Wenn wir gebeten werden, unsere Geschichte zu erzählen, beginnen wir üblicherweise damit, von uns selbst zu erzählen: von unseren Erlebnissen, Taten, Gefühlen. Fast immer vergessen wir, dass unser Ich-Sein eingebettet ist in kulturelle und historische Zusammenhänge.


»Was für Menschen wie mich wichtig und grundlegend ist, ist Bildung für kritisches Bewusstsein auf Intersektionalitäten zu fokussieren, sodass Menschen sich nicht auf eine Sache konzentrieren und einer Gruppe die Schuld zuschieben können, sondern in der Lage sind, ganzheitlich die Art und Weise zu betrachten, in der Intersektionalität uns alle betrifft.« Das sagte bell hooks in einem Interview 2011 und spricht mir damit aus der Seele. Ich kann nicht ausschließlich über mich selbst schreiben. Wenn ich nur aus der Ich-Perspektive über Gewalt und Entwürdigung erzählen würde, dann geriete aus dem Blick, dass es bei Aktivismus um mehr geht. Es geht auch um mehr als darum, einen Wald oder ein Dorf zu ›retten‹. Das, weswegen wir protestieren, blockieren und auch immer wieder geltendes Recht brechen, geht noch tiefer. Wir wollen das System hinterfragen, delegitimieren und schwächen, das weltweit Tod und Zerstörung bringt. Das uns laut Aussagen von Wissenschaftler*innen mitten ins sechste Massenaussterben geführt hat!


Wir leben in einer Gesellschaft der Vereinzelung und Konkurrenz, einer Gesellschaft, die auf Angst und Unterdrückung basiert. Das klingt hart – würde mein Vater das lesen, würde er wieder entgegnen: »Ständig redest du von Unterdrückung! Mach lieber was Vernünftiges!«


Ich denke, dass ich das schon tue: Ich bin Klimaaktivistin und beim Protest in Lützerath dabei. Ich bin Antikapitalistin und gegen die Unterdrückung marginalisierter Gruppen. Fast täglich denke ich darüber nach, unter welchen Umständen Menschen – gerade die, die am wenigsten Schuld an der Zerstörung tragen und sich dieser am vehementesten widersetzen – leben (oder eben nicht mehr leben); daran, dass pro Jahr 20 Millionen Menschen durch Extremwetterereignisse aus ihrem Zuhause vertrieben werden … Diese und viele andere Dinge treiben mich dazu, für die Veränderung zu kämpfen, die so dringend notwendig ist.


Es überrascht mich manchmal, wie stark ich den Wunsch nach Veränderung in mir spüre, wie zentral die Frage der sozialen Gerechtigkeit für mich geworden ist. Vor wenigen Jahren noch war mein wichtigstes Ziel, mein Studium möglichst schnell durchzukriegen, damit ich nicht ›so spät‹ in den Beruf einsteige. Den Begriff Kapitalismus hatte ich, wenn überhaupt, mal im Unterricht gehört. Ich war an Gleichberechtigung interessiert, ohne jemals etwas für sie zu tun. Stattdessen blendete ich wahrgenommene Ungerechtigkeiten aus (es sei denn, sie betrafen mich persönlich), machte Volontariate, die sich gut in meinem Lebenslauf machten, aber Menschen vor Ort keinen Nutzen brachten. Heute denke ich anders über die Welt – komplexer, differenzierter, wie ich finde. Und ich handle! Ich darf nicht einfach untätig bleiben und die Zügel denen überlassen, die ›an der Macht sind‹.


Wenn ich Hals über Kopf – und manchmal kopflos – in Aktion gehe, tue ich das, weil ich die Notwendigkeit sehe, zu handeln. Wenn ich was mache, schaue ich zumindest nicht einfach der Zerstörung zu. Wenn Kohlezüge, Absetzer oder Bagger stillstehen, habe ich nicht die Welt verändert, aber ich arbeite an der Veränderung. Wenn genug Menschen aufhören, die Erzählung ihrer Machtlosigkeit zu glauben, dann sind wir einer Welt, in der wir mit- und nicht gegeneinander leben, schon deutlich nähergekommen. Statt sich auf ›die Politik‹ zu verlassen, können wir auf täglicher Basis Veränderung bewirken!


Gerade bin ich also in Lützerath, einem Dorf im Rheinland, das der Kohlekonzern RWE abbaggern will, um die darunterliegende Kohle zu verbrennen. Hier begann ich viele Dinge zu hinterfragen. Zahlen halfen mir dabei nachzuvollziehen, warum es notwendig ist zu handeln. Ich fand heraus, dass unter jedem Quadratmeter am Tagebau Garzweiler durchschnittlich 56 Tonnen Rohbraunkohle liegen und dass insgesamt (Stand 2020) noch 650 Millionen Tonnen gefördert werden sollen. Wie viel davon bis heute verfeuert wurde, weiß ich gerade nicht, aber ich weiß, dass jede einzelne Tonne die Klimakatastrophe weiter befeuert, die bereits heute so viel Leid verursacht. Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen so zu tun, als könnten wir noch bis 2030 so weitermachen wie bisher, ist nachgewiesenermaßen nicht drin!


Es gibt für uns kein CO2-Budget mehr! Berechnungen lassen konsequent historische Verantwortlichkeiten außer Acht und damit die Geschichte kolonialer Ausbeutung durch europäische Staaten. Ausbeutung, die in Form neokolonialer Zusammenhänge bis heute fortbesteht. Ich könnte sehr leicht den verbliebenen Teil mit Ausführungen zu (Umwelt-)Rassismus und (Neo-)Kolonialismus füllen, ohne auch nur die Unterdrückung nicht-menschlicher Tiere, weiblich sozialisierter Menschen, von Menschen mit Behinderung, von Trans*- oder Interpersonen oder auch die Diskriminierung von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse zu erwähnen. Aber es ist nicht an mir, diese Geschichten zu erzählen. Viele Betroffene haben es bereits getan. Wir müssen ihnen nur zuhören und nach ihren Bedürfnissen handeln.


Ich hatte nicht vor, ›Aktivistin zu werden‹, hatte nicht geplant, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Eigentlich wollte ich nur mal wieder zu einer Demo gehen. Vielleicht dann zwei Wochen darauf zur nächsten. Nichts Wildes und vollkommen vereinbar mit einem ›traditionellen Lebensentwurf‹. Es kam anders als geplant … Ich begegnete in Lützerath Menschen und Ideen, die mich faszinierten, und führte lange Gespräche. Als es am Ende Zeit war aufzubrechen, beschloss ich spontan, etwas länger zu bleiben. Ich reiste am nächsten Tag ab, kehrte aber immer wieder. Viele, die kommen, bleiben länger als geplant oder kommen wieder, sobald sie können. Ich nehme an, dass sie dieselbe Faszination spüren.


Statt die innere Leere in mir mit Konsum und oberflächlichen Dingen zu füllen, lernte ich zu vertrauen und tiefergehende Bindungen einzugehen. Wenn du anfängst, Alternativen zu sehen, beginnst du, den Status quo zu hinterfragen, der fast immer die schützt, die Eigentum haben, und der Armut (gewählt oder nicht) kriminalisiert. Warum muss ich immer über die Schulter schauen, wenn ich Lebensmittel aus der Tonne hole, die weggeschmissen wurden, weil sie für den Verkauf nicht mehr hübsch genug waren? Warum ist es kriminell, in einem ungenutzten Haus zu leben? Warum werden Menschen, die zerstörerische Praktiken blockieren, in Gewahrsam genommen? Kurz: Warum werden Praktiken, die Umwelt und Leben zerstören, rechtlich geschützt bzw. nicht konsequent verfolgt, während Menschen, die nicht ›systemkonform‹ handeln, kriminalisiert werden und Gewalt erfahren?


Ich sage das nicht einfach so, sondern weil ich erlebt habe, wie herabwürdigend und brutal Aktivist*innen teilweise behandelt werden. Das fängt mit Aussagen wie »Lass dich mal pimpern« oder anderen sexistischen Kommentaren – auch vonseiten der Polizei – an, geht weiter mit Handschellen und Gewahrsam, weil du auf einem Baum gesessen hast, der für Großprojekt XY gefällt werden soll, bis hin zu physischer Gewalt. Es werden von der Polizeiimmer wieder Schmerzgriffe angewendet. Wegen ihnen saß ich mal mit Tränen kämpfend auf dem Boden, weil mein Handgelenk so wehtat. Ich konnte nicht stehen, weil der Schmerz meine volle Aufmerksamkeit forderte. Zu diesem gezielt eingesetzten Schmerz kommen auch immer wieder Verletzungen, die auf dem exzessiven Gewalteinsatz vonseiten der Polizei oder Sicherheitsdiensten beruhen. Du kooperierst nicht, wenn sie dich vom Baum ›retten‹, und ein Arm schnürt dir die Luft ab? Dir verschwimmt die Welt vor den Augen, weil du immer wieder weggestoßen wurdest und einen Schlag auf den Kopf bekommen hast? Das kann passieren, denn sie haben das Recht, dich fernzuhalten, dein Protest ist halt ›nicht legal‹ … Gewahrsam ist drin. Mitgefühl nicht immer. Am Ende des Tages sind es deine Freund*innen, die deine Wunden so gut versorgen, wie sie eben können.


»Legalität ist eine Frage der Macht, nicht der Gerechtigkeit«, sagte der philippinische Filmemacher und Aktivist Antonio Jose Vargas und erklärt damit, warum Gewaltsysteme wie die Apartheid oder der Holocaust rechtlich abgesichert sein konnten, aber auch, warum Gewalt an Aktivist*innen scheinbar kein größeres Problem darstellt. Politik und Rechtsprechung sind historisch gesehen den privilegiertesten Menschen vorbehalten. Von Marginalisierungen betroffene Personen dagegen sind in Führungspositionen kaum vertreten und können sich daher nicht an Diskursen beteiligen, die auch sie betreffen. Indigene Gruppen – die sechs Prozent der Weltbevölkerung ausmachen– schützen global 80 Prozent der Artenvielfalt. Gleichzeitig stehen gerade sie unter großem Druck, ihre Territorien zugunsten kapitalistischer Großprojekte aufzugeben. Im Jahr 2021 wurden 358 Aktivist*innen laut Humane Rights Memorial Report ermordet. Knapp zwei Drittel von ihnen kämpften für Land-, Umwelt- oder indigene Rechte. Ich darf mich zu den ›Glücklichen‹ zählen, die nicht bei jeder Aktion um ihr Leben fürchten müssen.


Die Gesellschaft, in der wir leben, ist darauf ausgelegt, uns zu verletzen, zumindest einen Teil unserer Identität zu verbergen oder diskriminiert zu werden. Jede*r von uns sollte darum Aktivist*in sein. Für mich besteht Aktivismus darin, auf soziale Gerechtigkeit hinzuwirken. Damit angefangen, wie wir miteinander umgehen, und anzuerkennen, dass wir alle in verschiedensten Formen die Macht haben, zu unterdrücken – und dies bewusst oder unbewusst ständig tun.


Aktivismus heißt, nicht still zu bleiben, wenn wir Unterdrückung oder Diskriminierung mitbekommen. Aktivismus heißt, die Institutionen und Strukturen abzubauen, in denen Diskriminierung strukturell verankert ist, und die immer wieder reproduziert werden.


Aktivismus heißt, solidarisch mit denen zu sein, die im herrschenden System unsichtbar gemacht werden. Das ist der Aktivismus, den ich für zentral halte: der konsequent umgesetzt die Welt verändern kann.