Gewöhnlich werden Intellektuelle als Menschen verstanden, die in Politik, Wissenschaft und Kultur besondere Tätigkeiten ausüben oder aber herausragende geistige Fähigkeiten besitzen. Ihre Praxis ist also schreiben, denken, forschen, Diskussionen führen, Meinungen verbreiten, Wissenschaft betreiben etc. Darin unterscheiden sie sich von anderen Menschen. In der Geschichtsschreibung werden meist weiße, gern ältere Männer als große Denker verehrt oder kritisiert, selten wird Frauen zugesprochen, Intellektuelle zu sein. Nun schreibt Gramsci, und das mag zunächst verwundern oder irritieren, alle Menschen seien Intellektuelle. Alle? Wie kann das sein? Diese Auffassung widerspricht zumindest dem Alltagsverständnis davon, was Intellektuelle sind und tun. Gramsci bringt mit seinem weiten Verständnis von Intellektuellen Aspekte ins Spiel, die oft keine Berücksichtigung finden: zunächst einmal den Umstand, dass alle Menschen, und nicht nur die mit Uni-Abschluss oder Doktortitel, sich Gedanken über sich selbst, über andere und über die Welt machen, also Welterklärungen übernehmen und selbst auch produzieren. Jeder Mensch hat eine Auffassung davon, wer er oder sie ist, wie die Gesellschaft funktioniert und was der eigene Platz darin ist. Doch Gramsci geht noch weiter. Er reduziert intellektuelle Tätigkeit nicht aufs geistige Tun, sondern schließt auch Handarbeit darin ein. Selbst in der eintönigsten Arbeit, z.B. am Fließband, entdeckt Gramsci Anteile intellektueller Fähigkeiten: z.B. ein spezifisches Wissen über Abläufe, Erfahrungen, Arbeitsorganisation, Routinen etc. Zugleich trifft Gramsci eine entscheidende Einschränkung: Obwohl alle Menschen Intellektuelle sind, hätten in einer Gesellschaft aber nicht alle die Funktion von Intellektuellen. Plastisch schreibt Gramsci, dass wer mal in die Situation gekommen sei, sich ein Ei zu braten, nicht automatisch zum Koch wird. Also muss der Intellektuellen-Begriff von Gramsci im Zusammenhang mit der Funktion betrachtet werden, die bestimmte Menschen in einer Gesellschaft innehaben. Anders als im klassischen Verständnis von intellektuellen Funktionen als (schön)geistiger Arbeit geht es Gramsci darum, wie in einer Gesellschaft bestimmte soziale, d.h. materielle Verhältnisse alltäglich hergestellt, verteidigt, durchbrochen oder hinterfragt werden. Es geht ihm nicht um die vermeintlich individuellen Fähigkeiten von Menschen, sondern vor allem um ihre Funktion innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Ein zentrales Merkmal der Arbeitsteilung in der bürgerlichen Gesellschaft ist, dass bestimmte Menschen freigestellt werden von der Produktion der Lebensmittel. Die Intellektuellen (im klassischen Sinne) erarbeiten Denkweisen, Vorstellungen, Begriffe und spezialisiertes Wissen (Wissenschaften), welche für die Organisation gesellschaftlicher Bereiche wichtig ist: in Wirtschaft, Schulsystem, Medien, Medizin... Offenbar sind Intellektuelle im Verständnis von Gramsci aber keine Elitegruppe oder ein Berufsstand. Er bringt den Intellektuellenbegriff immer dann ins Spiel, wenn es darum geht, wie sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen und Klassen formieren und zu politischen Kräften zusammenschließen. Für Intellektuelle, die sich in diesem Prozess herausbilden und organisierend wirken, benutzt er den Begriff „organisch“. Insofern wären Menschen mit außergewöhnlich viel akkumulierten Wissen noch keine Intellektuellen - eher Gelehrte - sofern sie eben nicht die Funktion als organisierende Intellektuelle ausfüllen. Somit stellt Gramsci die organisierende Arbeit von Intellektuellen stets in den Kontext gesellschaftlicher Kämpfe um Hegemonie. Denn das Ringen um Veränderungen und Umbrüche in einer bestimmten Produktions- und Lebensweise ist bei Gramsci eng verknüpft mit der Frage, wie sich z.B. andere, neue Weisen des Denkens, Fühlens und Handelns entwickeln und durch organische Intellektuelle bewusst vorangetrieben werden. Im Kampf um die Hegemonie müssen die lohnabhängigen, subalternen Klassen eigene organische Intellektuelle herausbilden und darum kämpfen, Teile der organischen Intellektuellen des Bürgertums für ihre Vorstellungen gesellschaftlicher Veränderungen zu gewinnen.
Vermittlungsintellektuelle
Unter neoliberaler Hegemonie kam es zu einer weitgehenden Fragmentierung der politischen und kulturellen Linken. Es gibt ein unverbundenes Nebeneinander von Aktivitäten. Es mangelt auch nicht an politischen Bewegungen. Vielmehr sind wir mit einer Vielzahl ineinander unübersetzbarer politischer Bewegungen und Forderungen konfrontiert. Diversität ist zu einer ausgeklügelten Machttechnik neoliberaler Hegemonie verfeinert worden. Vielfach gespalten mangelt es den Subalternen an einer gemeinsamen Sprache oder einem Verständnis gemeinsamer Interessen. Mit der globalen Sozialforumsbewegung haben wir (wieder) gelernt, dass Diversität Reichtum bedeutet. Doch genügt es nicht, die gewonnene Pluralität als neues Dogma einer postklassistischen Politik zu feiern, um falsche Vereinheitlichung zu vermeiden. Kein Teil der pluralen Linken, keine Partei, keine Gewerkschaft, keine linke Avantgarde kann mehr eine Führungsrolle beanspruchen. Zugleich aber sollte vermieden werden, dass Pluralität in Spaltung umschlägt. Daher bedarf es der Vermittlung und Verbindung. Dies verweist auf Debatten um die Entwicklung einer Mosaiklinken (vgl. Urban 2009, Candeias 2010) bzw. einer verbindenden gesellschaftlichen Partei (Porcaro 2011, Kaindl/Rilling 2011, Kipping/Riexinger 2013, Candeias/Völpel 2014). Erforderlich ist dabei auch ein neuer Typ von Intellektuellen. Die im gramscianischen Sinne kollektiven organischen Intellektuellen, die aus der Bewegung selbst erwachsen, organisierend wirken, paradigmatisch ihren Ausdruck repräsentieren, sind in einer so vielfältigen und fragmentierten Linken nicht mehr ausreichend. Die Anforderungen in einer Mosaiklinken sind z.T. andere als in einer einzelnen Bewegung oder Partei. Vielleicht bedarf es eines neuen Typs organischer Intellektueller, die wir versuchsweise Vermittlungsintellektuelle nennen. Sie vermitteln die jeweiligen politischen Orientierungen, Funktionen und Kulturen innerhalb des Mosaiks, ohne die jeweiligen Eigenheiten und Stärken, ohne Differenzen auszublenden, bis ein gemeinsames Bild entsteht. Bei organischen Kooperationen innerhalb einer Mosaiklinken ist die Vermittlungsfunktion bereits inhärent angelegt: Das Organische besteht ja gerade darin, dass wesentliche Teile der Aktivist*innen zugleich in mehreren Organisationen tätig sind, multiple Identitäten repräsentieren, die alltäglich Vermittlungsarbeit leisten. Aufgabe wäre es, ihre Fähigkeiten weiterzugeben, an ihrer Verallgemeinerung zu arbeiten. Darüber hinaus macht Gramsci deutlich (Gef. 7, 1537), dass in komplexen Gesellschaften keine individuellen Personen, sondern nur kollektive Intellektuelle diese Funktion übernehmen können, also etwa vermittelnde Instanzen, die für diese Funktion gebildet werden. Dies können ganz unterschiedliche sein, wie sie ansatzweise bei Solidarity4all in Griechenland, die Kontaktstelle soziale Bewegungen der Fraktion Die LINKE im Bundestag, dem Institut solidarische Moderne, dem Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS, oder informelleren diagonalen Vermittlungsstrukturen in den spanischen Bewegungen nach dem 15M, um nur einige Beispiele zu nennen. Solche Institutionen können als organisatorische, politische und verbindende Infrastruktur dienen. Letztlich aber geht es um die Verallgemeinerung dieser Funktion. Eine verbindende Praxis quer zu den Spaltungslinien innerhalb der gesellschaftlichen Linken zu entwickeln, sollte eine Aufgabe aller Teile der Linken sein, mindestens aber der jeweiligen Führungsgruppen und nicht nur einiger spezialisierter Personen und Institutionen. Das braucht nicht weniger als eine Revolution der Organisationskultur der Linken. Das Mosaik einer gesellschaftlichen Partei „stützt sich auf die Initiative einer Vielzahl von unterschiedlichen und divergenten Gruppen, die nicht durch Zwang zu einer Einheit gebracht werden“, sondern auf der Grundlage der Reformulierung und des Kohärent-Arbeitens von Interessen und Leidenschaften, durch die Praxis der gemeinsamen Bearbeitung ihrer Widersprüche (Demirović 1997, 88).
Literatur
Candeias, Mario 2010: Von der fragmentierten Linken zum Mosaik, in: LuXemburg 1, 2. Jg., 2010, 6-17, www.zeitschrift-luxemburg.de/wp-content/uploads/LUX1-2010-Candeias.pdf
ders., u. Eva Völpel, 2014: Plätze sichern. ReOrganisierung der Linken in der Krise, Hamburg, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Candeias-Voelpel_Plaetze-sichern.pdf
Demirović, Alex, 1997: Herrschaft und Demokratie, Münster
Gramsci, Antonio, 1991ff: Gefängnishefte, hgg. v. W.F.Haug u.a., Berlin-Hamburg
Kaindl, Christina, u. Rainer Rilling, 2011: Eine neue „gesellschaftliche Partei“? Linke Organisation und Organisierung, in: LuXemburg, H. 4, 16-27
Kipping, Katja, u. Bernd Riexinger, 2013: Verankern, verbreitern, verbinden. Projekt Parteientwicklung. Eine strategische Orientierung für DIE LINKE, unter: www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-parteientwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden
Porcaro, Mimmo, 2011: Linke Parteien in der fragmentierten Gesellschaft. Partei neuen Typs – die „verbindende Partei“, in: LuXemburg, H. 4, 28-35
Urban, Hans-Jürgen, 2009: Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Mai, www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2009/mai/die-mosaik-linke