Es ist ein historisches Ereignis: Am 25. Oktober werden die Chilen*innen darüber abstimmen, ob sie die Verfassung von Diktator Augusto Pinochet hinter sich lassen. Es ist ein großer Erfolg der starken sozialen Bewegungen der vergangenen Jahre, die regelmäßig große Protestzyklen lostraten, mit denen sich weite Teile der Bevölkerung solidarisierten. Erinnert sei etwa an die Schülerproteste von 2006 oder die Studierendenproteste ab 2011, als die Rufe nach einem Verfassungsreferendum zum ersten Mal deutlich lauter wurden. Aber ein Sieg beim anstehenden Plebiszit bedeutet noch lange kein Ende in der Auseinandersetzung um das neoliberale Erbe der Diktatur.

Selbstorganisation und solidarische Netzwerke in der Pandemie

Eigentlich hätte das Referendum am 26. April stattfinden sollen, aber es wurde wegen der Pandemie verschoben. Ein Jahr ist seit dem Beginn des Aufstands am 18. Oktober 2019 (vgl. Dilger/Kim 2019) vergangen, der sich gegen die soziale Ungleichheit und das in der Verfassung verankerte neoliberale Modell richtet. Das Coronavirus hat das Scheitern des Modells noch deutlicher werden lassen. Die solidarischen Netzwerke der Protestbewegung haben die Löcher gefüllt, die der Staat hinterlässt. Gleichzeitig hat die Pandemie der rechten Regierung als Vorwand gedient, um autoritäre Maßnahmen durchzusetzen, wie den Ausnahmezustand, nächtliche Ausgangssperren und den Einsatz des Militärs. „Wenn uns nicht das Virus tötet, tötet uns der Hunger“ oder – mit Bezug auf den amtierenden Präsidenten – „Piñera ist tödlicher als das Coronavirus“, stand im Mai auf Plakaten der Protestierenden in den Arbeitervierteln am Stadtrand von Santiago zu lesen. Dort breitete sich das Virus besonders schnell aus, weil viele Menschen auf engem Raum leben. Die Regierung erließ ein Gesetzesdekret, das Unternehmen erlaubt, die Verträge der Angestellten zu suspendieren und ihnen keinen Lohn zu bezahlen. Die Arbeitslosigkeit liegt mittlerweile auf dem höchsten Wert der letzten zehn Jahre. Hinzu kommt, dass 40 Prozent der Bevölkerung im informellen Sektor arbeiten, also ohne Arbeitsvertrag. Viele haben deshalb jetzt keinerlei Einkommen. Das unterfinanzierte öffentliche Gesundheitssystem stand immer wieder kurz vor dem Kollaps, das Krankenhauspersonal vor dem psychischen Zusammenbruch. Die staatlichen Hilfen beschränkten sich auf Lebensmittelkisten und ein paar Notfallzahlungen. Aber das reichte nicht aus. Im ganzen Land wurden ollas comunes, solidarische Suppenküchen, in den Stadtvierteln selbstorganisiert. Viele von der Opposition angestoßene Gesetzesvorhaben, die die Menschen in der Corona-Krise absichern sollten, wie zum Beispiel Arbeitsschutzmaßnahmen oder die Deckelung von Medikamenten-, Strom- und Wasserrechnungen, konnten nicht verabschiedet werden, weil sie verfassungswidrig sind.

Die Verfassung garantiert das Erbe der neoliberalen Diktatur

„Alle Gesetzesprojekte, die in der Vergangenheit strukturelle Veränderungen etwa im Bildungsbereich oder auf dem Arbeitsmarkt zum Ziel hatten und im Parlament von einer Mehrheit verabschiedet wurden, sind am Verfassungsgericht gescheitert“, sagt der Politikwissenschaftler der Universidad de Chile, Octavio Avendaño. „Die Verfassung hat mehrere Aspekte, die verhindern, dass die Forderungen nach einer gerechten Gesellschaft umgesetzt werden können. Die chilenische Verfassung verleiht dem Eigentumsrecht mehr Bedeutung als den Grundrechten der Menschen.“ Die Verfassung von 1980 wurde während der Militärdiktatur von Pinochet ohne Beteiligung der Zivilbevölkerung verabschiedet und nie demokratisch ratifiziert. Jaime Guzmán, intellektueller Kopf der Militärregierung und Gründer der rechtskonservativen Partei Unión Democrática Independiente (UDI), entwarf sie zu großen Teilen. Er baute Fallen ein, um eine grundlegende Reform zu verhindern. „Wenn die Gegner an die Regierung gelangen sollten, sollen sie sich gezwungen sehen, eine ähnliche Politik zu verfolgen wie ich selbst. Der Spielraum für Alternativen soll so begrenzt sein, dass es extrem schwierig ist, etwas zu verändern“, sagte Guzmán über die Verfassung. Zahlreiche Politikbereiche wurden gegen mögliche Änderungen mit hohen Mehrheitsanforderungen von zwei Dritteln oder drei Fünfteln abgesichert. Die neoliberale Grundlage der Verfassung ist das Subsidiaritätsprinzip des Staates. Damit ist gemeint, dass Privatunternehmen in allen Aspekten den Vorrang haben und der Staat nur dann eingreift, wenn die Privaten nicht können oder wollen. So kann man in Chile eine extreme Form der Gewalt des neoliberalen Systems wie unter einem Brennglas beobachten: Zentrale Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wie Bildung, Gesundheit, Wohnen oder die Rentenversorgung sind zum größten Teil oder gleich vollständig privatisiert. Auch die Privatisierung der natürlichen Ressourcen wie etwa des Wassers ist in der Verfassung festgeschrieben. Es fließen zwar beträchtliche öffentliche Gelder in den privaten Sektor, etwa in den Gesundheits- und Bildungsbereich. So wird vermeintlich das Recht auf Zugang zu Bildung, Gesundheit und Renten garantiert. In der Realität erhalten diesen Zugang aber nur diejenigen, die ihn bezahlen können.

Ein System von Raub und Plünderung

Und das sind in Chile wenige. Die soziale Spaltung des Landes ist extrem. Ein Prozent der Bevölkerung konzentriert knapp ein Drittel des Reichtums, zehn Prozent sogar zwei Drittel. Die Lebenserwartung einer Frau, die in einer población, einem Armenviertel in Santiago de Chile aufwächst, ist 18 Jahre geringer als die einer Frau, die in einem wohlhabenden Viertel wohnt. Viele Chilen*innen leben in großer Prekarität, sind verschuldet oder hungern, weil für alle zentralen Bereiche der menschlichen Daseinsvorsorge teuer bezahlt werden muss – bei obszönen „Leistungen“ des privaten Unternehmenssektors, an dem sich unter anderem die kleptokratische, politisch-ökonomische Elite des Landes bereichert. Es gibt viele drastische Beispiele dafür. Eines davon ist das System der vollständig privatisierten Altersvorsorge AFP: 80 Prozent der gezahlten Renten liegen unter dem chilenischen Mindestlohn in Höhe von rund 400 US-Dollar monatlich. Gleichzeitig verzeichnet das System der Pensionsfonds seit Jahren astronomische Gewinne, mit denen an der Börse spekuliert wird. Es sind solche Zustände des Raubes und der Plünderung, wie es in Chile oft heißt, die auch die ältere Generation auf die Straße treiben. Eine Generation, die den Aufbruch unter Salvador Allende und die Diktatur Pinochets ab 1973 erlebt hat.

„Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und wird in Chile sterben“

Wegen all dieser Zustände und kollektiven (Über-)Lebenserfahrungen eines großen Teils der Chilen*innen ist die Forderung nach einer neuen Verfassung mit der Revolte des vergangenen Jahres endgültig ins Zentrum der Protestbewegung gerückt. „El neoliberalismo nace y muere en Chile“ („Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und wird in Chile sterben“), konnte man im Oktober 2019 auf den Plakaten der Demonstrant*innen lesen. „Der verfassunggebende Prozess mit Bürgerbeteiligung, der jetzt vorgeschlagen wird, könnte nicht nur die Legitimität der Verfassung von 1980 überwinden, sondern die historische Tendenz, dass alle Verfassungen in Chile seit 1812 von Militärs durch Putsche aufgezwungen wurden. Sie waren nie das Resultat eines sozialen Vertrags“, sagt der Politikwissenschaftler Avendaño.

Die Rechte ist gespalten

Piñeras Regierungskoalition Chile Vamos ist in der Haltung zum Referendum gespalten. In seiner Partei Renovación Nacional (RN) macht ein Teil Kampagne für Apruebo, also für eine neue Verfassung, ein anderer Teil für Rechazo, also für den Verbleib der Verfassung aus der Diktatur. Die Partei UDI spricht sich einstimmig gegen eine neue Verfassung aus, gemeinsam mit anderen Parteien des rechten Spektrums wie der Republikanischen Partei des rechtspopulistischen Abgeordneten José Antonio Kast, Sohn eines deutschen Nazi-Offiziers und Bruder eines Staatsministers von Pinochet. Umfragen zeigen jedoch ein ganz anderes Bild: Laut Pulso Ciudadano sprechen sich 84,8 Prozent der Bevölkerung für eine neue Verfassung aus. „Die Rechten wissen, dass eine große Mehrheit für die neue Verfassung stimmen wird. Aber sie werden alles tun, um substanzielle Reformen und eine radikale Veränderung der Verfassung von 1980 zu verhindern“, sagt Avendaño. Mehrere Abgeordnete der rechten Regierungsparteien UDI und RN haben das Militärregime von Pinochet aktiv unterstützt und an der Ausarbeitung des Wirtschaftsmodells und der Verfassung von 1980 mitgewirkt, darunter auch der Bruder des Präsidenten, José Piñera, sowie mehrere Minister*innen.

Referendum light oder basisdemokratische Asamblea Constituyente

Die Chilen*innen können an diesem 25. Oktober nicht nur darüber abstimmen, ob sie eine neue Verfassung befürworten oder ablehnen, sondern auch, wie das Organ gewählt wird, das die neue Verfassung ausarbeiten soll. Zur Wahl steht die Convención Constitucional, ein zu 100 Prozent aus gewählten Bürger*innen zusammengesetzter Verfassungskonvent, oder eine Convención Mixta Constitucional, ein gemischter Konvent aus 50 Prozent gewählten Bürger*innen und 50 Prozent Parlamentsabgeordneten. Laut Pulso Ciudadano wollen 77,7 Prozent der Chilen*innen für den Verfassungskonvent stimmen. Doch eine wirklich basisdemokratische verfassunggebende Versammlung, eine Asamblea Constituyente, steht am 25. Oktober nicht zur Wahl, obwohl sie im ganzen Land von der Protestbewegung gefordert wird. „Die Forderung des Volks ist eine Asamblea Constituyente. Das Plebiszit am 25. Oktober ist Teil eines Paktes zwischen den politischen Parteien, die es sich seit der Rückkehr der Demokratie an der Macht bequem gemacht haben“, sagt Loreto Contreras, eine Demonstrantin an der Plaza de la Dignidad (Platz der Würde) im September 2020. „Unsere Demokratie wird von den privatwirtschaftlichen Gruppen verwaltet, die sich bereichert haben, nachdem sie das öffentliche Eigentum untereinander aufgeteilt haben.“ Nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 akzeptierte die Parteienkoalition Concertación, die als demokratische Opposition gegen die Militärdiktatur gegründet worden war und bis 2010 alle Präsident*innen stellte, die autoritären Enklaven der Verfassung von 1980. Pinochet blieb bis 1998 Oberbefehlshaber des Heeres und wurde auf Grundlage der Verfassung Senator auf Lebenszeit, wodurch er politische Immunität genoss. 2006 starb er, ohne dass er je für seine Verbrechen verurteilt wurde. Aus der neoliberalen Diktatur - aufgebaut unter Beihilfe der USA und der dortigen einflussreichen Milton-Friedman-Jünger Chicago Boys - wurde eine neoliberale Demokratie, in der die entscheidenden Strukturen der ökonomischen Diktatur fortbestehen. Die Concertación habe das chilenische Volk betrogen, meint der Historiker Gabriel Salazar, der während der Pinochet-Diktatur verhaftet und gefoltert wurde. „Wir haben den Sieg des No zu Pinochet [im Referendum von 1988] gefeiert und das hat uns blind gemacht. Durch diese Freude hat die Concertación uns betrogen, weil sie die Verfassung von 1980 und das neoliberale Modell ohne Veränderungen beibehalten hat", sagte Salazar in einem Interview mit der chilenischen Zeitung El Ciudadano im Jahr 2011. Die Erfahrung, dass die  Regierungen der Concertación das neoliberale Modell vertieften, statt es zu verändern, hat in Chile zu einem profunden Misstrauen gegenüber den politischen Parteien und Institutionen geführt. Lag das Vertrauen 1991 noch bei über 50 Prozent, sank es mit Blick auf den Kongress und die politischen Parteien 2006 auf 16 beziehungsweise neun Prozent. Im Dezember 2019 dann wurde ein historischer Tiefstand von drei bzw. zwei Prozent erreicht, wie eine Studie des Centro de Estudios Públicos zeigt.

Konflikte in der Linken

Deshalb gibt es auch ein tiefes Misstrauen mit Blick auf den institutionellen Verfassungsprozess, der am 25. Oktober zur Abstimmung steht. Viele befürchten, dass die Hoffnungen auf einen tiefgründigen Wandel erneut enttäuscht werden. Das Verfassungsreferendum wurde am 15. November 2019 beschlossen, als Folge des Drucks von unten durch die massiven Proteste auf der Straße. Regierungs- und Oppositionspolitiker*innen unterschrieben den Acuerdo por la Paz y la Nueva Constitución (Vertrag für den Frieden und eine neue Verfassung). Einer von ihnen war Gabriel Boric, Mitglied der Frente Amplio (Breite Front), eines Bündnisses aus linken Parteien und Bürgerbewegungen, darunter ehemalige führende Köpfe der Studierendenbewegung. Die Frente Amplio war bei den Präsidentschaftswahlen 2017 als Hoffnungsträger und Alternative zu den traditionellen Parteienkoalitionen angetreten, doch jetzt waren viele enttäuscht über die Unterschrift unter das Abkommen, Konflikte brachen auf. Kritik gab es unter anderem daran, dass das Abkommen Sebastián Piñera und seine rechte Regierung vor dem endgültigen Absturz rettete und es in einem Klima systematischer Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure unterschrieben wurde. Bis heute hat die Regierung keine Verantwortung für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen übernommen, darunter Morde, Vergewaltigungen und Augenverstümmelungen durch den Einsatz von Gummigeschossen (seit Beginn der Protestwelle im vergangenen Jahr hat es rund 460 Augenverletzungen, 33 Tote, etwa 11.500 Verletzte und über 36.000 Festnahmen gegeben). Etliche Gruppierungen verließen die Frente Amplio. So trat etwa auch Jorge Sharp, Bürgermeister der großen Hafenstadt Valparaíso, nach dem Friedensabkommen aus der Frente Amplio und seiner Partei Convergencia Social aus. Er gründete Territorios en Red, ein Zusammenschluss von Lokalpolitiker*innen und sozialen Organisationen in verschiedenen Territorien, mit der er die Teilnahme der Regionen am Verfassungsprozess im zentralistisch organisierten Chile fördern will. Nicht alle Parlamentsabgeordneten der Opposition unterschrieben das Abkommen. Einige von ihnen haben das Comando Apruebo Chile Digno (Kommando Ja für ein würdevolles Chile) gegründet, gemeinsam mit sozialen Basisorganisationen. Tomás Hirsch, Parlamentsabgeordneter und ehemaliges Mitglied der Humanistischen Partei, ist Teil des Kommandos. „Wir haben das Abkommen nicht unterschrieben, weil es hinter verschlossenen Türen vereinbart wurde unter Ausschluss der Student*innen, der Arbeiter*innen, der Frauen, der indigenen Völker und der sozialen Bewegungen, die die Protestbewegung angestoßen haben“, sagt er. Als Hirsch 2005 als Präsidentschaftskandidat antrat, warf er die Verfassung von 1980 öffentlich in einen Mülleimer. „Einige von uns kämpfen schon seit der Diktatur für eine neue Verfassung. Aber jetzt gibt es einen Konsens, dass wir eine neue Verfassung brauchen. Wie viele andere hätte ich mir eine Asamblea Constituyente gewünscht. Aber wir werden alles dafür tun, dass die neue Verfassung Grundrechte garantiert.“

Landesweite Selbstorganisation in Nachbarschaftsversammlungen

Mit der Revolte 2019 begann auch ein basisdemokratischer Prozess in ganz Chile. Nach wenigen Tagen begannen die Menschen, sich in Asambleas Territoriales, Nachbarschaftsversammlungen, zu organisieren. Bis heute gibt es im ganzen Land über 200 solcher neu gegründeter Versammlungen. Sie aber wurden in dem Friedensabkommen für eine neue Verfassung nicht berücksichtigt, obwohl sie die Basis der Protestbewegung bilden. „Der institutionelle Prozess spiegelt nicht die Forderungen wieder, die auf der Straße zum Ausdruck gebracht wurden. Die Oktober-Revolte geht viel weiter“, sagt Israel Acevedo, Mitglied der Asamblea Popular Santa Julia in der Gemeinde Macul in Santiago. „Um sich zu beschützen, hat die chilenische Oligarchie das Plebiszit angekündigt und die Politiker*innen der sogenannten Opposition haben sich mit der Regierung zusammengeschlossen.“ Acevedo erwartet nur wenig Veränderung vom institutionellen Verfassungsprozess. „Wir werden weiterhin im Schatten der Parteien bleiben, die in den letzten 30 Jahren das neoliberale Modell installiert, gestärkt und vertieft haben. Es gibt keine Garantie dafür, dass die Verfassung, die aus diesem Prozess entsteht, das Modell verändert.“

Die Fallstricke des institutionellen Verfassungsprozesses

Denn der Friedensvertrag für die neue Verfassung vom 15. November 2019 beinhaltet einige trampas (Fallen). Eine davon ist eine erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit, mit der der Verfassungskonvent die Artikel einer neuen Verfassung verabschieden müsste. Rechte und unternehmernahe Sektoren könnten so tiefgreifende Veränderungen blockieren. Ein weiteres Problem ist das Verhältniswahlrecht, mit dem die Mitglieder des Verfassungskonvents gewählt werden sollen. Es würde Mitgliedern politischer Parteien die Wahl erleichtern und die Wahl unabhängiger Kandidat*innen erschweren. Der Artikel 135 des Abkommens legt fest, dass die neue Verfassung internationale Abkommen, darunter Freihandelsabkommen, respektieren muss. Mit 26 an der Zahl ist Chile das Land der Welt, das die meisten Freihandelsabkommen unterschrieben hat. Sie zementieren nicht nur das extraktivistische Exportmodell. Bestandteil der Abkommen sind häufig Investitionsschutzabkommen, die es Investoren erlauben, Staaten zu verklagen, wenn ihre Gewinne beeinträchtigt werden. Ein solches Abkommen verhandelt Chile momentan mit der Europäischen Union, dem größten Investor in Chile. Europäische Investitionen findet man beispielsweise im privaten Rentensystem AFP (Administradoras de Fondos de Pensiones), in der Infrastruktur und im Energiesektor. Soziale Forderungen nach einem öffentlichen Rentensystem könnten durch das Investitionsschutzabkommen behindert werden, wenn Investoren dem chilenischen Staat mit teuren Klagen drohen. Der Verfassungskonvent sieht zudem keine garantierten Quoten für die indigenen Völker Chiles vor, obwohl sie mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ein Erfolg hingegen war die Entscheidung des Senats im März, dass der Verfassungskonvent zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern zusammengesetzt sein muss. Chile könnte so zum ersten Land der Welt werden, in dem eine Verfassung von einem Konvent verabschiedet wird, der geschlechtergerecht zusammengesetzt ist. „Die Geschlechtergleichheit bedeutet nicht, dass alle Frauen, die Teil des Verfassungskonvents sind, Feministinnen oder Repräsentantinnen der Interessen des Volks sein werden. Selbstverständlich werden auch reaktionäre und faschistische Frauen dabei sein“, sagt Karina Nogales, Sprecherin der Coordinadora Feminista 8M aus der in Chile starken, kreativen und kämpferischen feministischen Bewegung. „Frauen werden mit ihrer eigenen Stimme aufeinandertreffen, Frauen verschiedener Klassen, aber nicht mehr repräsentiert durch Andere. Das wird zweifellos zu einer Politisierung der Frauen führen.“ Die Zukunft von Chile sei ungewiss, sagt Nogales. Aber auch: „Nichts ist in Stein gemeißelt. Unsere Aufgabe als soziale Bewegung ist es, das Unwahrscheinliche möglich zu machen.“

„Unsere Bewegung wird nicht aufhören“

Die Demonstrant*innen treffen sich weiterhin an der Plaza de la Dignidad im Zentrum von Santiago und in anderen Städten des Landes. Trotz der zahlreichen Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen, die das Vorgehen der militarisierten Polizei Carabineros kritisiert haben, lässt die Repression gegen die friedlichen Proteste nicht nach. Anfang Oktober schubste ein Carabinero einen minderjährigen Demonstranten von einer Brücke in den Fluss Mapocho, er wurde schwer verletzt. Während der Proteste am Jahrestag der Revolte am 18. Oktober 2020 erschoss ein Carabinero einen Demonstranten in der población La Victoria, einem der Armenviertel der Hauptstadt. „In Chile wird das Demonstrationsrecht nicht respektiert. In den Medien wird immer von gewalttätigen Protesten gesprochen, dabei sind die einzigen Gewalttäter die Carabineros“, sagt die Demonstrantin Loreto Contreras. „Chile ist ein Druckkochtopf. Wir werden weiter protestieren, auch wenn es einen Verfassungskonvent gibt. Unsere Bewegung hat nicht am 18. Oktober begonnen und sie wird nicht aufhören, bis wir ein Land erkämpft haben, in dem wir mit Würde leben können. Nicht umsonst haben wir der Plaza de la Dignidad ihren Namen gegeben.“  

Zum Weiterlesen

Dilger, Gerhard/Kim, Caroline, 2019: Chile ist aufgewacht. Der weitgehend friedliche Massenaufstand könnte einen tiefgreifenden Wandel einleiten. Interview mit der Soziologin Pierina Ferretti auf rosalux.de