Wie stand es bisher um diese Frage der Verantwortung?
Will man den politischen Erdrutsch in Griechenland verstehen, dann ist es hilfreich, sich das »Standby-Arrangement« zwischen Griechenland und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) anzusehen, unter dem die sogenannte Troika – IWF, Europäische Zentralbank und EU-Kommission – dem Land Darlehen gewährt und als Gegenleistung eine Kombination aus Austeritätspolitik und Reformen verlangt hat. Es handelt sich um ein außergewöhnliches Dokument, im schlimmstmöglichen Sinne. Die Troika hat sich zwar als nüchtern und realistisch inszeniert, dabei aber einen ökonomischen Wunschtraum verfolgt. Und den Preis für die Illusionen der Elite hat die griechische Bevölkerung bezahlt.
In den ökonomischen Prognosen, die mit dem Standby-Arrangement einhergingen, wurde angenommen, Griechenland könne harsche Austeritätsmaßnahmen umsetzen, ohne dass dabei mit nennenswerten Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung zu rechnen sei. Griechenland befand sich zu dem Zeitpunkt, da das Abkommen geschlossen wurde, bereits in einer Rezession. In den Prognosen wurde aber von einem baldigen Ende dieses Abschwungs ausgegangen, also davon, dass die Wirtschaftsleistung 2011 nur geringfügig schrumpfen und sich Griechenland bis 2012 wieder auf dem Weg der Erholung befinden würde. Die Prognosen räumten zwar einen beträchtlichen Anstieg der Erwerbslosigkeit ein, von 9,4 Prozent im Jahr 2009 auf fast 15 Prozent im Jahr 2012. Für den Zeitraum danach wurde aber von einem recht raschen Rückgang der Erwerbslosigkeit ausgegangen.
Was tatsächlich geschehen ist, war ein wirtschaftlicher und menschlicher Albtraum. Weit davon entfernt, im Jahr 2011 zu enden, gewann die griechische Rezession noch an Schwung. Griechenland erreichte die Talsohle erst 2014, und bis dahin hatte es eine voll ausgewachsene Depression durchlaufen, im Zuge derer die Erwerbslosigkeit insgesamt auf 28 Prozent stieg, die Jugenderwerbslosigkeit auf beinahe 60 Prozent. Die mittlerweile in Gang gekommene wirtschaftliche Erholung macht sich zu diesem Zeitpunkt noch kaum bemerkbar; eine Rückkehr zum Lebensstandard der Vorkrisenzeit ist nicht absehbar.
Was ist schiefgelaufen? Ich bekomme recht häufig zu hören, Griechenland habe seine Zusagen nicht eingehalten und die versprochenen Ausgabenkürzungen nicht durchgeführt. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Tatsächlich hat Griechenland in den Bereichen der öffentlichen Dienstleistungen, der Beamtengehälter und der Sozialleistungen brutale Kürzungen vorgenommen. Dank wiederholter Schübe neuerlicher Austerität wurden die öffentlichen Ausgaben viel stärker gekürzt als ursprünglich vorgesehen; zurzeit liegen die öffentlichen Ausgaben etwa 20 Prozent niedriger als 2010.
Der griechische Schuldennotstand ist aber eher schlimmer geworden. Ein Grund dafür ist, dass der wirtschaftliche Absturz die Staatseinnahmen verringert hat. Die griechische Regierung besteuert zwar einen wesentlich höheren Anteil des Bruttosozialprodukts als früher, aber das Bruttosozialprodukt hat sich so rasch verkleinert, dass die steuerlichen Gesamteinnahmen gesunken sind. Hinzu kommt, dass der Absturz des Bruttosozialprodukts zur Folge gehabt hat, dass ein wesentlicher fiskalpolitischer Gradmesser, nämlich das Verhältnis der Schulden zum Bruttosozialprodukt, beständig angestiegen ist, obwohl sich der Anstieg der Schulden verlangsamt hat und Griechenland 2012 in den Genuss eines bescheidenen Schuldenschnitts gekommen ist.
Woher rührt der überzogene Optimismus der ursprünglichen Prognosen? Wie gesagt: daher, dass die angeblich nüchternen Troika-Funktionäre tatsächlich ein ökonomisches Hirngespinst vor Augen hatten. Sowohl die EU-Kommission als auch die Europäische Zentralbank haben ein Märchen geglaubt: dass nämlich die unmittelbar Arbeitsplätze vernichtende Wirkung der Ausgabenkürzungen mehr als wettgemacht würde durch die gesteigerte Zuversicht im Privatsektor. Der IWF war vorsichtiger, aber auch er hat den Schaden, den die Austerität anrichten sollte, gehörig unterschätzt.
Und die Krux der Sache: Wenn die Troika wirklich realistisch gewesen wäre, hätte sie eingestanden, dass sie das Unmögliche verlangt. Zwei Jahre nach Beginn des Austeritätsprogramms für Griechenland suchte der IWF nach historischen Beispielen für den Erfolg ähnlicher Programme, also der Abzahlung von Schulden mittels Austerität, ohne größere Schuldenschnitte oder Inflation. Es waren keine zu finden.
Nun, da Herr Tsipras die Wahlen gewonnen hat, und zwar mit Abstand, wären die EU-Funktionäre also gut beraten, sich die Ermahnungen, er möge sich doch verantwortungsvoll benehmen und an ihr Programm halten, zu verkneifen. Tatsache ist, dass sie über keinerlei Glaubwürdigkeit mehr verfügen: Das Programm, das sie Griechenland verordnet haben, war nie sinnvoll. Es konnte überhaupt nicht funktionieren.
Wenn etwas an Syrizas Vorhaben problematisch ist, dann dass sie nicht radikal genug sind. Ein Schuldenschnitt und eine Lockerung der Austerität würden zwar das wirtschaftliche Leid lindern, doch es ist fraglich, ob sie ausreichen, um einen starken Aufschwung herbeizuführen. Andererseits ist nicht erkennbar, wie eine griechische Regierung mehr leisten könnte, ohne willens zu sein, aus der Eurozone auszutreten, wozu die griechische Bevölkerung nicht bereit ist.
Indem er nach einer größeren Veränderung verlangt, beweist Herr Tsipras nichtsdestotrotz größeren Realismus als jene Funktionäre, die die Züchtigung fortsetzen wollen, bis sich die Stimmung bessert. Das übrige Europa sollte ihm eine Chance geben, den Albtraum, den sein Land durchlebt, zu beenden.
Alle Rechte New York Times. Aus dem Englischen von Max Henninger
Zurück zum
GRIECHENLAND-SPECIAL