Walter Benjamin, gilt häufig als ein Denker politischer Dringlichkeit. »Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe« ist ein berühmt gewordenes Zitat aus der 1938/39 angelegten Notizensammlung »Zentralpark«, das das Gefühl in einer Situation zu treffen scheint, in der sich die Klimakatastrophe weltweit zuspitzt. Die Katastrophe sei »nicht das jeweils Bevorstehende[,] sondern das jeweils Gegebene« (GS I, 683). Und unter den Notizen zum wenig später geschriebenen »Über den Begriff der Geschichte« findet sich das obige Zitat mit dem eindrücklichen Bild von den Revolutionen als »Griff« des in einem Zug »reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse« (GS I, 1232). Dem Eindruck eines sofortigen Handlungsbedarfs, mit dem das Bild der Notbremse korrespondiert, scheinen die mühsamen Schritte gegenüberzustehen, wie sie in Deutschland von Fridays for Future im beharrlichen Dialog mit den Gewerkschaften seit 2019 gegangen werden (vgl. Autor*innenkollektiv Climate.Labour.Turn 2021). International sind Allianzen zwischen ökologischen Bewegungen und Gewerkschaften auch in Ländern entstanden, die vergleichsweise spät von den Folgen des Klimawandels betroffen sind: 2011 die Kampagne »One Million Climate Jobs« in Großbritannien und Südafrika (mittlerweile auch in Portugal, Norwegen, Kanada und Frankreich)[1] oder das New Yorker Bündnis ALIGN[2] in den USA.
Kann die Strategie des sukzessiven Aufbaus einer breiten ökosozialen Bewegung aber der Dringlichkeit gerecht werden, die mit dem metaphorischen Griff an die Notbremse so treffend beschrieben ist? Eindeutige Antworten lassen sich in Benjamins Texten nicht finden. So bleibt etwa die Verbindung des eindrücklichen Bilds der Notbremse zu einer Klassenpolitik in seinen »Thesen« ungeklärt. Die Kritik am Fortschrittsbegriff kann hingegen inspirierend sein für Lösungsansätze in einer ökologischen Krise. Für die politisch-strategische Frage nach möglichen Bündnissen lohnt es sich, zunächst Benjamins bisher kaum erforschtes Verhältnis zu sozialen Bewegungen in den Blick zu nehmen.

»Soziale Arbeit … die ängstliche Reaktion eines geistigen Lebens«


Dass Benjamin sich mit sozialen Bewegungen auseinandersetzte, ohne theoretische und politische Arbeit gegeneinander auszuspielen, ist aus der Perspektive seiner früheren Arbeiten nicht selbstverständlich. Als Student war er skeptisch gegenüber Politik und Parteien. »Im tiefsten Sinne ist Politik die Wahl des kleineren Übels. Niemals erscheint in ihr die Idee, stets die Partei« (GB I, 82), schrieb er 1913 an Ludwig Strauß. Benjamin wurde Berliner Vorsitzender der Freien Studentenschaft, in der eine Abgrenzung gegenüber politischen Parteien dominierte. Innerhalb des Verbands bezog Benjamin bildungsaristokratische Positionen. Er wandte sich gegen studentische Sozialarbeit, wie sie der sozialpolitische Flügel vertrat (vgl. Wipf 2004, 192; Palmier 2009, 196). Debatten im Verband und in der SPD über die schwierige finanzielle Situation von Studierenden, die ihr Studium nicht, wie Benjamin, mithilfe des elterlichen Vermögens finanzieren konnten und neben ihrem Studium, bei geringen Löhnen, arbeiten mussten, interessierten ihn ebenso wenig wie das fortbestehende Problem einer Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Bildungsinstitutionen in einer sich um 1914 zu 99 Prozent aus dem Adel sowie dem bildungsnahen Groß- und Kleinbürgertum zusammensetzenden Studierendenschaft (vgl. Kampe 1988, 58f).

Proletarischer Generalstreik – alles oder nichts


Angewidert vom nationalen Kriegstaumel zieht er sich während des Ersten Weltkriegs zurück. Mittels Kaffee und Schlafentzug täuscht er eine Nervenschwäche vor, entkommt so der Einberufung als Soldat und konzentriert sich auf seine Dissertation. In dieser Zeit beginnt sich Benjamin – etwa durch Ernst Bloch oder die Schriften Gustav Landauers – nach links zu politisieren. In seinem ersten größeren politischen Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« (1920/21, GS II, 179–203), vertritt Benjamin einen radikalen Anarchismus. Staat, Recht und Verfassung gehörten abgeschafft, denn allgemeine Wehrpflicht und Polizeigewalt bestimmten »schicksalhaft« über Tod und Leben von Menschen. Das bürgerliche Recht und seine Durchsetzung seien archaische Relikte und mythische Rituale, die geschichtliche Entwicklung ein fortgesetzter Mythos. Von einem solchen Mythos und einem »Kapitalismus als Religion« (GS VI, 100–103) hätten sich die Menschen noch nicht emanzipiert. Den Ausweg sieht Benjamin im Übergang in ein »Zeitalter« der Gerechtigkeit. Nicht ein den Staat und Recht nur befestigender politischer Generalstreik, sondern die »göttliche Gewalt« eines proletarischen Generalstreiks sollte es herbeiführen (GS II, 193–198, 202f). Was Benjamin nicht schreibt: Einen politischen Generalstreik der Gewerkschaften hat es kurz zuvor, im März 1920, als Reaktion auf den rechten Kapp-Putsch gegeben, der ein frühes Ende der Weimarer Republik verhinderte, da die Reichswehr nicht bereit gewesen war, die Republik gegen den Rechtsputsch zu verteidigen. Für Benjamin heißt es: alles oder gar nichts. Sozialpolitik und Verbesserungen von Arbeitsbedingungen weist er als »äußerliche[undefined] Konzessionen« zurück (GS II, 194). Wer aber den proletarischen Generalstreik und die »göttliche Gewalt« eigentlich ins Werk setzen solle und wie eine solche Streikkraft aufzubauen sei, das sind für ihn keine wichtigen Fragen.

»Links vom Möglichen überhaupt«


Zwischen 1926 und 1931 verändert sich seine Auffassung von Literaturkritik, sein Verhältnis zu sozialen Bewegungen und zur Öffentlichkeit. Noch 1928 schreibt Benjamin in der »Einbahnstraße«, »[d]as Publikum muß stets Unrecht erhalten und sich doch immer durch den Kritiker vertreten fühlen«. Der Kritiker solle »Schlagworte prägen«, »ohne die Ideen zu verraten« (GS IV, 109). Benjamins autoritäres Verhältnis zur Öffentlichkeit demokratisiert sich in den folgenden Jahren. Anlässlich der nicht zustande gekommenen Zeitschrift Krise und Kritik meint er 1931: »Kein Intellektueller darf heute aufs Katheder steigen und Anspruch erheben, sondern wir arbeiten unter der Kontrolle der Öffentlichkeit, führen nicht« (zit. nach Wizisla 2004, 142f). Er kritisiert nun einen »linken Radikalismus« bei Erich Kästner, Walter Mehring und Kurt Tucholsky, die sich zwar als links verstünden, aber den politischen Gegner unterschätzten und sich mit der Arbeiterbewegung nicht viel beschäftigten. Für Benjamin ist dies nun eine »Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht«. Ein solcher »Radikalismus«, so Benjamin in »Linke Melancholie«, stehe nicht »links von dieser oder jener Richtung, sondern ganz einfach links vom Möglichen überhaupt« (GS III, 280f).

»Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« (Walter Benjamin)

Die »Beziehungslosigkeit« linker Intellektueller »zur kollektiven Aktivität« hält Benjamin nach Beginn der Wirtschaftskrise 1929 in Überlegungen »Zur Literaturkritik« für ein Problem, das dem Aufstieg des Faschismus in Deutschland nütze (GS VI, 162). In »Der Autor als Produzent« (1934) entwickelt er das Programm‚ den Produktionsapparat zu beliefern und ihn zugleich »nach Maßgabe des Möglichen […] im Sinne des Sozialismus zu verändern« (GS II, 691f). Benjamin denkt an das epische Theater Brechts, in dem der »Funktionszusammenhang zwischen Bühne und Publikum, Text und Aufführung, Regisseur und Schauspieler« so verändert werde, dass der Zuschauer sich der Verhältnisse, in denen er lebt, bewusst werden könne. Nun ist ein Theater zwar ein Betrieb, oft basierend auf prekärer Arbeit, aber ein Betrieb ist kein Theater. Doch es könnte gefragt werden, ob solche Überlegungen, die auf eine breite Beteiligung, auf eine inklusive Politik abzielen, übertragbar sind auf aktuelle links-ökologische Forderungen und Aktionen. Gegebenenfalls könnten sie auch den in die Defensive geratenen Gewerkschaften helfen, der Erosion der Flächentarife und dem Rückgang des Organisationsgrads entgegenzusteuern und mit ihren Ressourcen offensiv in einer breiteren sozial-ökologischen Bewegung zu agieren.
 

»Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit«


Was aber hat Benjamin zum Verständnis der ökologischen Krise beizutragen? In der Aphorismensammlung »Einbahnstraße« (1928) beschreibt Benjamin das Technikverständnis der »Imperialisten«, das sich auf »Naturbeherrschung« reduziere, während die Menschen eigentlich nicht auf Kosten der Natur leben und arbeiten, sondern eine Technik entwickeln sollten, die ein ausgeglichenes Verhältnis von Natur und Mensch ermögliche (GS IV, 147). Später, bereits im Exil, führt er diesen Gedanken in der dritten Fassung des Aufsatzes »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« weiter. Der Erste Weltkrieg und die Kriegstechnik beweisen für ihn, dass die Gesellschaft nicht »reif« genug ist, ihre technischen Möglichkeiten so einzusetzen, dass sie nicht zum »Menschenopfer« führen. Die entfesselten Produktivkräfte wendeten sich so gegen den Menschen. Er schreibt über eine »zweite Technik«, die den Menschen so wenig wie möglich beanspruche und ein »Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit« ermögliche statt einer Beherrschung der Natur durch den Menschen. Benjamin denkt an »fernlenkbare Flugzeuge« (GS VII, 359).
Die Utopie ist von der Geschichte grausam eingeholt worden und Benjamin konnte sich von der Klimakatastrophe noch keinen Begriff machen. Der Treibhauseffekt wurde zwar 1824 entdeckt, die globale Erderwärmung aber erst in den 1950er Jahren nachgewiesen. Das Schmelzen des Polareises konnte daher für Benjamin in den »Thesen« noch einen »gesunden Sinn« haben (GS I, 699).

Notbremse und ökologische Klassenpolitik


Die Rezeption der Schrift »Über den Begriff der Geschichte« ist von einer Tendenz zur Enthistorisierung geprägt. Die Arbeit wurde als »geschichtsphilosophische Reflexionen« (Theodor W. Adorno), als historisch unbestimmte Überlegungen über Geschichte interpretiert und Benjamins Werk häufig aus der Perspektive dieser letzten Arbeit gedeutet. Benjamin schreibt sie aber als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg und kann bis zu seinem »Selbstmord«, nach physischer und psychischer Erschöpfung auf der Flucht vor den Nazis, im September 1940 an der spanisch-französischen Grenze den Eindruck haben, die faschistischen Armeen könnten diesen Krieg tatsächlich gewinnen. Der Faschismus an der Macht bedeutet für ihn eine Niederlage der deutschen Intelligenz und der Arbeiterbewegung als derjenigen sozialen Bewegung, die den Faschismus hätte verhindern können. Und so sind die »Thesen« das letzte Resultat seiner in den 1930er Jahren begonnenen Auswertung dieser Niederlagen. Insofern ist der Text zwar kein ökosozialistisches Manifest, er liefert aber Argumente im Kampf gegen einen im Krieg siegenden Faschismus. Doch Benjamins Kritik der Auffassung, dass die Natur, wie es in der elften These heißt, »gratis da ist« (GS I, 699), zeigt seine fortgesetzte Beschäftigung mit ökologischen Fragen.
Taugt das Bild vom Griff an die Notbremse also, wenn man es auf die Klimakatastrophe bezieht? Zwei Überlegungen zur Diskussion. Die erste betrifft »das Menschengeschlecht« im Zug. Das Bild ist etwas schief, denn es ist nicht die ganze Menschheit, die mit gleichem Komfort im metaphorischen Zug reist, sowohl was die Verursacher*innen, gar Profiteur*innen des Klimawandels betrifft als auch die unter seinen Folgen Leidenden. Die zweite bezieht sich auf die Geste des metaphorischen Griffs zur Notbremse. Sie ist einem patriarchalen Männlichkeitsdiskurs verhaftet. Es ist der Mann, der greift, oder gleich das ganze »Menschengeschlecht«. Der historische Materialist, so Benjamin, sei »Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« (GS I, 702), während die Arbeiterklasse im Text ihrerseits wie ein Mann auftritt und bündnispolitische Fragen keine Rolle spielen. Im Zusammengehen von Gewerkschaften, sozialen und ökologischen Bewegungsorganisationen geht es jedoch um eine gemeinsame Suche nach denjenigen konkret-utopischen, möglichen und erreichbaren Forderungen, die auch eine grün-sozialliberale Regierung effektiv unter Druck setzen und einen linken Ausweg aus der Klimakrise mit einer sozialistischen Perspektive aufzeigen können. Verzichtet man umgekehrt auf solche Bündnisse, gibt man den gesellschaftlichen Einfluss auf und überlässt ihn anderen.

Ökologischer Fortschritt – aber für wen?


Mehr als 40 Prozent der FFF-Aktivist*innen sind der Auffassung, dass die Klimakrise innerhalb des Kapitalismus nicht lösbar ist (Karg/Laßhof 2022, 101). Benjamin würde ihnen sicher zustimmen. Seine Kritik am Begriff eines abstrakten Fortschritts seit dem Aufsatz »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker« von 1937 basiert darauf, dass dieser Fortschritt auf der Bahn einer rein technischen Entwicklung verläuft, die – wie Elektromotoren für SUVs – einer herrschenden Klasse dienen kann. »Mehr Fortschritt [zu] wagen« versprechen Grüne, FDP und SPD in ihrem so übertitelten Koalitionsvertrag. Sind sich die Regierungsparteien bei ökologischen Investitionen und der Schuldenbremse auch uneins, ihre Fortschrittsauffassung basiert auf dem Modell eines unternehmerischen »innovativen Kapitalismus«, der nur ökologisch modernisiert werden müsse. »Wir machen aus technologischem auch gesellschaftlichen Fortschritt« (SPD/Bündnis 90/Die Grünen/FDP 2021, 15). Die klimapolitischen Ziele der Ampelkoalition oder des im August 2022 verabschiedeten Inflation Reduction Act in den USA zeigen, dass sie der Dringlichkeit angesichts der Klimakatastrophe nicht gerecht werden können. Sie zeigen, dass die ökologische Krise zugleich eine politische Krise ist. Denn obwohl die technischen Möglichkeiten ausreichend entwickelt sind, der sich – je nach Klassen- und geografischer Lage – ungleich doch akut vollziehenden Katastrophe der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen vehement entgegenzutreten, sind selbst gemäßigt progressive Regierungen nicht in der Lage. Sie wollen oder können nicht genügend politischen Druck aufbauen, um sich der Profitlogik großer Unternehmen entgegenzusetzen, weil eine links-ökologische Bewegung zwar vorhanden, aber noch nicht breit und stark genug ist. Es ist eine politische Krise der kapitalistischen Gesellschaften, weil eine effektive und (international) solidarische Verwendung ökologischer Technologien nicht möglich ist, ohne Teile der Produktion der kapitalistischen Verwertung zu entziehen und sie öffentlich und demokratisch zu kontrollieren. Der Weg mühsam aufzubauender Allianzen, die Arbeit an der Verbreiterung und Vertiefung einer ökolinken Bewegung, er lässt sich auch in der Situation einer politischen Dringlichkeit nicht umgehen. Diese schwierige Arbeit bündnispolitischer Mühen braucht es, um im Bild zu bleiben, gerade angesichts eines rasenden Zugs.

1 www.globalclimatejobs.org
2 www.alignny.org

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