Die AfD profitiert ganz eindeutig von der aktuellen Inflations- und Energiekrise und den sich daraus ergebenden Sozialprotesten – nicht nur in Ostdeutschland. Sah es vor einem Vierteljahr noch nach einer Stagnationsperiode für die Partei aus, so steigt sie gegenwärtig in den Umfragen stark an.


Krisen galten der AfD schon immer als Katalysator des eigenen Wachstums. Die Flucht- und Migrationskrise 2015 ff. katapultierte die Partei aus einer Niedergangsphase in alle Landtage und 2017 in den Bundestag. Mit dem Draufsatteln auf die Proteste an den Corona-Maßnahmen hoffte die AfD, eine neue Aufstiegswelle reiten zu können, was jedoch misslang. Und zunächst sah es auch zu Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine so aus, als sollte die AfD nicht oder nur wenig von dieser neuen Krise profitieren können. Das änderte sich in den Moment, als die Folgen der deutschen und europäischen Sanktionspolitik gegen Russland sich immer stärker im eigenen Land bemerkbar machten. Die Inflations- und Energiekrise führt zu massiven sozialen Einschnitten, Ängsten und Verunsicherungen, die parteipolitisch bisher vor allem der AfD zugutekommen. In aktuellen Umfragen von Mitte September bis Anfang Oktober 2022 liegt die Partei bundesweit zwischen 13 und 15 Prozent und damit 3 bis 5 Prozent über ihrem Bundestagswahlergebnis. In Sachsen (28 Prozent), Thüringen (26 Prozent) und Brandenburg (24 Prozent) liegt die AfD in Umfragen auf Platz 1 und selbst in notorisch schwachen Landesverbänden wie Niedersachsen konnte sie bei den Wahlen am 9. Oktober 2022 ein Ergebnis von knapp 11 Prozent erzielen.

Unverhoffter Wahlerfolg in Niedersachsen

Nachdem es der AfD am 8. Oktober gelang, eine bundesweite Großdemonstration mit ca. 10 000 Teilnehmenden in Berlin auf die Straße zu bringen und ohne größeren Protest von links durchs Berliner Regierungsviertel zu marschieren, gewann sie bei den am nächsten Tag folgenden Wahlen in Niedersachsen 4,7 Prozent hinzu und landete bei 10,9 Prozent der Stimmen.


Seit Jahren gehört der dortige Landesverband zu den Problemfällen der Partei, wurde durch Flügelstreitigkeiten zerrissen und befand sich noch zu Jahresbeginn in den Augen führender Kader der Partei in einem „desolaten“ Zustand. Bereits 2020 war die Landtagsfraktion zerbrochen, da drei der neun Mitglieder die Fraktion verließen und diese ihren Fraktionsstatus verlor. Nach dem Ausscheiden der AfD aus dem Landtag in Schleswig-Holstein im Frühjahr 2022 galt auch Niedersachsen lange als wackelig und die Partei musste um den Wiedereinzug bangen. Innerhalb weniger Wochen hat sich diese düstere Aussicht in einen strahlenden Wahlsieg verwandelt, der jedoch wenig bis nichts mit der konkreten Politik der AfD in Niedersachsen zu tun haben dürfte.


Gewählt wird die Partei als einzig wahrnehmbare Opposition zur Politik der Bundesregierung und als Adressat aller Ängste und Verunsicherungen, die mit dem Krieg und seinen Folgen zu tun haben. Dabei ist die Kennzeichnung als „Protestwahl“ jedoch zu kurz, denn dieser Protest hat eine klare politische Ausrichtung. In Niedersachen und darüber hinaus sammelt die AfD gegenwärtig vor allem diejenigen ein, die eine grundsätzliche und fundamentale Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik und dem politischen System vertreten, die Politik vor allem an (eng definierten) nationalen Interessen ausgerichtet sehen wollen und die mit Blick auf Energie-, Familien- und Zuwanderungspolitik traditionelle bis reaktionäre Ansichten vertreten. Es sind mehrheitlich nicht in erster Linie Menschen, die aktuell sozialen Abstieg erleben, die ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben. Zwar geben in Niedersachsen 32 Prozent der AfD-Anhänger*innen ihre soziale Situation als „schlecht“ an, 66 Prozent bewerten sie aber als „gut“. Die Mehrheit derer, die sich wirtschaftlich als schlecht gestellt ansehen, wählten SPD (29 Prozent) oder CDU (26 Prozent), erst dann folgt die AfD (21 Prozent). Es ist also weder in Niedersachsen noch sonst zuerst die eigene soziale Lage, die Menschen zur AfD treibt.


Auffällig sind die Zugewinne der Partei auf Kosten von CDU und FDP. Von beiden Parteien holte die AfD ca. 40 000 Stimmen und schafft es somit, konservative und wirtschaftsliberal orientierte Wähler*innen an sich zu binden. Barrieren zu einer völkischen Rechten, die in Ostdeutschland längst gefallen sind, könnten im Zuge der aktuellen Krise jetzt auch vermehrt im Westen fallen und der AfD weiteren Zulauf bescheren. Auch wenn es sich nach wie vor um eine volatile Wählerschaft handelt, bietet die aktuelle Krise der AfD alle Chancen, sich auch im Westen weiter zu verankern. Der sich abzeichnende Rechtsruck von CDU und FDP dürfte diese Chance nicht begrenzen, sondern eher befördern.

»Heißer Herbst« von rechts

Seit dem Sommer bereitete sich die Partei auf einen „heißen Herbst“ vor und adressiert dabei einen Teil der Bevölkerung, der auch im Fokus linker Politik steht: Abhängig Beschäftigte, die durch die Preisentwicklung in massive Schwierigkeiten gebracht werden, Gewerbetreibende, die den entstehenden Kostendruck nicht bewältigen können und Bürger*innen, die der einseitigen und auf Aufrüstung und Waffenlieferungen setzenden Politik des politischen Mainstreams nicht zustimmen. Von Seiten der AfD wird versucht, Unsicherheiten und Protest von rechts zu bedienen und ihre Themen damit zu verbinden:

  • Kritik am Euro und der EU, da beides zulasten Deutschlands gehe;
  • Kritik an der Energiewende, die Schuld an der aktuellen Preisentwicklung sei;
  • Kritik an politischen Grundsatzentscheidungen wie Aufnahme von Geflüchteten und Corona-Maßnahmen, die auf Kosten der Normalbürger*innen gingen;
  • Kritik an der Sanktionspolitik, die vor allem die deutsche Wirtschaft schwäche


Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt dabei in Ostdeutschland, wo die AfD auf dem Niveau einer Volkspartei verankert ist und wo an die erfolgreichen Mobilisierungen von Pegida und Querdenken angeknüpft werden kann.


Die Bundespartei hat einen 45-Minuten-Film zum Thema Teuerung produziert und 11 Sofortmaßnahem vorgestellt, mit der sie der Krise begegnen will: Inflation: Diese Sofortmaßnahmen müssen jetzt umgesetzt werden! – AfD-Fraktion im deutschen Bundestag Ansprache und Forderungen sind populär gehalten und darauf ausgerichtet, politisch unzufriedene Normalbürger*innen zu erreichen.

Andocken an populäre Forderungen aber keine Lösung für die soziale Krise

Der AfD kommt dabei zugute, dass sie unbefangen Forderungen vertreten kann, die klar gegen den Sanktionskurs der Bundesregierung stehen, von einem Großteil der Protestierenden vor allem in Ostdeutschland geteilt werden und die die politische Linke vor unlösbare innere Widersprüche stellen: sofortiges Ende der Sanktionspolitik, Öffnung von Nord Stream 2. Im Gegensatz zur Linken schadet der AfD das Image als „Putin-Versteherin“ nicht oder nur wenig und die Position, der Ukraine-Krieg ginge Deutschland nichts an und die Politik habe sich ausschließlich an deutschen Interessen zu orientieren, wird von vielen geteilt.


Angelehnt an Trump und an die Slogans der europäischen Rechten, mit denen diese jüngst bei den Wahlen in Schweden und Italien erfolgreich war, stellt die AfD ihre aktuelle Kampagne unter das Motto „Unser Land zuerst!“ (Unser Land zuerst! (afd.de)). Dabei werden von der Partei keinerlei nachhaltige Vorschläge zur Abfederung der Krise für die Menschen vorgelegt. Ganz im Gegenteil bewegen sich die Vorschläge der AfD in den bekannten Bahnen des Marktradikalismus: Steuersenkungen auf Energie und die Weiterführung von Atomkraft und Kohleverstromung. Abgelehnt werden dagegen alle Vorschläge, die Eingriffe in den Markt bedeuten oder gar die Profiteure der Krise zur Kasse bitten. So steht die AfD gegen Gas- und Strompreisdeckel und will keinerlei Abschöpfung der Übergewinne der großen Energiekonzerne.


Zwar gibt es nach wie vor unterschiedliche Positionen innerhalb der AfD, wie weit man sich mit einem autoritären Russland unter Putin gemein machen soll. Während völkische Rechte wie der sachsen-anhaltinische Abgeordnete Hans-Thomas Tillschneider das gegenwärtige Russland als Modell eigener Politikvorstellungen betrachten und mit Reisen in die von Russland besetzten und aktuell annektierten Gebiete diese völkerrechtswidrige Politik legitimieren, schließen andere Landtagsfraktionen Teilnehmer*innen solcher Reisen, wie den NRW-Abgeordneten Christian Blex, aus der Fraktion aus: Geplante AfD-Reise in die Ukraine: Blex aus Fraktion geworfen - taz.de


Björn Höcke trat am 3. Oktober 2022 bei einer Demonstration mit 10 000 Teilnehmer*innen in Gera auf und hielt eine 100-Prozent faschistische Rede, in der er Deutschlands Weg an der Seite Russlands sah, sich positiv auf die reaktionäre Familien-, Religions- und nationale Politik Russlands bezog und eine Abwendung Deutschlands vom „Regenbogen-Imperialismus“ des Westens und der „raumfremden Macht“ USA forderte (https://www.youtube.com/watch?v=_zwqlnUHKZU)

Protestgeschehen und rechte Vereinnahmungen 

Die seit September 2022 laufende Protestbewegung gegen die sozialen Auswirkungen der Krise soll rechts gerahmt werden, was auch in größerem Maße zu gelingen scheint. Nicht nur die extreme Rechte hat daran ein Interesse, sondern offenbar auch Teile von Politik und Medien, denn so lässt sich sozialer Protest generell leicht delegitimieren. So suggeriert und propagiert das extrem rechte Umfeld der AfD die Vorstellung einer Querfront zusammen mit der politischen Linken gegen die Regierungspolitik. In Leipzig gab es Anfang September den Versuch von rechts, eine Linke Demo zu vereinnahmen und via Social Media einen gemeinsamen Protest von rechts und links zu suggerieren. Während die extreme Rechte keinerlei Probleme damit hat, sich linken Demos anzuschließen, trägt jeder Nazi auf einer linken Demo zur Delegitimierung linken Protestes generell bei.


Dabei sind die seit September ansteigenden Proteste vor allem in Ostdeutschland nicht in allen Fällen politisch eindeutig rechts geprägt, wenn auch sehr häufig nach rechts offen. Blickt man auf die aktuellen Schwerpunkte etwa in Sachsen, dann finden sich zahlreiche Ortschaften, in denen von Pegida über die Proteste gegen die Coronamaßnahmen bis zu den aktuellen Sozialprotesten die extreme Rechte jeweils Teil oder Initiator war. Beobachter*innen vor Ort gehen im Moment davon aus, dass vor allem die Kernklientel der jeweiligen Lager auf die Straße geht und es (noch) nicht gelingt, in größerem Maße darüber hinaus zu mobilisieren. Mit ca. 100 000 Menschen war die Mobilisierung am 3. Oktober bisher die stärkste, bewegte sich aber noch weit unterhalb dessen, was in den Hochzeiten der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße ging, wo es schon mal zwischen 350 000 und 400 000 Menschen waren.


In Ostdeutschland hat sich ein Protestpotenzial herausgebildet, das themenunabhängig mobilisierbar ist, in fundamentaler Opposition zum politischen System und zu den Institutionen steht und das hauptsächlich von der extremen Rechten organisiert wird (ohne, dass es von dieser gelenkt wird). Einzelne Beobachter gehen von einer sich herausbildenden faschistischen Massenbewegung aus, vergleichbar dem Spektrum der Trump-Anhänger.


Die ohnehin nur formale Abgrenzung der AfD zu anderen Akteuren der extremen Rechten wird im Zuge der Proteste weiter aufgelöst. So treten AfD und „Freie Sachsen“ bei Protesten inzwischen häufig gemeinsam auf, obwohl es von Seiten der AfD noch einen formalen Unvereinbarkeitsbeschluss gibt.