Neben Kategorien wie »Entfremdung« oder »Praxis«, denen MARX spezifische Bedeutung gab, und neu eingeführten Begriffen, wie »Mehrwert« oder »Absterben des Staates«, finden sich in seinem Werk Konzepte, die im manifesten Text lückenhaft bleiben oder als Begriffe ganz fehlen.

Zwar nicht expliziert, gleichwohl durch die Analysen selbst nahegelegt, tauchen Konzepte wie Nicht-Antagonismus oder Selbstverwaltung als theoretische Anknüpfungspunkte auf, deren Ausarbeitung einer lebendigen Fortführung marxschen Denkens anheimgestellt bleibt. Eines dieser abwesend-gegenwärtigen Konzepte ist hI. Begrifflich gefasst von Lucien SÈVE 1969, wurde das Konzept vielfach aufgenommen.

Die genaue Ausarbeitung der hI hat strategische Bedeutung für eine unverkürzte Interpretation des Historischen Materialismus: Einer der wichtigsten Beiträge von MARX – der sich von der psychologistischen Auffassung geschichtsloser Individuen ebenso abgrenzt wie von der soziologistischen Verdinglichung gesellschaftlicher Tatsachen unter Abstraktion von Menschen – besteht darin, eine Forschungsperspektive zu eröffnen, die uns die Geschichte als konstitutives Moment eines »naturgeschichtlichen Prozesses« und zugleich als Matrix der menschlichen Existenzen begreifen lässt. Dies fasst der Begriff hI und wirft damit eine Reihe von Forschungsfragen auf, deren Bearbeitung für die Erneuerung des Marxismus unter den veränderten Bedingungen des 21. Jh. notwendig ist.

1. Ein theoretisches Verdienst von MARX ist es, die traditionelle anthropologische Grundfrage »Was ist der Mensch?« mit einer radikalen Kritik ihres Schlüsselbegriffs verschoben zu haben. FEUERBACH glaubte den Idealismus zu überwinden, indem er den »konkreten Menschen« an die Stelle der HEGELschen Idee setzte. Doch bleibt der so genannte »konkrete« Mensch eine unmaterialistische Abstraktion, solange man glaubt, sein Wesen unabhängig von seiner tatsächlichen, geschichtlich-gesellschaftlichen Welt denken zu können. Das spricht MARX in ThF 6 aus: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (3/6) Diese grundlegende Aussage, die immer wieder Gegenstand sinnentstellender, das individuelle Seelenleben auf ein bloß relationales Phänomen verkürzender Deutungen wurde, leitet in Wahrheit eine wirkliche Umwälzung im Verständnis des Menschseins ein. Betrachtet man Menschen in ihrer geschichtlichen Gewordenheit, so die ThF 6, entspringt das, was die Philosophie »das menschliche Wesen«, die Alltagsrede »die menschliche Eigenart« nennt, nicht ›dem Menschen‹, d.h. einer imaginären Individuums›Grundgestalt‹, sondern hat seinen Grund außerhalb, im »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« – in Technik und Sprache, in den Institutionen, den praktischen und den symbolischen Verhältnissen etc. –, und existiert in einer vom psychischen Subjekt gänzlich verschiedenen Form: ›Der Mensch‹ ist im Grunde nichts als die menschliche Welt in ihrer geschichtlichen Konkretheit. Diese materialistische Idee der Dezentrierung oder ››Außermittigkeit‹‹, excentration (SÈVE 1986, 19, übers. »Mittelpunktsverschiebung«) des »menschlichen Wesens« bringt den über Jahrtausende währenden Prozess zu Bewusstsein, in welchem die Menschen – so der Leitgedanke von MARX und ENGELS in der DI (3/21) – mit der Produktion von Leben und Lebensmitteln eine objektive gesellschaftlich-menschliche Realität schaffen. Diese bildet den Zusammenhang, aus dem heraus sich jedes Menschenkind zum Menschen macht, sich hominisiert, im geschichtlich entwickelten Sinn des Wortes; die Aneignung eines einzigartigen Stücks der gesellschaftlichen Menschheit durch den Einzelnen fällt mit der Ausprägung einer subjektiven psychischen Form zusammen. Im Gegensatz zum Tierreich, Primaten eingeschlossen, wo sich die Erfahrungen der Gattung in der genetischen Weitergabe oder psychischen Übertragung von Verhaltensmustern sehr langsam und innerhalb enger Schranken bei den Einzeltieren niederschlagen, wobei naturhaft die Fähigkeiten des Einzeltiers und der Gattung zusammenfallen, erweitert sich das Sozialerbe der Menschheit in einem völlig anderen Rhythmus außerhalb der Individuen, in einer geschichtlich-sozialen Welt, die nicht mehr bloße Umwelt, sondern das vergegenständlichte Menschliche selbst ist. Diese Vergegenständlichung ist der Schlüsel zu einer unbegrenzten Anhäufung gesellschaftlich vermittelten Erfahrungswissens und lässt eine neue evolutionäre Bestimmung entstehen: Anstatt das austauschbare Exemplar des Gattungsmenschen zu sein, wird das Individuum eigenständiges Mitglied einer menschlichen Gattung, die über Fähigkeiten verfügt, die über die seinen weit hinausgehen; damit geht eine neuartige Existenzweise als ›Einzelne/r‹ einher, bei der sich auf Grundlage der natürlichen Individualität eine Persönlichkeit als eine spezifisch menschliche Neubildung des Psychischen herausbildet.

Daraus folgt eine ebenso bedeutsame wie in der philosophischen Reflexion und den zeitgenössischen Humanwissenschaften seltene Lehre: Jeder Satz vom Typ ›Der Mensch ist (gut/schlecht, frei/determiniert, ...)‹, ist reine Ideologie, der noch ein NIETZSCHE und HEIDEGGER Tribut zollen, wenn sie ›den Menschen‹ wesenhaft als »Willen zur Macht« oder »Hirten des Seins« bestimmen wollen. Bewusstlos bringen sie die geschichtliche Menschheit auf eine zeitlos-mythische ›Individualität‹ herab und tragen so zu der dem Term ohnehin eigenen Verwirrung bei, wie die DI sie mit bissiger Ironie vorführt. In diesem Sinne kann man das MARXsche Denken mit ALTHUSSER als einen »theoretischen Anti-Humanismus« (vgl. FM, 179) bezeichnen; ›humanistisch‹ ist demnach alles Denken, das bei der Idee ›des Menschen‹ Anleihen macht. Indes führte es vollständig in die Irre und Althusser verfiel diesem Irrtum -, wenn man verkennen würde, was dieser Antihumanismus seinerseits ist: die kritische Vorrede zu einer materialistischen Anthropologie, die ›den Menschen‹ durch die endlich aufgeklärte Dialektik von menschlichen Individuen und menschlicher Gattung ersetzt. »Die soziale Geschichte der Menschen«, schreibt MARX an ANNENKOW, »ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung.« (27/453) Der Historische Materialismus gibt uns nicht nur – wie ein verflachter Marxismus stets angenommen hat – den Schlüssel zur Untersuchung der menschlichen Gesellschaften in die Hand, sondern zugleich der Individuen. Jede Gesellschaftsformation, die ihre eigenen Grundlagen entwickelt hat, ist mit einer ›individuellen Formation‹ verknüpft; deshalb kann der Kommunismus nicht die Emanzipation der menschlichen Gattung sein, ohne die freie Entwicklung aller Individuen zu garantieren. Die MARXsche Anthropologie macht Schluss mit einer doppelten Illusion: der substanzialistischen, dass ›der Mensch‹ eine Natur hat, und der existenzialistischen, dass ›der Mensch‹ ein Wesen hat. Als gesellschaftlich entwickelte Wesen besitzen die menschlichen Individuen weder eine bloße Natur noch ein metaphysisches Wesen, sondern konkrete geschichtliche Voraussetzungen, von denen nur in der Vorstellung abstrahiert werden kann.

2. Wie lässt sich von der bestimmten Gesellschaft her fassen, auf welche Weise die Individuen in ihr psychisch präsent sind? In MARX’ Brief an ANNENKOW heißt es präzise, dass die für diese Formation konstitutiven »materiellen Verhältnisse« »nichts anderes [sind] als die notwendigen Formen, in denen ihre materielle und individuelle Tätigkeit sich realisiert« (27/453). Diese Passage war für SÈVE der Ausgangspunkt, die »hI« in Marxismus und Theorie der Persönlichkeit einzuführen. Wie das Konzept der »notwendigen Aktivitätsmatrizen« (1972, 266; 1969, 324), die eine gegebene Gesellschaftsformation den Individuen naheroder auferlegt, die die hI selbst als nicht-psychische Matritzen definiert. »Die Grundlage der Persönlichkeit ist keine Grundpersönlichkeit« (261; 319) Gleichwohl strukturieren sich von ihnen aus personale Aktivitäten und Identitäten, weshalb eine »Wissenschaft von der Biografie« (1969, 538) auf sie aufbauen kann. Das weitläufige theoretische Feld, das von der Kategorie der hI aufgespannt wird, zielt auf die Reflexion der zentralen Tatsache, dass die Produktionsverhältnisse der materiellen Güter zugleich und verschränkt mit einigen anderen die Produktionsverhältnisse der Menschen sind, in denen diese sich hervorbringen. Freilich ist die Naturtatsache der Individualität davon unabhängig, mit ihren biologischen Zwängen, etwa ein geschlechtliches Wesen zu sein oder die Altersstufen eines endlichen Lebenszyklus’ zu durchlaufen. Diese Naturbedingung erlegt uns neuro-psychische Merkmale auf, die uns allgemein zukommen bzw. jedem zueigen sind: Die psychische Individualität ist etwas ganz anderes als ein Strukturelement des gesellschaftlichen Ganzen. Und doch existiert nichts in den Individuen, auch nicht in ihrer unmittelbar biologischen Ausstattung, was nicht strukturell die besonderen Kennzeichen der Gesellschaftsformation trüge, der sie angehören.

HI werden alle bei den Individuen von einer gegebenen Gesellschaftsformation induzierten Seinsweisen genannt. Analog dem Doppelsinn des Formbegriffs – als ›geformte‹ und ›formendeForm‹– ist das Bedeutungsregister der hI ein doppeltes: Zum einen umfasst es alle Individualitäts-Gestalten, die konstitutiv zu einer gesellschaftlichen Formation gehören, in der kapitalistischen Produktionsweise also die des Kapitalisten und des Proletariers, die MARX als »Personifikationen« der kapitalistischen Ausbeutung und der Lohnarbeit gekennzeichnet hat. Jede Gesellschaftsformation produziert eine Fülle solcher Gestalten – eine Gesamtheit psychobiografischer Physiognomien wie das atomisierte Privatindividuum der bürgerlichen Gesellschaft, partikularisiert als Hausfrau oder ausschnittbezogen als »Bereicherungssucht«, welch letztere ohne die Verwandlung des gesellschaftlichen Reichtums in die abstrakte Form des Geldes nicht möglich wäre, wie Marxdeutlichgemachthat(Gr,133f;42/149).Diese Gestalten und ihre Logiken sind weder kontingente psychologische Einstellungen noch willkürliche soziale Rollen, sondern in unterschiedlichen Graden »notwendige Formen« der individuellen Tätigkeit in einer gegebenen Welt. Aber die Individualitätsgestalten sind selbst nur abgeleitet von den hI in einem grundlegenderen Sinn, wonach das Ensemble der Verhältnisse die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit konstituiert, von der aus die Individuen ihre Praxisformen vorfinden und in Ausfüllung derselben selbst soziale Gestalt annehmen. Der Proletarier ist eine Individualitäts-Gestalt, das kapitalistische System der Lohnarbeit die produktive Matrix dieser Gestalt. In diesem zweiten Sinn sind die hI Individuationsformen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen das menschliche Psychische Form erhält, haben selbst keine psychische Form: Das ist das materialistische Geheimnis der MARXschen Anthropologie. Psychisches existiert nur in den Individuen, die geschichtlich entfalteten Modalitäten dieses Psychischen haben ihre Quelle außerhalb der Individuen, in der gesellschaftlichen Welt. Daher die formative Kraft der gesellschaftlichen Verhältnisse: Die kapitalistische Lohnarbeit ist selbst nichts Psychisches, doch hat z.B. der massive Eintritt der Frauen in die Lohnarbeit ihr Selbstbewusstsein buchstäblich umgewälzt, indem für sie spürbar wurde, dass ihre Arbeitszeit genauso gut wie diejenige der Männer abstrakten gesellschaftlichen Reichtum schafft.

3. Konstituieren die grundlegenden Verhältnisse einer Produktionsweise auch in letzter Instanz die Individuationsformen, so reduzieren sich die hI im allgemeinen doch nicht darauf. Sie finden sich vielmehr in allen Bereichen des gesellschaftlichen, somit auch individuellen Lebens – z.B. die Formen Kernfamilie, Schulpflicht, Rechtsperson, prekäre Arbeit, Ruhestandsalter, gewerkschaftliche Organisation, allgemeines Wahlrecht, und viele andere, einschließlich der symbolischen Formen, in denen FREUD die frühesten Strukturierungen des Seelenlebens auszumachen vermochte, wie des Ödipuskomplexes. Diese Formen sind nicht einfach abstrakt gegeben, ohne Zeitbezug; sie werden immer in geschichtlichen, folglich biografischen Konjunkturen angeeignet, die ihre Bedeutung durchdringen. Deshalb richtet etwa die gegenwärtige Ungesichertheit der Arbeit zwar Verwüstungen in den Leben von Personen und Familien an; doch da sie sich mit einer starken Neigung der jungen Generationen zu wechselnden Tätigkeiten überlagert, ist sie nicht entsprechend bekämpft worden. Das noch kaum erforschte Feld der hI ist derart weit, dass es ohne Unterscheidungskriterien für Wesentliches nicht sinnvoll angegangen werden kann. Der materialistische Ansatz der Gesellschaftsformationen bietet zwar einige Kriterien, anhand derer gesellschaftliche Basisverhältnisse von denen, die es nicht sind, abgehoben werden können – doch inwieweit sind die Basisverhältnisse der Gesellschaftsformation auch die der biografischen Persönlichkeit? Das ist nur durch eine fundierte, streng wissenschaftliche Untersuchung der Persönlichkeit und der Biografie zu beurteilen, die es erlaubt, Lebenswelt und Lebensweise der Individuen in ihrer sozialen Welt einigermaßen triftig darzustellen. Hier liegt der Mangel, der die Erforschung der hI weitgehend noch eine Pionierarbeit sein lässt: Der Kernbestand dessen, was unterm Titel »Psychologie der Persönlichkeit« firmiert, bleibt in dieser oder jener Variante der humanistischen Illusion befangen; das neu erwachte Interesse der Historiker für ›Lebensgeschichten‹ (vgl. NIETHAMMER 1980), der Soziologen für Biografieforschung (vgl. DEPPE 1982), geht mit dem Fehlen einer überzeugenden Theorisierung der Persönlichkeit einher. Die von Lew S. WYGOTSKI und Alexej N. LEONTJEW begonnene Richtung einer historischmaterialistischen Psychologie bleibt im Wesentlichen unausgeschöpft, was das entscheidende Terrain der – in objektivem Sinn als Gang eines Lebens verstandenen – Biografie betrifft. Deshalb steckt das Konzept der hI in erster Linie ein umfangreiches Arbeitsprogramm ab. Nimmt man z.B. an, dass die Schlüsselstruktur einer Persönlichkeit ihr Zeitplan ist – nicht als einfache quantitative Aufteilung empirisch definierter Posten (Schlafzeiten, Arbeitszeiten, Freizeit etc.), sondern als zeitliche Dynamik der wesentlichen Tätigkeitsverhältnisse, wie sie etwa zwischen Tätigkeiten, die Fähigkeiten bloß abrufen und solchen, die neue ausbilden, zwischen gesellschaftlich entfremdeten und zu eigener Erfüllung vollzogenen Tätigkeiten usw. bestehen –, dann wird sofort sichtbar, wie vielgestaltig die hI wirksam sind: etwa die Familiengeschichten und ihre impliziten Botschaften an die Kinder, die schulischen Verhältnisse in ihrer prägenden Bedeutung, die Zeithorizonte, die für die Jugendlichen offen oder verstellt sind, die psychologische Funktion der Arbeit unter den gegebenen Bedingungen, die verlorene oder wiedergewonnene Glaubwürdigkeit emanzipatorischen politischen Engagements u. dgl. mehr.

4. Wie und bis zu welchem Grad ist die psychische Person durch die hI determiniert? Es ist zum Gemeinplatz geworden, dem Marxismus vorzuhalten, er unterstütze einen ›soziologischen Determinismus‹. MARX’ Konzeption – die wohlgemerkt auf einen völlig anderen Gegenstand gerichtet und lange vor einer eigenen Wissenschaft der Psychologie entstanden ist – beweist das Gegenteil. Man muss sich zunächst klarmachen, dass zwischen psychischer Person und gesellschaftlicher Welt radikal andere Verhältnisse bestehen als zwischen Tier und natürlicher Umwelt. Die gesellschaftliche Welt, d.h. das objektiv Menschliche, ist keineswegs ein einfaches Ensemble von Bedingungen, das darauf beschränkt ist, Verhaltensweisen von außen zu konditionieren; sie ist vielmehr das wirkliche Zentrum der spezifisch menschlichen Tätigkeiten – Sprache, Arbeit, Spiel, ›ziviles‹ Leben ... –, mittels derer die Individuen, deren Tätigkeiten hier ineinandergreifen (hier lernen sie z.B. sprechen), in komplex miteinander verkoppelten Dialektiken von eigensinnig-subjektiven Motivationen und gesellschaftlich-überindividuellen Logiken sich hervorbringen. Die hI sind Tätigkeitsformen, die über den Zeitplan des Individuums sowie durch all das, was es in seiner Persönlichkeit und Biografie autonom entwickelt, auf sein Psychisches einwirken, aber nichts mechanisch determinieren.

Wenn die hI auf allgemeiner Ebene ›notwendige‹– d.h. nicht gewählte – Voraussetzungen der persönlichen Tätigkeit sind, so impliziert das einen entsprechenden Notwendigkeitscharakter: Im Kapitalismus haben sich bestimmte grundlegende hI, wie die Geldoder die Klassenverhältnisse, übergreifend installiert; andere, wie die technische Arbeitsteilung oder die Anzahl der Parteien, bieten bestimmte Wahlmöglichkeiten für je eigene berufliche oder politische Entscheidungen; wieder andere, etwa im Bereich von Ästhetik und Ethik, stehen den persönlichen Präferenzen scheinbar völlig offen, werden allerdings weitläufig vom bestehenden ideologischen Feld durchzogen. Einen sehr fruchtbaren, in den Gr (42/95ff, 550f) und im Kapital (23/618, 24/84, 25/828) stellenweise weiterentwickelten Hinweis gibt die DI, wenn sie das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall im Leben der Individuen als in den Gesellschaftsformationen sich verändernd darstellt (vgl. 3/71, 76, 311, 360, 423f) – wobei der Kapitalismus die formale Freiheit der Personen sehr weit treibt und dabei die gesellschaftliche Entfremdung bis an einen nie dagewesenen Punkt vertieft. Die hI der wirklichen persönlichen Freiheit müssen wesentlich noch erkämpft werden.

Auch wenn die Persönlichkeiten und ihre Leben alles andere als mechanisch determiniert sind, ist hier eine doppelte Notwendigkeit gesetzt: die der geschichtlich-biografischen Voraussetzungen, die keiner frei wählt, obgleich gemeinsames Handeln ihre Entwicklungsbedingungen modifizieren kann, und die der somit unvermeidlichen Zwänge für die persönlichen Existenzen, selbst wenn die Art, darauf zu reagieren, mehr oder weniger autonom ist. Ohne Anerkennung dieser Notwendigkeit gibt es keine materialistische Anthropologie. Darauf weist MARX im Vorwort zur 1.A von KI hin: ››Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt (...) den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.‹‹ (23/16) Ein menschenfreundlicher Kapitalist ist psychologisch keine Unmöglichkeit; aber die Konkurrenz wird ihm kaum eine Chance lassen, einer zu bleiben, und definitiv keine, Schule zu machen. So ist, wie Frigga Haug (2001) zeigt, in die innere Logik der kapitalistishen Produktionsweise die Ausbeutung der Frauen zutiefst eingeschrieben. Dem eine besänftigende humanistische Ideologie vom ›freiheitlichen Urzustand‹ entgegen zu halten, bedeutet, jener liberalen Mythologie zu verfallen, die die Gesellschaft für die Missstände entschuldigt, mit denen sie die Individuen überzieht, um diesen die Verantwortung dafür zuzuschreiben. Man kann das Leben nicht ändern, ohne die Welt zu verändern.

5. Die hI bilden und verändern sich im Verlauf der Geschichte. Hier liegt eine der größten Neuerungen der von MARX und ENGELS entworfenen Anthropologie: Die Art und Weise, ein Individuum zu sein, hat nichts von einer historischen Konstante, selbst wenn im Laufe der Zeit bestimmte, an überdauernde Typen sozialer Formen gebundene Individualitätsgestalten wiederkehren. Wiewohl in Teilen der Sozialwissenschaften angekommen, wird diese eminent wichtige Auffassung unterschätzt und in der herrschenden Kultur sogar verdrängt.

An der Schwelle zum 21. Jh. zeichnen sich Umbrüche von anthropologischer Größenordnung ab, in denen sich grundlegend ändert, was es z.B. konkret bedeutet, eine Frau zu sein oder jung bzw. alt zu sein. Nicht nur in den entwickelten Ländern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifende Veränderungen im Verhältnis der Mehrzahl der Jugendlichen zu Familie, Schule, Liebe, Arbeit, Politik, Moral, zum Planeten vollzogen; viel früher einsetzend und ungewiss endend, hinund hergeworfen zwischen einer ebenso massiv dargebotenen wie verwehrten Fülle von Möglichkeiten, ist die Jugendphase heute direkt von der schweren Krise des Erwachsenenlebens heimgesucht, dem sie sich oft entschieden verweigert, während die Generationen der Großeltern ohne Kompass die möglichen Formen eines neuen Lebensalters für sich herausfinden müssen. Die psychischen Individualitätsformen der Zukunft sind genauso offen wie die hI der gesellschaftlichen Menschheit.

Vollständig widerlegt sieht sich die konservative Weisheit mit ihrer unermüdlich wiedergekäuten Phrase: ›Ihr ändert den Menschen nicht!‹ angesichts von Umwälzungen aller Arten – vom Schrecken der Ökonomie bis zur Explosion der Biomedizin –, die die große Frage aufwerfen: Was für eine Menschheit wollen wir sein? Zwar scheint sich ›der Mensch‹ als Exemplar der Spezies Homo sapiens sapiens im Verlauf der Geschichte keineswegs verändert zu haben, obwohl die gesellschaftliche Menschwerdung bedeutende Differenzen in die Entwicklung der Individuen einführt. Zweifellos bleibt auch die Frage offen, ob in den Topiken und Symboliken des Unbewussten Invarianzen vorliegen oder nicht, auch wenn die Entwicklung der Neurose-Formen seit FREUD erwiesen sein dürfte. Aber die biografische Persönlichkeit lässt diese Substrukturen nicht unangetastet, die sie in verschiedene Richtungen umarbeitet und so in die geschichtlichen Bewegungen hineinzieht.

Es stimmt, dass man die Menschen nicht per Dekret ändern kann: Dabei können die groben Eingriffe von oben nur unberechenbare Schäden anrichten – wie leider von den verschiedensten Regimen unter Beweis gestellt. Die individuelle Formation, oder anders ausgedrückt, das Ensemble der historischen Individualitätsgestalten und der Individuationsformen, die sie durchziehen, ist eine nicht minder vielgestaltige, komplexe und gegen Eingriffe widerständige Welt als die Gesellschaftsformation, mit der sie eine Einheit bildet. Mehr noch, sie ist in ihrer Differenz, als eigene Formation, kaum untersucht, zumeist noch nicht einmal benannt worden.

6. Die durch das Konzept der hI konkretisierte anthropologische Perspektive erweist sich als ebenso fruchtbar wir originell. Von MARX und ENGELS klar umrissen, aber sehr wenig ausgearbeitet, ist sie noch weitgehend unausgeschöpft. Ihre Ausarbeitung ist vordringlich, um eine zeitgemäß an MARX anknüpfende Kultur voranzubringen. Dies führte nicht zuletzt zu einer Wiederaufnahme der Dialektik, die die Humanwissenschaften so dringend benötigen, die sich seit Jahrzehnten vom Modell einer von den ›harten Wissenschaften‹ abgekupferten ›Wissenschaft vom Allgemeinen‹ blenden lassen und dies noch in einem Moment, wo diese Wissenschaften ihrerseits die entscheidende Bedeutung der singulären Geschichten in der Natur selbst entdecken (die von der Quantentheorie aufgedeckte Odysse des Kosmos, die Evolution der lebenden Arten, die Anthropogenese usw.) und dabei auch die kritische Aufmerksamkeit für das Real-Konkrete gewinnen, jenseits dessen jede Art von Wissen über ›den Menschen‹ allzu leicht in schlechte Abstraktionen und die herrschenden Normativitätsvorstellungen abgeleitet.

Beim Aufbau einer wirklichen Wissenschaft von der biografischen Persönlichkeit steht ein hoher Einsatz auf dem Spiel, zumal das gewöhnliche Bewusstsein in den mystifizierenden Diskursen über ›den Menschen‹ buchstäblich schwimmt: Unterm Eindruck von Genund Hirnforschung sind sie bes. von der naturalistischen Mythologie geprägt, derzufolge alles Menschlich-Gesellschaftliche biologisch determiniert ist, die psychischen nicht weniger als die historisch-kulturellen Dispositionen, die geistigen Fähigkeiten, die sexuellen Präferenzen oder die moralischen Orientierungen; hierauf stützt sich wiederum die spirituralistische Phasendrescherei über die ewigen ›Eigenarten des Menschen‹, von der Sprache bis zur Freiheit, aus denen jeder Hinweis auf die Arbeitsverhältnisse oder die geschichtlichen Zwänge gelöscht ist.

Die auf all diese Punkte gerichtete kritisch-konstruktive Denkarbeit ist zugleich ein höchst praktisches Erfordernis. Wir erleben eine regelrechte Umkehrung des jahrhundertealten Verhältnisses zwischen der Produktion der Güter, der vorherrschenden Tätigkeit in allen bisherigen Klassengesellschaften, und der Entwicklung der Menschen, einer immer deutlicher hervortretenden Vorbedingung jeder zivilisierten Zukunft. Daraus erklärt sich der sprunghafte Bedeutungsanstieg der sog. ›großen Fragen der Gesellschaft‹ – vom schulischen Leben bis zu den Partnerschaften, von der Krise des ›kämpferischen Lebens‹ bis zum Aufstieg der Kommunitarismen, von der Existenzminimumsbis zur Euthanasie-Debatte –, die in ihrer Mehrheit nichts anderes sind als die tausend Probleme der Individuation, die Analysen und neue Eingriffe verlangen. Dies lässt erkennen, dass unter der anscheinend lückenlosen Herrschaft des Kapitals der Kommunismus, d.h. eine gesellschaftliche Form, die die Produktion der Güter endlich dem Leben der Menschen als einzigem Selbstzweck der Geschichte unterordnet, nie aufgehört hat, ein geschichtliches Erfordernis zu sein. Sofern sie diesem Anliegen Ausdruck verleiht, läuft die Untersuchung der hI darauf hinaus, die kommunistische Zielvorstellung neu zu bestimmen, in der die Überwindung aller gesellschaftlichen Entfremdungen und die volle Entwicklung aller Individuen nunmehr untrennbar wären und letztere nicht mehr zurückgestellt wird, sondern ernstgenommen werden muss als die »wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt« (3/35). Der berühmte Satz aus dem Manifest ist kein Missgriff von MARX: Es geht in der Tat um die Schaffung einer Welt, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (4/482).

7. In Frankreich wurde Marxismus und Theorie der Persönlichkeit trotz seiner 5 Auflagen von der Mehrheit der experimentellen Psychologen mehr oder weniger abgetan als Spekulation eines Philosophen; von der Althusser-Schule, die damals sehr einflussreich war, wurde es, ohne Debatte, den ›humanistischen‹ Illusionen zugeschlagen. Dagegen ist seine Orientierung von Pädagogen, klinischen Psychologen, Geschichtswissenschaftlern und sogar Schriftstellern häufig begrüßt worden, wenn auch ohne präzise Berücksichtigung des Inhalts, der Dialektik von abstrakter und konkreter Tätigkeit (vgl. die detailliert wiedergegebene Seminardiskussion b. IRACI 1984/85). In der ehemaligen DDR fanden bes. in der von Gerhart NEUNER geleiteten Akademie der Pädagogischen Wissenschaften 1973 intensive Diskussionen zu den Thesen des Buchs statt (vgl. dazu SÈVE, Nachw. z. 3.A. 1973/77; NEUNER 1973, 115963; EICHHORN u.a. 1973). Auch hier traf die Auffassung von der hI zumindest in ihren Grundzügen auf Zustimmung. – Die meisten und inhaltlich bes. weiterführenden Debatten fanden in West-Berlin statt, v.a. im Umkreis der Kritischen Psychologie (vgl. HOLZKAMP 1973, 46, Fn. 10; 1979, 41; 1983, 197, Fn. 1; HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975, 304ff; 1976, 150ff) und seitens des PROJEKTS FRAUENFORMEN, das seiner gleichnamigen Reihe folgende Leitlinien voranstellte: »Wir untersuchen, wie Frauen sich in unseren Verhältnissen vergesellschaften. Die beiden Worte Frauen und Formen setzten wir zu einem Begriff zusammen, der es uns erlauben soll, verschiedene theoretische Einsichten zusammenzubauen. Er ist Anspielung an SÈVES Kategorie der Individualitätsformen und verweist damit auf die fertigen Formen, welche die einzelnen Individuen in jeder Epoche vorfinden, und in die hinein sie ihre Persönlichkeiten entfalten können und müssen.«

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