Während der Zeit der Suche nach Steve erhielt die Debatte über wachsende Polizeigewalt und staatliche Repression gegen die Zivilgesellschaft neue Nahrung. Unter dem Slogan „Wo ist Steve?“ kam es zu zahlreichen Solidaritätsaktionen und Demonstrationen, die nach dem Auffinden des Leichnams weiter anwuchsen und von den „Gelbwesten“ aufgegriffen wurden. Diese sind ebenfalls – seit nun bald neun Monaten – das Opfer einer massiven staatlichen Unterdrückungspolitik. Fast 20.000 Menschen versammelten sich mitten in den Sommerferien am 3.August in Frankreichs Städten, um Steve zu gedenken und den Polizeiapparat anzuklagen. Slogans wie „Die Polizei tötet“, die bisher nur in linken oder migrantischen Kontexten Zustimmung fanden, schmückten die Fronttransparente auch kleinerer Demos in den Provinzstädten. Die Wut wurde noch dadurch beflügelt, dass von offizieller Seite jede Form von Verantwortung der Einsatzeinheiten der Polizei zurückgewiesen wurde und die Anwendung von Gummigeschossen, Tränengas, Granaten und Kampfhunden gegen friedlich feiernde Raver, deren einziges Vergehen darin bestand, ihre Soundanlage zu spät abgeschaltet zu haben, als angemessen abgetan wurde. Dieser offene Angriff auf eher alternativ orientierte Menschen ist allerdings weder Zufall noch das Ergebnis einer chaotischen Einsatzleitung, wie die zuständige polizeiinterne Aufsichtsbehörde IPGN gerne glauben machen möchte. Bekannt ist, dass der zuständige Einsatzleiter in der Vergangenheit offene Sympathien für französische Ultrarechte zeigte und die von ihm geführte Einheit der Spezialpolizei BAC (Brigade-anti-criminalité) innerhalb des lokalen Polizeiapparates den Spitznamen "tontons macoutes" trägt – eine Anspielung auf die Privatmilliz des haitianischen Diktators François Duvalier, wie der „Canard Enchaîne“ in seiner Ausgabe vom 7.August dieses Jahres offenlegte. Es zeigt sich, dass Rechtsradikalismus und Autoritarismus tief im Bewusstsein der Polizeiangehörigen verankert sind und Teil des antidemokratischen Grundkonsenses innerhalb der Polizei sind.

„Postkoloniale“ Unterdrückungsmechanismen prägen Strategien und Strukturen des Polizeiapparates

So ist der Bezug auf die Kolonialkriege als Grundlage einer Strategie zur Herstellung der inneren Sicherheit niemals aufgegeben worden. Besonders die Terrorisierung der algerischen Bevölkerung Algiers ab den späten 1950ern in Form von Razzien, Verhaftungen, Folterungen und der Ermordung von vermeintlichen Aktivist*innen der Unabhängigkeitsbewegung wurde für viele führende Funktionäre im Staats- und Polizeiapparat zu einer prägenden Erfahrung. Die hier erprobten Methoden sollten auch in den migrantischen Stadtvierteln des Mutterlandes Anwendung finden: zuerst um den Zuspruch für nationale Befreiungsbewegungen möglichst klein zu halten, später um eine soziale und ethnische Ausgrenzung der migrantischen Arbeitskräfte zu gewähren. Dazu wurden mobile Sonderpolizeieinheiten gegründet, die in Zivil und unabhängig von den regulären Polizeieinheiten agierten. Ihre einzige Aufgabe war die dauerhafte Präsenz in den migrantisch geprägten Stadtteilen und Vororten der Großstädte. Sie gelten als die Vorgängerorganisationen der heutigen BAC. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Unterdrückung der algerischen Migrant*innen am 17. Oktober 1961, als eine Demonstration für die algerische Unabhängigkeit in Paris blutig aufgelöst wurde und mehrere Dutzend Menschen ermordet und Hunderte verletzt wurden. Verantwortlich war der Pariser Polizeipräfekt Maurice Papon, der schon dem Vichy-Regime treue Dienste geleistet hatte. Migrant*innen galten auch in der Folge als primäre innere Feinde, deren Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden müsste. Mehr und mehr verwandelte sich die Polizeipräsenz in diesen Stadtvierteln in einen andauernden Belagerungszustand. Die Übergriffe und Todesfälle häuften sich besonders seit den 1980er Jahren. Der Aufstieg der radikalen Rechten auf der einen Seite, aber auch der wachsende ohnmächtige Widerstand in den Vorstädten führten zu einer Eskalation der Gewalt auf Seiten der Polizei und zu einer wachsenden Aufrüstung und Umgruppierung innerhalb des Apparates und die BAC. Die sogenannten „Antikriminalitätsbrigaden“ entstanden. Diese sollten in erster Linie Festnahmen erzielen, um der Politik Zahlen an die Hand zu geben, um einen vermeintlich „effektiven“ Kampf gegen Kriminalität belegen zu können. Freilich verschärften sie die Situation nur, da Verhaftungen und Morde an Unschuldigen die kollektive Wut nur verschärften (Rigouste 2012, 55ff). Doch weder auf Seiten der Politik noch innerhalb der Polizei selbst wollte man einsehen, dass erhöhte Repression gegen die ohnehin überdurchschnittlich von Erwerbslosigkeit betroffenen migrantischen Gruppen die grundsätzlichen Probleme nicht lösen würde. Vielmehr entwickelte sich innerhalb der Polizei eine Art „Rachebedürfnis“. Auseinandersetzungen zwischen meist jungen migrantischen Menschen und Polizeistreifen in den entsprechenden Stadtvierteln sollten mit noch größeren Strafaktionen beantwortet werden. Besonders die BAC-Angehörigen sehen sich an dieser Front als eine Art Elite. Kriminalität wird . Rassismus, Antifeminismus und Chauvinismus werden immer offener zur Schau gestellt. Die patriarchale, hierarchische innere Struktur der Polizei wird in diesen Kreisen als Leitbild für eine ideale Gesellschaft betrachtet in der autoritäre männliche Werte dominieren sollen, während soziale und humane Werte, als weiblich und die Gesellschaft zersetzend, verachtet werden (Rigouste 2012, 160f). Dies drückt sich auch im Wahlverhalten von Polizist*innen aus: Fast die Hälfte von ihnen stimmte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 bereits im ersten Wahlgang für Marine Le Pen, die Kandidatin des Front National (Chevalier 2017). Der erklärte Wille von Polizei und politischen Eliten war es – nicht zuletzt unter dem Druck der radikalen Rechten –, die rassistisch konnotierte „Pazifizierungspolitik“ der Vorstädte weiter zu intensivieren. Dazu wurden für die Polizei neue, sogenannte „nicht- lethale“ Waffen in Form von Gummigeschossen angeschafft. Hatte der Einsatz von normalen Schusswaffen zu viele Opfer gefordert, schienen diese nicht-tödlichen Waffen eine Einschüchterungspolitik gegenüber den sozialen Randgruppen möglich zu machen, ohne dass eine allzu große mediale Resonanz entstand. So wurden in den 1990er Jahren erst die sogenannten „Flash Balls“ eingeführt, die mit einer Pistole verschossen wurden. Nachdem der mit Hilfe der Stimmen vieler traditioneller FN- Wähler*innen 2007 zum französischen Staatspräsidenten gewählte Nicolas Sarkozy eine weitere Verschärfung der Repression angekündigt hatte, wurde kurz danach das sogenannte LBD-40 eingeführt (Douillard-Lefevre 2016). Dieses Sturmgewehr verschießt Gummigeschosse mit einem Durchmesser von 44 Millimetern und ersetzte die alten„Flash Balls“.

Die „Repression“ verlässt die Vorstädte – die sozialen Bewegungen werden zur neuen Bedrohung

Zwischen 2000 und 2009 wurden flankierend 17 Gesetze gegen Unsicherheit, Terrorismus, illegale Migration und Jugendkriminalität erlassen. Auf dem Papier sollten sie sich in erster Linie gegen gesellschaftliche Randgruppen richten, doch sie erreichten bald auch die gesellschaftliche Mitte – ebenso wie das Waffenarsenal der französischen Polizei. Hatte die französische Justiz in der Vergangenheit „politische“ Straftaten gebilligt und mit milden Strafen belegt, begann die Politik angesichts  wachsender sozialer Bewegungen seit den 1990ern und sinkender Zustimmungswerte zu den dominierenden politischen Parteien und dem Institutionensystem den politischen Widerstand aus den Reihen der gesellschaftlichen Opposition vermehrt zu entpolitisieren und zu kriminalisieren . Ein Großteil der vermeintlichen Straftaten durch politische Aktivist*innen wird heute als Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Beleidigung oder Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt. Selbst Einweisungen in psychiatrische Kliniken von Aktivist*innen sind nicht mehr ausgeschlossen (Codacccioni 2019,  21). Mehr und mehr setzen rechte und rechtssozialdemokratische Regierungen in Frankreich Gewerkschaften und politische Aktivist*innen diskursiv mit Terrorist*innen gleich, welche die staatliche Ordnung untergraben würden. Besonders die radikale Linke steht dabei im Fokus. Gerne wird die Ausschaltung des „Schwarzen Blocks“ beschworen, die sich die aktuelle französische Regierung auf die Fahnen geschrieben hat. Der Ausnahmezustand, der Mitte der 1950er Jahre verfassungsrechtlich geschaffen wurde, um den französischen Kolonialtruppen freie Hand für ihren Krieg in Algerien zu geben und der dann nach den Anschlägen in Paris Ende November 2015 erlassen wurde, richtete sich dann auch weniger gegen echte oder vermeintliche Islamist*innen, sondern beispielsweise gegen Umweltaktivisten*innen, denen Hausarreste auferlegt wurden, damit sie nicht gegen die damals stattfindende Pariser Klimakonferenz demonstrieren konnten. Zahlreiche weitere Aktivist*innen mussten Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. Beide Maßnahmen waren aufgrund des staatlichen Ausnahmezustands ohne richterliche Zustimmung möglich. Als im Frühjahr 2016 die Proteste gegen die große Arbeitsmarktreform stattfanden, waren es wiederum linke Aktivist*innen, denen aufgrund des immer noch gültigen Ausnahmezustandes die Teilnahme an Demonstrationen verboten wurde (Codaccioni 2019, 28ff). Mit dem Amtsantritt Emmanuel Macrons und dem massiv zunehmenden Widerstand gegen dessen harte neoliberale „Reformpolitik“ kulminierten jetzt all diese Trends. Hatte seine Administration schon in der Frühphase seiner Präsidentschaft zahlreiche Elemente des Ausnahmezustands in Gesetzeskraft gegossen (die vereinfachten Hausdurchsuchungen, Hausarreste und die Schaffung von „Sicherheitszonen“, in den verdachtsunabhängige Personenkontrollen durchgeführt werden können) (Hordeaux 2017), wurde der autoritäre Charakter seiner Präsidentschaft noch einmal deutlich durch das „Antirandalierergesetz“, welches speziell gegen die „Gelbwesten“ erlassen wurde. Zwar wurde der Versuch, Demonstrationen auf verwaltungstechnischem Wege ohne richterliche Zustimmung verbieten zu können, vom Verfassungsrat zurückgewiesen. Das Verbot von Spontandemonstrationen, die Einführung eines harten Vermummungsverbotes, das Haftstrafen vorsieht, und die Legalisierung von verdachtsunabhängigen Durchsuchungen von Demonstrationsteilnehmer*innen wurden jedoch nicht beanstandet. Zusätzlich machten Polizei und Staatsanwaltschaften bei der Kriminalisierung der „Gelbwesten“ von der gesetzlichen Möglichkeit Gebrauch, den puren, teilweise konstruierten Verdacht auf Gesetzesverstöße gegen die Verhafteten geltend zu machen – eine gesetzliche Grundlage, die sich ursprünglich wiederum gegen angebliche migrantische Bandenkriminalität richten sollte und seit dem Ende der 2000er Jahre in Kraft ist. Umso erschreckender fällt auch die Zahl der Verurteilten aus: Allein  zwischen November 2018 und März 2019 wurden fast 800 Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Justizministerin hatte zuvor Briefe anStaatsanwaltschaften (die unter ihrer direkten Weisungsbefugnis stehen), und Richter*innen formuliert, in denen die Verhängung möglichst harter Urteile gefordert wurde. Der repressive Charakter der Macron-Administration zeigt sich nicht zuletzt darin, wie das in den Vorstädten erprobte Waffenarsenal gegen die Demonstrant*innen eingesetzt wird. Dabei spielen insbesondere die Gummigeschosse eine wichtige psychologische Rolle, denn diese wenden sich nicht gegen eine kollektive Menge, sondern schaffen individuelle Opfer. Die Anzahl an Verletzten, welche in den letzten Monaten zu beklagen sind, haben dramatische Ausmaße angenommen. Nach Zahlen der Investigitativredaktion Mediapart verloren allein 24 Menschen die Sehkraft auf einem Auge, weil sie von Gummigeschossen im Gesicht getroffen wurden. Diese verstümmelten und traumatisierten Menschen dienen als abschreckendes Beispiel: Wer  sein verfassungsrechtlich gewährtes Recht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen möchte, muss sich gewahr sein, dass er seine körperliche Gesundheit auf´s Spiel setzt. Damit sollte diese Protestbewegung zerschlagen werden. Gleichzeitig dient dieses Vorgehen als Warnung für die gesamte Zivilgesellschaft, die nicht mehr offen gegen Macron Flagge zeigen soll. Bezeichnenderweise waren es die Einheiten der BAC, welche die meisten Gummigeschosse abfeuerten und einen Großteil der Verhaftungen durchführten. Nachdem seit den 2000er Jahren schon linke Aktivist*innen zum Ziel der „Antiaufstandsstrategien“ des französischen Staates geworden waren, erreichte diese im Zuge der Gelbwestenproteste auch die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“. Für die gesellschaftlichen Eliten ist eine „proaktive“ und repressive Unterdrückung scheinbar unkontrollierbarer Gruppen und Bewegungen wichtig, um einen befürchteten Zusammenschluss aller vom autoritären Neoliberalismus bedrängten Gruppen zu verhindern. Mit dem Versuch des angeblichen Liberalen Macron, sich des strukturell weit rechts stehenden Polizeiapparates zu bedienen, um damit ein Bündnis antineoliberaler Kräfte  zu verhindern, könnte er allerdings in Schwierigkeiten geraten. Denn längst ist die Polizeigewalt zu einem  einigenden Faktor gegen Macron geworden.

Literatur

Codaccioni, Vanessa, 2019: Répression – L`État face aux contestation politique, Paris Chevalier, Julie, 2017: Les forces de l'ordre gagnées par le vote Front national, in: BFM TV , 3.5.2017 Doulliard-Levebre, 2016: L`Arme à l`oeil- Violences d`État et militarisation de la police, Lormont Hordeaux, Jerôme, 2017: La France bascule dans l`etat d`urgence permanente, in: Mediapart, 1.11.2017 Rigouste, Mathieu, 2012: La domination policière. Une violence industrielle, Paris