stabilität und ewig neue Abwendung der je bevorstehenden, immer drohender werdenden K.

Dies ist das Koordinatensystem des Herrischen, das Benjamin vom Standpunkt der Beherrschten annihilieren wollte. Soll bei Schmitt die infolge der Absenz des Souveräns instabile Herrschaftsordnung durch den »Ausnahmezustand« wieder hergestellt werden, so weiß Benjamin, dass gerade die stabile Ordnung der ›Souveräne‹ für die ›Unteren‹ immer »stabilisiertes Elend« (GS IV, 926) war. Als ob er das Unermessliche der Naziverbrechen vorausahnte, kommt Benjamin zu einem »Begriff der Geschichte«, der eingedenk der Tradition der Unterdrückten mit dem Schlimmsten rechnet, statt es beständig zu beschwören und dabei dafür zu sorgen, dass das Schlimme erst eigentlich weitergeht.

Ebendies, wie die »Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden K« faschistisch funktionalisiert wurde, analysiert Theodor W. Adorno (1943, GS 9.1, 63). Ständig wird versichert, »dass die Lage verzweifelt ist und die Krise einen Punkt erreicht hat, an dem sofort etwas geschehen muss« (74). Die so »terrorisierten Leute sind zu klarem Denken nicht mehr fähig«, »anfällig dafür [...], einem Führer zu folgen, der einem das Denken und Handeln abzunehmen verspricht«, und verleitet »zu blinden, panikartigen Reaktionen« (ebd.). Die Beschwörung der K soll »drastische Maßnahmen« legitimieren: »Die Antwort auf die ›drohende Gefahr des Kommunismus‹ ist die Auslöschung von Kommunisten, Radikalen und ›den bösen Mächten‹ – das Pogrom« (76f).

Um sein Ziel zu erreichen – nämlich zu verhindern, dass aus den von ihm angesprochenen Unzufriedenen und Mittellosen »radikale Revolutionäre« werden – »stiehlt der faschistische Agitator gewissermaßen den Begriff der Revolution«. Die »Vorstellung von der K, vom schicksalhaften Moment«, wird bei ihm »zum Ersatz für eine wirkliche Veränderung«. Die so Angerufenen »werden ihrer Spontaneität beraubt und zu bloßen Zuschauern jener bedeutenden historischen Ereignisse, über die ohne sie entschieden wird, während ihre Kräfte aufgesaugt werden durch die Zugehörigkeit zur Organisation und die Verehrung ihres Führers« (76).

 

8.

1946 erscheint Friedrich Meineckes Die deutsche K. Der Titel macht Karriere, verdeckt aber, dass der Autor »ausdrücklich nach den strukturellen Merkmalen, die zum Nazismus führten, geforscht hat« (Lde 1993, 546, Fn.); dies allerdings in einer elitären, wirtschaftsliberal-christlichen Perspektive, offensiv anti-kommunistisch und unterschwellig anti-semitisch, so dass das Buch zugleich als »Symbol jener deutschen K, die es zu analysieren beanspruchte« (Wolf Lepenies, zit.n. ebd.), gelten kann. Meineckes Ursachenerklärung nennt den »preußisch-deutschen Militarismus« (1946, 6) und die »antisemitische Bewegung vom Beginn der [18]80er Jahre an« (29), verschweigt auch nicht den konstitutiven Anteil der »imperialistischen Ziele des nationalistischen Bürgertums« (15). Allerdings habe der »Hass und Zorn der sich ausgebeutet Fühlenden [...] den Sinn für die überlieferte geschichtliche Autorität« untergraben. So entstand »ein revolutionärer Geist überhaupt, dessen Erbschaft später der Nationalsozialismus antreten konnte« (31). Zur »allmählichen Entwertung und Diskreditierung der liberalen Gedankenwelt« trugen aber auch »die Juden« bei, mit ihrer Neigung, »eine ihnen einmal lächelnde Gunst und Konjunktur unbedacht zu genießen« (29). Neben ihrer »negativen und zersetzenden Wirkung« haben sie immerhin auch »viel Positives für den Geist und das Wirtschaftsleben Deutschlands geleistet«, was jene »vergessen haben«, welche die »Schäden des jüdischen Wesens« bekämpften (ebd.).

Solches Reden bezeugt die Komplizenschaft mit den Nazis, obwohl Meinecke »von vornherein die Machtergreifung Hitlers als den Beginn eines allergrößten Unglücks für Deutschland angesehen« (1946, 7) hat. Die von ihm diskreditierte Linke hatte es vielfach ausgesprochen: »Der Krieg ist der einzige Ausweg der Nazis, das deutsche Unglück treibt zu ihm hin, und die Nazis sind das deutsche Unglück«, heißt es in Ernst Bos Vom Hasard zur K betiteltem, 1937 im Exil »An die deutschen Messegäste in Prag« gerichteten Mahnruf. »Nach uns die Sintflut, das war die Devise früherer Herrengeschlechter; die Devise von Gangstern, die keinen Ausweg mehr sehen, lautet: Mit uns die Sintflut; sie reißen das ganze Volk in ihren Tod.« (GA 11, 216)

Es ist ein Unterschied ums Ganze des Standpunkts von Opfer oder Täter, vor der Kriegs-K zu warnen oder, wie Meinecke, nach der Niederlage der Kriegstreiber von einer »eingetretenen End-K« (1946, 7) zu sprechen, eingedenk des Holokaust zumal. »Wo der im Namen des Deutschen Reiches vollzogene Massenmord auf den falschen Namen ›K‹ hört«, verbreitet sich, statt Aufklärung der Ursachen, »Nebel«, kritisiert Peter Szondi an der 1956 gehaltenen Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestags, Eugen Gerstenmaier, im Gedenken an das gescheiterte Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Gerstenmaier, der 1944 als Mitglied der Bekennenden Kirche zu 7 Jahren Haft verurteilt worden war, spricht in einem Mentalitätsklima, in dem der ›verlorene Krieg‹ beklagt, die Wehrmacht vom Nazismus und seinen Verbrechen freigesprochen und die Attentäter als ›Verräter‹ verdammt werden. Es sei nicht nur um die »Abwendung einer letzten, äußersten K« gegangen, sondern darum, »von wem unser Volk bestimmt sein sollte«: »von Gott oder dem Dämon«. Den »Besten der Nation« ging es um die »Zurückholung der Gemeinschaft des Volkes, um die Zurückholung des deutschen Staates unter Gottes Gebot und Ordnung«.

Die »K« wird beschworen, um sie sogleich ad acta zu legen. Dasselbe geschieht mit der »Schuld, die auf uns liegt«; ihrem Bekenntnis folgt rasch der ›Stolz‹ auf das, »was groß ist in unserer nationalen Geschichte«, das »große Erbe« Friedrich des Großen und Bismarcks, das der »Dämon« Hitler zerstört hat. Zu diesem geschichtlich rücksichtlosen »Weiterschreiten« verhilft Religion, die Rückbindung an die Transzendenz und Unterstellung ihrer »Gnade«. Solchem Reden gilt Adornos und Horkheimers Kritik: »Soweit heute auf den finstersten Aspekt des Nationalsozialismus, den mörderischen Rassenwahn, in Deutschland reflektiert wird, stellt er zumal dem traditionalistischen Kulturglauben als eine von außen bereitete K sich dar; als wäre Hitler wie ein Dschingis Khan in das Weimarer Deutschland eingebrochen und hätte ein Fremdes, gänzlich Unvorhersehbares verübt. Noch die entsetzte Rede von dämonischen Kräften dient insgeheim der Apologie: was irrationalen Ursprungs sein soll, wird der rationalen Durchdringung entzogen und zu einem schlechterdings Hinzunehmenden magisiert.« (1959; Adorno, GS 20.2, 651)

 

9.

Nach dem Holokaust und angesichts der Atombombe kann man »die Hypothese eines kolossalen Abortus der menschlichen Geschichte, einer K in planetarischem Maßstab nicht [mehr] ausschließen. [...] Weder der totale Fehlschlag der Menschheitsgeschichte noch die nukleare Vernichtung des Planeten lassen sich aus der Liste der Möglichkeiten streichen«, konstatiert Henri Lefebvre (1965/1975, 345f), wobei die »Bedrohung durch eine atomare K, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte«, gerade jene Kräfte beschützt, »die diese Gefahr verewigen«, wie Herbert Marcuse notiert. Auch würden die »Anstrengungen, eine solche K zu verhindern, [...] die Suche nach ihren etwaigen Ursachen in der gegenwärtigen Industriegesellschaft [überschatten]«.

Susan Sontag spricht von dem »Trauma«, »dass der Mensch von nun an bis zum Ende der menschlichen Geschichte nicht nur unter der Drohung des persönlichen Todes leben würde, [...] sondern zugleich unter der seelisch fast unerträglichen Drohung einer kollektiven Einäscherung und Auslöschung, der er jederzeit und ohne jede Vorwarnung zum Opfer fallen könnte« (1965/1989, 172). Dem einen Extrem der »unvorstellbaren Schrecken« korrespondiert das andere, die »unendliche Banalität« (173). Beide werden im Genre des K.n-Films »ansichtig« und zugleich »neutralisiert« (174). »Diese Filme spiegeln die weltweiten ̃ngste wider und mildern sie gleichzeitig. Sie impfen dem Betrachter eine merkwürdige Gleichgültigkeit [...] ein«, indem sie »Fremdheit mit einer wohlabgewogenen Dosis des allzu Vertrauten« mischen (ebd.). – Der entsprechende Subjekt-Effekt war schon in Brechts Messingkauf benannt, wo es vom »Spießbürger« heißt: »in jeder K fühlt er sich ganz heimisch« (GA 22.2, 734).

 

10.

Im Kontext des Staatssozialismus werden Benjamins Formeln verkehrt: ›Dass es nicht weitergeht, ist die K‹. Kommunismus, die gestaute Zukunft, ohne Aussicht auf Gegenwart. So wird bei Heiner Müller der »Engel der Geschichte« beim Versuch, selber zu fliegen statt vom Sturm der Fortschritts-K sich treiben zu lassen, zum versteinerten Glücklosen Engel (1958). »Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. [...] wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem.« (Werke 1, 53) – Die Hoffnung auf eine Revolutionierung des diktatorischen in einen demokratischen Sozialismus, die der 20. Parteitag der KPdSU (1956) aufkommen ließ, wird nach dem Ungarn-Aufstand im Herbst des selben Jahres bereits wieder zunichte. Nichts mehr vom »Kampf gegen alles Anmaßen von hochdroben«, den »Personenkult«, die Monopolstellung der SU und den »Dogmatismus« (Bloch, GA 11, 359, 360, 362, 365).

Was nun ›weiterging‹, war das Wettrüsten, immer neu in einer atomaren »Patt-Situation« endend. Christa Wolf beschreibt die »angesichts und mit Hilfe der Angst vor der totalen K« erzeugten lähmenden Effekte, nämlich – »hüben und drüben« – die »Bagatellisierung« der gesellschaftlichen »Widersprüche«, und sie notiert die unerträgliche Einsicht, dass man »anscheinend (oder scheinbar) den Status quo wünschen; dass man seine Erhaltung befördern muss, da seine Verletzung Krieg (was heißt ›Krieg‹; Vernichtung) bedeuten würde oder könnte« (Arbeitstagebuch, 30.12.1980, 122). »Es gibt keinen Spielraum für Veränderung« (123), notiert sie, und schreibt gleichwohl oder gerade ihre Kassandra. – Mit vorausschauendem Rückblick auf den Geschichtsbruch von 1989/90 wird Volker Braun jene ermahnen, die statt die historisch-materialistischen Ursachen zu analysieren im ›Tod‹ des Staatssozialismus eine K sehen werden: »DIE KATASTROPHE WAR VORHER, im Leben« (Das Nachleben, 1988/1996).

 

11.

Das »postmoderne Bewusstsein« steht unter dem Eindruck der »Multimediashow des Katastrophischen« (275); es findet, so Klaus Scherpes Diagnose, eine »Verschiebung in der Grammatik des Weltuntergangs« (1986, 271) statt: »befreit vom Erwartungsdruck des die Geschichte verändernden oder abschließenden Ereignisses« (291), betreibt die Postmoderne im »Spiel mit der Apokalypse« die »Entdramatisierung des Untergangs« (275). Ihrem »ästhetisches Bewusstsein der ›Distanz‹ und der ›Indifferenz‹« fällt »das Denken in Negationen, Antizipationen und Kausalzusammenhängen zum Opfer« (296). Gerade das aber wäre nötig angesichts der »atomaren Schrecken«, der »Umweltkatastrophen« und der »katastrophischen Entwicklung der Gentechnologie«, wobei Scherpe, auf Benjamin und Günter Anders anspielend, einschärft: »Die Herstellbarkeit der K ist die K« (270).

Aber die Apokalypse erscheint nur als gespenstische »zweite Realität«, wie Hans-Magnus Enzensberger sagt, als »K im Kopf«, »allgegenwärtig, aber nicht ›wirklich‹«, entstammend aus der »unaufhörlichen Produktion unserer Phantasie« (1978, 225). Genau besehen ist der »Untergang« jedoch national, regional und »von Klasse zu Klasse« verschieden: »Während er die einen ereilt, betrachten die andern ihn auf dem Fernsehschirm. Es werden Bunker gebaut, Gettos eingemauert, Festungen errichtet, Leibwächter engagiert, im großen wie im kleinen. Dem Landhaus mit Alarmanlagen und elektrischer Umzäunung entsprechen, im internationalen Maßstab, ganze Länder, die sich einigeln, während andere vor die Hunde gehen.« (228)

Jean Baudrillard erklärt die »wachsende Faszination von K.n, Unfällen und Attentaten« als Teil und Effekt einer »Vernunft«, die »von der Hoffnung auf eine universelle Revanche gegen ihre eigenen Normen und Privilegien umstellt ist« (1976/1991, 255); einer Vernunft, die »souverän sein will und sogar nichts mehr denken kann, was ihr entgeht« (254). Von deren Standpunkt aus gelten Unfälle oder K.n als »unerträgliche Unvernunft«, als »absurder und bösartiger Widerstand einer Materie oder Natur«. Eine Natur-K wird so nicht nur durch die entstehende »wirkliche Unordnung« zur »Gefahr für die etablierte Ordnung«, sondern auch dadurch, dass »sie jeder souveränen und auch politischen ›Rationalität‹« einen »Schlag« versetzt. Die derart »rationalistische Kultur« sieht Baudrillard von einer »kollektiven Paranoia« erfasst, der schon das Geringste, was ihre Ordnung stört, als »Attentat« erscheint. »Das Anwachsen von Sabotage, Terrorismus und Banditentum ist weniger wichtig als die Tatsache, dass alles, was vorkommt, in diesem Sinne interpretiert werden muss.« (254) Das nimmt das Mentalitätsklima nach den Anschlägen vom 11.9.2001 vorweg.

 

12.

Angesichts der »K.n« der großen Industrie, hatte Marx die Überwindung ihrer »kapitalistische Form« zu einer »Frage von Leben oder Tod« erklärt (23/512). So würde er Anfang des 21. Jh. in einem high-techkapitalistischen, sozialstaatlich verfassten Land wie Deutschland mit dem durchschnittlichen Wohlstand, den seine Bewohner genießen, nicht mehr sprechen. Aber er würde mit Schrecken zur Kenntnis nehmen, dass viele Bewohner dieses reichen Landes den »Selbstmord«, den das Kapital nicht an sich begehen kann, ihm abnehmen (»alle drei Minuten ein Suizidversuch«; Süddt. Zeitung, 1.9.2006, 12), und er würde, wie seinerzeit 1846, »die Ursache dieser K« studieren (2001, 64).

 


Bibliographie:
Th.W.Adorno, »Mahagonny« (1930), GS 17, 114-22
É.Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, a.d. Frz. v. Th.Laugstien, Hamburg 2006
J.Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod (1976), a.d. Frz. v. G.Bergfleth, G.Ricke u. R.Voullié, München 1991
ders., Die fatalen Strategien, München 1991
E.Bernstein, »Probleme des Sozialismus« (1896-98), in: ders., Zur Geschichte und Theorie des Socialismus. Gesammelte Abhandlungen, Berlin-Bern 1901, 167-286
ders., Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1899), Berlin/W 1991
E.Bloch, »Vom Hasard zur Katastrophe« (1937), GA 11, 213-18; ders., »Über die Bedeutung des XX. Parteitags« (1956), GA 11, 357-65
H.M.Enzensberger, »Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang« (1978), in: ders., Politische Brosamen, Frankfurt/M 1985, 225-36
E.Gerstenmaier, Nacht über Deutschland. Gedenkrede am 20. Juli 1956..., Berlin 2004
K.Kautsky, Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik, Stuttgart 1899
K.Korsch, »Über einige grundsätzliche Voraussetzungen für eine materialistische Diskussion der Krisentheorie« (1933), GA 5, 591-99
H.Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965), a.d. Frz. v. B.Kroeber, Frankfurt/M 1975
A.Lüdke, »›Comming to Terms with the Past‹: Illusions of Remembering, Ways of Forgetting Nazism in West Germany«, in: Journal of Modern History, 65. Jg., 1993, Sept., 542-72
H.Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964), a.d. Amerik. v. A.Schmidt, Schriften 7
K.Marx, Vom Selbstmord, hgg.v. E.A.Plaut u. K.Anderson, Köln 2001
F.Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946
H.Müller, Werke 1. Die Gedichte, hgg. v. F.Hörnik, Frankfurt/M 1998
K.R.Scherpe, »Dramatisierung und Entdramatisierung des Untergangs – zum ästhetischen Bewusstsein von Moderne und Postmoderne«, in: A.Huyssen, K.R.Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, 270-301
C.Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 7.A., Berlin/W 1996
A.Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, München 1998
S.Sontag, »Die Katastrophenphantasie« (1965), in: dies., Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays zur modernen Kunst und Kultur 453, Leipzig-Weimar 1989, 156-74
Th.Weber, »Glücklose Engel. Über ein Motiv bei Heiner Müller und Walter Benjamin«, in: Argument 198, 35. Jg., 1993, H. 2, 241-53
ders., »Destruktive Dialektik. Zum Spektrum von Benjamins ›Katastrophe‹, in: Argument 230, 41. Jg., 1999, H. 2/3, 228-34
Ch.Wolf, »Ein Arbeitstagebuch über den Stoff, aus dem das Leben und die Träume sind«, in: dies., Kassandra. Vier Vorlesungen. Eine Erzählung, Berlin/ DDR-Weimar 1983, 109-60.

 


➫ Anarchie der Produktion, Auschwitz, Destruktivkräfte, Eingedenken, Erinnerung, Erlösung, Faschismus, Geschichte, Glück, Hegemonie, historischer Block, Holokaust, Imperialismus, Kapitalentwertung/-vernichtung, Kapitalismus, Kapitalismusentstehung, Katastrophismus, Katharsis, Klassenkampf, Klimapolitik, kollektive Erinnerung, Krise, Messianismus, Ökonomismus, Revolution, Shoa, Sozialismus oder Barbarei, Suizid, tendenzieller Fall der Profitrate, ursprüngliche Akkumulation, Verelendung, Zufall, Zusammenbruchstheorie