Das postnormale Wissen – Gelegentlich kommt es vor, dass ein Autor von seinem Gegenstand überholt wird. Das kann mir insofern nicht passieren, als mein Gegenstand die Überholung selbst ist. Nur über­stürzen sich die Dinge in einem derart atemberaubenden Tempo, dass ich die Vergeblichkeit meines Unterfangens nicht ganz ausschließen kann. […]


Über zwei Jahre sind verstrichen, seitdem ich mit Notizen anfing, ursprünglich in der Absicht, etwas Unruhe in der trügerischen Stille deutscher Publizistik zu stiften. Gerade war Greta Thunbergs Aufruf »I want you to panic!« mit Sarkasmen und scheinheiligen Umarmungen erstickt worden. Noch bereiteten sich die Grünen vor, am Regierungslenkrad zu sitzen und die »Klimakurve« adrett hinzubekommen. Audi und VW entwarfen klimafreundliche Stadtgeländewagen. Ich erlebte nette Talkrunden über die Klimafrage und wie sie mit der sozialen Frage zu verknüpfen sei. Von Beunruhigung keine Spur. […]

»Selbst für professionelle Gute-Laune-Spender wurde es sehr schwer, die Evidenz weiterhin wegzureden: Nein, keine Katastrophe steht bevor, wir stecken bereits mittendrin.«

Mich wunderte diese Unaufgeregtheit umso mehr, als in meinem Herkunftsland Frankreich die Vorstellung eines bevorstehenden, nicht genauer dargelegten effondrement (Zusammenbruch) allgegenwärtig war und »Kollapsologie«-Bücher sich wie geschnitten Brot verkauften. Diese Diskrepanz wollte ich untersuchen. Doch kaum hatte ich mich an die Arbeit gemacht, ging es mit der Kalamitätenkaskade los. Pandemie. Lockdown. Überschwemmungen. Trockene Flüsse. Hitzewellen. Stürme. Waldbrände. Schneefreie Berge. Logistische Ausfälle. Missernte. Halbleitermangel. Insektenschwund. Energieknappheit. Krieg. Bald machten Nachrichten nur noch schlecht gelaunt und Natursendungen melancholisch. Selbst für professionelle Gute-Laune-Spender wurde es sehr schwer, die Evidenz weiterhin wegzureden: Nein, keine Katastrophe steht bevor, wir stecken bereits mittendrin. Düstere Zukunftsszenarien sind überflüssig geworden, die düstere Gegenwart reicht schon. Schnell wechselte die allgemeine Stimmung von Zwangsoptimismus zur Schockstarre, zu einem potenziell giftigen Mix aus Resignation und Verwirrung. Unter all den Drohungen ist dies die unmittelbarste: Der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher, und in den Zwischenraum drängen Ängste und Ersatzhandlungen. […]


Unsternstunden der Menschheit – Ich muss mich zunächst für eine Bezeichnung entscheiden, die meine Absicht am geeignetsten ausdrückt. Worte sind wichtig. Entschieden zurückgewiesen werden zunächst einmal Krise und Katastrophe. Da beide Begriffe aus dem Theater kommen, sind sie dem aristotelischen Prinzip der drei Einheiten unterworfen: Wie auf der Bühne müssen Zeit, Raum und Handlung klar eingegrenzt sein.

Eine Ölkrise oder eine Finanzkrise sind aber bloß akute Manifestationen von strukturellen Widersprüchen (der Erdölabhängigkeit, der Bewegung des fiktiven Kapitals), worüber sie jedoch wenig Auskunft geben. So kann getan werden, als ob Krisen bloß behebbare Störungen eines sonst funktionierenden Systems seien. Bei Katastrophen verhält es sich ebenso. Eine Überschwemmung oder ein Waldbrand sind Katastrophen. Wenn sie eintreten, gibt es für Ursachenforschung keine Zeit, Rettungsmaßnahmen kommen vor – doch sobald die Schäden behoben worden sind, kehrt der Alltag wie gehabt zurück. Von Krisen oder Katastrophen in Bezug auf globale, langfristige Prozesse zu sprechen, ist also bereits eine Verharmlosung nach dem wohlbekannten Prinzip: Krieg den Symptomen, Friede den Ursachen! Obwohl weniger beruhigend, sind Vokabeln wie Kollaps oder Untergang wiederum allzu deterministisch. In ihnen ist der Schluss der Geschichte bereits vorweggenommen, für alternative Pfade gibt es keinen Platz. Nur: Wenn das Schicksal besiegelt ist, fragt sich schon, wieso noch darüber nachdenken und schreiben, geschweige denn etwas dagegen tun? Andersherum nähren Begriffe wie das Anthropozän oder das »neue klimatische Regime« die Illusion eines Wandels zu einer festen, absturzsicheren Neuzeit. 

»Von einer selektiven Wahrnehmung des Desasters kann hier nicht die Rede sein: Die selektive Wahrnehmung ist Teil des Desasters.«

So viel Optimismus ist wiederum wirklich fehl am Platz. Alles in allem ist also keine dieser gängigen Charakter­i­sierungen der gegenwärtigen Situation wirklich brauchbar. Viel eher geben sie Auskunft über den subjektiven Zustand ihrer Benutzer. Ich für meinen Teil suche einen Begriff, der drei Affekte nicht ausschließt: das Entsetzen über das gigantische Scheitern einer ganzen Zivilisation, den Zorn angesichts der verheerenden Konsequenzen sowie die Bockigkeit, sich nicht damit abzufinden. Es fehlt in der deutschen Sprache ein genaues Äquivalent für das englische predicament, eine gefährliche, dauerhafte Lage, der man nur mit großen Schwierigkeiten entkommen kann. Nach reiflicher Überlegung werde ich vorläufig »das Desaster« schreiben. Nicht dass das Wort eindeutiger wäre (Des-aster bedeutet Unstern). Ganz im Gegenteil: Es ist für mein Anliegen unspezifisch genug. Zu oft wird nämlich das Desaster auf die Klimaerwärmung reduziert, als ob diese die Krankheit sei und nicht das Fieber, das auf die Krankheit hinweist. Gewiss verursacht das Fieber selbst furchtbare Schäden, die causa prima ist es jedoch nicht. Ebenso wenig das einzige Symptom. Glaubt man vielen Forschern, ist die Extinktion der Arten noch bedrohlicher als der Klimawandel. Nur kommt sie in den Nachrichten seltener vor, weil sie weniger wahrnehmbar ist, zumindest für Stadtbewohner, deren einzig verbliebener Bezug zur Natur das Wetter ist. Überdies lässt sich mit der Rettung bedrohter Tiere und Pnanzen im Gegensatz zur »Energiewende« kein Geld verdienen. Von einer selektiven Wahrnehmung des Desasters kann hier nicht die Rede sein: Die selektive Wahrnehmung ist Teil des Desasters. Darum ist mir die Ungenauigkeit des Wortes lieb. Es beschränkt sich nicht auf erkannte, lösbare Probleme, sondern schließt das Unfassbare ein. […]


Anders betrachtet – »Alle bisherige Philosophie, bis hin zu Adorno, geht von der Selbstverständlichkeit des Weiterbestands der Welt aus. Zum ersten Mal wissen wir von der Welt, in der wir leben, nicht, ob sie (weiter)bleiben wird. Nicht deutlicher konnte Günther Anders (1902–1992) zeigen, welch historische Zäsur Hiroshima markiert. Nicht nur die Zeitlosigkeit des Seins ist dahin, auch das beständige Werden stößt auf eine Grenze. Das Damoklesschwert hat gewaltige Auswirkungen auf Geist und Seele, die Anders als erster (und lange Zeit als einsamer) Denker untersuchte und eindrucksvoll beschrieb. Für Abiturienten der Greta-Thunberg-Oberschule sollten seine Schriften Pflichtlektüre sein! Bereits 1960 verkündet er: Nunmehr gibt es keine Zukunft, nur noch eine Frist. Die Frage ist nicht einmal, ob das Zeitenende kommen muss. Es kann kommen, und allein diese Drohung reicht, um die präsente Existenz aufzuwühlen. Wir sind, stellte Anders fest, die »erste Generation der letzten Menschen«. Nicht nur du Gattungsglied bist sterblich, sondern die Gattung selbst. Ein Intermezzo innerhalb eines Intermezzos bist du geworden. So unfassbar der Tod schon immer war, immerhin war »das Nichtsein im Raume des Seins« eingebettet. Andere lebten weiter, selbst nach den furchtbarsten Genoziden. Nun aber droht die totale Vernichtung, und damit ändert sich unser metaphysischer Status gewaltig. Angesichts des absoluten Nichtseins (freilich eine paradoxe Formulierung!) gehen alle Figuren des Absoluten verlustig. Gewiss sind seit Beginn der Aufklärung das Göttliche, das Natürliche, das Gute, das Schöne nach und nach in den Fluss der Zeit getränkt, also historisiert worden. Ob die Entabsolutierung eine unbewusste Vorsorgetherapie war? Viel geistige Energie wurde jedenfalls aufgewendet, um nachzuweisen, dass vermeintlich zeitlose Werte und Sitten in einer bestimmten Epoche zu einem bestimmten Zweck entstanden waren. Doch gerade die allgemeine geschichtliche Relativierung, meint Anders, hat die Geschichte zum letzten Absolutum erhoben. Nun wird mit dem drohenden Zeitenende die Geschichte selbst relativ. Wenn niemand mehr da ist, um sich an sie zu erinnern, ist es eben, als wenn sie niemals gewesen wäre. Wir müssen uns daran gewöhnen, so ein Leitmotiv Anders’, in der grammatischen Form des Futur II zu denken. Anstatt »es war einmal«: Es wird einmal eine Geschichte gewesen sein. So wird die Nostalgie vorweggenommen, wofür die Zukunft keine Gelegenheit mehr bieten wird. Plötzlich wird die Gegenwart mit einem seltsam tröstlichen, melancholischen Licht geflutet.


Der Sinn der Vorhersage ist ihre Widerlegung – Stalin wird der Satz nachgesagt: »Der Tod eines Einzelnen ist eine Tragödie, eine Million Tote sind eine Statistik.« Aber selbst wenn im letzten Fall die Trauer abstrakter ist, möglich ist sie noch. Hingegen ist Weltuntergang nur ein Wort. Da streikt das Vorstellungsvermögen komplett. Zu der Frage, warum die Menschen vor der Eventualität einer Auslöschung der Gattung so reagieren, als ob sie nicht betroffen seien, versteht Anders, dass die Propaganda nur eine untergeordnete Rolle spiele. Verantwortlich ist das im wahrsten Sinne unfassbare Ausmaß der Bedrohung selbst. Darum sei die primäre Aufgabe des Philosophen die Erweiterung der Vorstellungskraft. Weil Apokalypse die einzig verfügbare Referenz ist, muss erläutert werden, woran sich der heute erforderliche Apokalypse-Begriff vom tradierten religiösen unterscheidet. Erstens ist er keine Metapher mehr, sondern reale Wahrscheinlichkeit. Die Atombomben sind doch da. Zweitens geht es um »nackte Apokalypse«, will heißen: Nach ihr kommt kein Reich. Das Ereignis ist bar jeder Verheißung, ja nicht einmal einer nihilistisch suizidalen. Selbstmord heißt Freitod, doch in diesem Punkt fehlt einem die Möglichkeit der freien Wahl komplett. Darum ist bei Anders die apokalyptische Leidenschaft eine »prophylaktische«, sie zielt einzig und allein darauf, die reale Apokalypse zu unterbinden. Der wahre Prophet ist der falsche: Wird seine Mahnung von seinen Mitmenschen erhört, tritt das angekündigte Unheil nicht ein und er wird für einen Spinner gehalten. Gewiss ist es ein paradoxes Unterfangen, eine Vorhersage nur zu machen, um Unrecht zu bekommen. Das Als-ob-Verfahren setzt eine gewisse Theatralik voraus. In seiner Fabel »Die beweinte Zukunft« lässt Anders Noah sagen: »Die im Trug leben, die werde ich betrügen. Die verführt sind, noch einmal verführen. [...] Und die ängstlich sind, [sollen] noch ängstlicher gemacht werden, bis sie teilhaftig werden der Wahrheit. Durch Gaukelei werde ich sie erschrecken. Und durch Schrecken zur Einsicht bringen. Und durch Einsicht zum Handeln.« Das könnte für die Klimabewegung Programm sein. Ob die Strategie aufgeht, ist noch nicht erwiesen. Wohl aber, dass die anderen gescheitert sind.


Belebende Angst – Nun stellt sich die Frage, inwiefern Anders‘ Gedanken zur thermonuklearen Apokalypse (nennen wir sie Desaster A) auf Klimaerhitzung, Artensterben und Umweltzerstörung (Desaster B) übertragbar sind. Es fällt sofort auf, dass Desaster A ein extrem konzentriertes ist, wogegen Desaster B sich als extrem diffus erweist. Im ersten Fall steht die Ursache fest, sie ist lokalisierbar, wird bewusst beschlossen, und die Zahl der Verantwortlichen ist überschaubar. Nichts desgleichen gilt für Desaster B. Obschon es das finale Resultat unzähliger politischer und industrieller Entscheidungen ist, geplant wurde es nicht. Die Schuld teilen Abermillionen Entscheidungsträger, Mitläufer und Profiteure, mit enorm ungleichen Anteilen, sodass sich, anders als beim Atombombenabwurf, keine klare Opfer-Täter­-Grenze ziehen lässt. Ein weiterer Unterschied: Es wäre – rein theoretisch! – möglich, Desaster A ein für alle Mal zu beseitigen, wenn etwa auf Druck einer globalen Friedensbewegung ein allgemeines Verbot der Urananreicherung durchgesetzt würde. Hingegen wäre Desaster B selbst mit sofortigem Emissionsstopp und Giftstoffverbot nicht ganz aus der Welt geschafft. Eine Rückkehr zum Status quo ante wird es nicht geben. So kommen wir zur wichtigsten Differenz: Der finale Atomknall ist the Big One, ein sekundenschnelles, singuläres Ereignis, das alles Vorige abrupt unterbricht und kein Danach zulässt. Im Gegensatz dazu erleben wir mit dem laufenden anthropogenen Umweltdesaster eine lange, zerstreute, disparate Folge von Extremphänomenen, hüben eine Hitzewelle, drüben eine Überflutung, kein Einzelereignis also, sondern eine fortschreitende Erosion. Gewiss kann sich diese verstärken und beschleunigen, ganze Gebiete mögen unbewohnbar werden, ganze Zivilisationsbrocken sich plötzlich desintegrieren, umso unspektakulärer dann der Schlussstrich, wenn er kommt – not with a bang, but a whimper. Das Ende geht uns nicht an. Im Gegensatz zur thermonuklearen Apokalypse reicht es also nicht, die Frist zu verlängern, die Sorge richtet sich auf die Gestaltung der Frist selbst. Allerdings muss diese als solche anerkannt werden, und dafür bleibt Günther Anders verblüffend aktuell. Gegen alle blasierten Versager und einfältigen Zwangsoptimisten hallt sein Aufruf, »Mut zur Angst« zu haben, unter den jungen Aktivisten von Extinction Rebellion und Ende Gelände wider. Allerdings, so Anders weiter, muss diese Angst eine furchtlose sein (keine panische), eine liebende (keine egoistische) und eine belebende, die »uns statt in die Stubenecken hinein in die Straßen hinaus« treiben soll.


Diese Auszüge sind aus dem Buch »Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten« mit freundlicher Genehmigung von © Matthes & Seitz (2023) entnommen.

Weitere Beiträge