Seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2022 haben sich die Kräfteverhältnisse im linken Lager Frankreichs endgültig verschoben. Mit dem Aufstieg der parteiförmigen Bewegung La France insoumise (FI; »unbeugsames Frankreich«) zur stimmenstärksten linken Formation wurde die langjährige Dominanz traditioneller linker Mitgliederparteien vorerst beendet. Der Erfolg von FI hängt unmittelbar mit der Person Jean-Luc Mélenchons zusammen, der seit bald drei Jahrzehnten eine der prägendsten politischen Figuren der französischen Linken ist. Er beruht aber auch auf dem Vertrauensverlust gegenüber den übrigen, einst großen Linksparteien, deren langjährige Regierungsphasen die sozialen und wirtschaftlichen Krisen im Land nicht zu lösen vermochten. FI bekannte sich daher lange Zeit dazu, eine »populistische« Bewegung zu sein, die laute Elitenkritik übte.

Lateinamerika als Vorbild – FI will die Bürgerrevolution

Die Strategie von La France insoumise, die aus parteienrechtlichen Gründen inzwischen formal eine Partei ist, besteht seit ihren Anfängen darin, die gesellschaftliche Basis zu remobilisieren. Dabei gestaltete sich die Ausgangslage schwierig: Die Deindustrialisierung Frankreichs bewirkte eine stark geschrumpfte Industriearbeiterschaft und ab den 1980er-Jahren eine Krise ihrer kulturellen Lebenswelten, die eng mit den traditionellen linken Parteien, insbesondere der Kommunistischen Partei (PCF), verbunden waren. Insbesondere auf lokaler Ebene, wo linke politische Organisationen über Jahrzehnte eine dezidiert linke Politik betrieben hatten, wurden parteipolitische Linien und Orientierungspunkte für die Menschen immer unschärfer (Braconnier 2022). Und auch auf nationaler Ebene ist ein deutlicher Hang zum tagespolitischen Opportunismus erkennbar, wie zuletzt das Überlaufen zahlreicher Funktionär*innen der Sozialdemokratie zum »Macronismus« vor den Wahlen 2017 gezeigt hat (Treille 2019).

All dies führte gerade in den Unterklassen zu einer starken »Depolitisierung«. In dieser Konstellation, in der die scheinbar sicher geglaubten politischen Kategorien »rechts« und »links« immer mehr ins Wanken gerieten, suchten Mélenchon und sein engster Kreis neue Anknüpfungspunkte. Sie fanden sie in den sozialen Bewegungen Lateinamerikas, die in den frühen 2000er-Jahren progressive Mitte-links-Regierungen an die Macht gebracht hatten. Diesen Wandel interpretierte man im Mélenchon-Umfeld nicht nur als Erfolg »von unten«, gegen das Establishment, sondern deutete auch die souveränistische Dimension in Lateinamerika als wichtigen Faktor für ein erfolgreiches gegenhegemoniales Projekt. Ein Projekt, das die neoliberalen Eliten herausfordern und sich – in Form von La France insoumise – zur stärksten linken Kraft entwickeln könnte (Cervera-Marzal 2021, 13f).

Die Erfolge von Podemos in Spanien stärkten die Pläne für eine derartige programmatische Ausrichtung. Nach Mélenchons Auffassung hat der Neoliberalismus Strukturen der alten Arbeiter*innenbewegung zerstört. Das Zentrum der (politischen) Gesellschaft habe sich aus den Fabriken in die urbanen Räume verschoben. Die dortigen Kämpfe müssten genutzt werden, um die heterogenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus wieder zusammenzuführen (ebd., 28).

La France insoumise will ein breites gesellschaftliches Bündnis schaffen. Ursprünglich knüpfte man mit einer scharfen moralischen Kritik am Finanzmarktkapitalismus und dessen Bedrohung des »Allgemeinwohls« und der »Volkssouveränität« zwar eher an die Tradition des Jakobinismus an. Klassische Symbole der Linken – die rote Fahne und die »Internationale« – wurden daher aus den politischen Veranstaltungen verbannt und durch die französische Nationalflagge und -hymne ersetzt. Beides waren während des 19. Jahrhunderts Symbole der von den Eliten bekämpften französischen Liberalen und Linken gewesen. Heute werden die sozialen und ökonomischen Forderungen der Unterklassen argumentativ eng mit der Forderung nach einer Rückkehr des intervenierenden Nationalstaats verbunden (ebd., 17).

Seit Mélenchons erster Wahlkampagne 2017 ist FI darauf bedacht, möglichst breit in die Zivilgesellschaft hineinzuwirken. Mit gewissem Erfolg, wie die beiden Wahlprogramme von 2017 und 2022 nahelegen. Diese folgen nicht dem innerhalb der Linken üblichen Versuch, Strömungen auszutarieren und Konsens nach innen zu erzielen. Vielmehr gelang es, parteifreie Sympathisant*innen aus dem akademischen Umfeld zu gewinnen, die dabei halfen, sowohl inhaltlich als auch sprachlich kohärente Regierungsszenarien zu entwerfen. Gleichzeitig weigerte sich FI, sich der politischen Linken zuzuordnen. Dies geschah aber nicht, weil man sich ideologisch entfremdet hätte, sondern weil FI die etablierten Linksparteien als programmatisch entleert betrachtete und auf diese Weise die Repolitisierung alter linsksaffiner Millieus erreichen wollte.

Auf institutioneller Ebene fordert La France insoumise die Überwindung der »Fünften Republik«, die der Exekutive und dem Staatspräsidenten beinahe uneingeschränkte Handlungsbefugnisse gebe. Die zu schaffende »Sechste Republik« soll durch eine verfassunggebende Versammlung vorbereitet werden, deren Mitglieder keine politischen Ämter jeglicher Art innehaben dürfen. Zwar stellt FI das Amt des Staatspräsidenten nicht grundsätzlich infrage, sieht ihn aber eher als repräsentative Figur, während eine parlamentarisch legitimierte Regierung den politischen Kurs des Landes festlegen soll. Zudem sollen die Hürden für Volksabstimmungen gesenkt werden (Mélenchon 2022).

Diese Forderungen scheinen aus bundesdeutscher Perspektive nicht sonderlich revolutionär. Man muss aber bedenken, wie groß das Misstrauen der französischen Öffentlichkeit gegenüber den politischen Akteur*innen geworden ist und wie groß das Bedürfnis nach einer demokratischen Revision der aktuellen Verfassung. So war für die lange Zeit äußerst populäre »Gelbwesten-Bewegung« die Stärkung der Bürgerbeteiligung ein zentrales Anliegen. Die »Gelbwesten« betrachteten La France insoumise jedoch mit demselben Argwohn wie die übrigen etablierten Parteien, da sie ihre Strukturen als zentralistisch und hierarchisch empfanden. Ihr Ideal einer Demokratie von unten sah vielmehr vor, dass alle relevanten politischen Entscheidungen durch die Bürger*innen zumindest bestätigt werden müssen. Dennoch dürfte Mélenchon bei seiner Präsidentschaftskandidatur 2022 viele Stimmen aus den Reihen der »Gelbwesten« bekommen haben. Zwar wurden sie in den Vor- und Nachwahlumfragen nicht statistisch erfasst, doch weisen frühere Statistiken darauf hin, dass bereits 2017 viele spätere Aktivist*innen für Mélenchon gestimmt hatten (Guerra et al. 2019).

FI verjüngt sich und erreicht die linke Zivilgesellschaft

Die skizzierten programmatischen Leitlinien wurden seit der Gründung der Organisation immer wieder strategisch modifiziert. So war die Frage der »nationalen Souveränität« in den ersten Jahren dominierend. Unter dem Eindruck des Brexits und der deutschen Dominanz in der Europäischen Union plädierte das Führungspersonal von La France insoumise für einen strikten Unabhängigkeitskurs Frankreichs gegenüber der EU, aber auch der NATO. Letztere sei unmittelbar zu verlassen; für das Verhältnis zur Europäischen Union wurden Ausstiegsszenarien diskutiert, um sich im Falle eines Wahlsiegs aufgezwungenen austeritären Maßnahmen entziehen zu können. Gleichzeitig versuchte man auf diese Weise, moderate konservative Kreise anzusprechen.

Dennoch kam es im Vorfeld der Europawahlen 2019 zur Ausbootung der Vertreter*innen eines strikten »Patriotismus« innerhalb von FI. Die Forderungen des »nationalen Lagers« – strikte Assimilation und ein repressiver Umgang mit nicht-weißen französischen Bevölkerungsgruppen – stießen auf den Widerstand junger Aktivist*innen in den eigenen Reihen. Außerdem forderte letztere Fraktion, gesellschaftspolitische Fragen stärker auf die Agenda zu setzen (Mestre 2018).

Offener Rassismus und eine immer feindlichere Stimmung im politischen und journalistischen Mainstream gegenüber den verarmten Banlieues, in denen nicht-weiße, oft muslimisch geprägte Milieus inzwischen die Bevölkerungsmehrheit stellen, sind in Frankreich Alltag. Selbst in Teilen der Linken und bis in die Kommunistische Partei hinein (die weite Teile der Banlieues lange politisch dominiert hat) fremdelt man heute mit diesen Bevölkerungsgruppen. Zudem wird die alltäglich stattfindende Polizeigewalt, die im vergangenen Sommer zum heftigsten Aufstand seit 20 Jahren im ganzen Land führte, von ihnen kaum kritisiert (Rabaté 2021).

La France insoumise war die einzige politische Kraft, die in diesen Tagen nicht sofort die jungen Vorstadtbewohner*innen verurteilte, sondern stattdessen auf die gesellschaftlichen Ursachen verwies, die sich in Form von Erwerbs- und Perspektivlosigkeit zeigten und in Kleinkriminalität und Wut auf den französischen Staat und seine Institutionen ausdrückten (L'Insoumission 2023). Bereits vor den Wahlen von 2022 hatte Jean-Luc Mélenchon das neue Verhältnis von FI zur »postkolonialen« Realität Frankreichs definiert: Er forderte einerseits den »klassischen« französischen Laizismus ein, wie er seit 1905 durch die verfassungsmäßig geregelte Trennung von Staat und Kirche praktiziert wird. Es solle nicht die Religion als solche bekämpft werden, jedoch jegliche staatliche Förderung oder Unterstützung für religiöse Organisationen unterbleiben. Das persönliche Recht, den eigenen Glauben zu praktizieren, müsse unangetastet bleiben. Damit setzte sich Mélenchon von Diskursen ab, die insbesondere Muslim*innen jede Art von religiösem und kulturellem Bekenntnis im öffentlichen Raum zum Islam untersagen wollen. Zudem forderte er die »Abrüstung« der Polizeikräfte in den Vorstädten. Mélenchon erkannte damit an, dass Frankreich keine einheitlich weiße europäische Kulturnation ist, sondern durch äußere kulturelle und ethnische Einflüsse immer wieder neu geprägt wird (»créolisation«) (Mélenchon 2021).

Mit dieser Haltung gewann er in großem Stil an politischer Unterstützung auch in migrantischen Communitys. Deren wichtigste Vertreter*innen riefen zum ersten Mal direkt zur Wahl eines Kandidaten für die Präsidentschaftswahl auf. Selbst in den kommunistischen Hochburgen erreichte Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen 2022 auf diese Weise Stimmenanteile, die in einzelnen Wahlbüros die 80-Prozent-Marke überschritten. Auch bei den Parlamentswahlen im folgenden Juni siegten die FI-Kandidat*innen im Rahmen des Linksbündnisses NUPES (Nouvelle Union populaire écologique et sociale) in diesen Wahlkreisen mit deutlichem Vorsprung (Cautrès 2022).

Auch ökologische Fragen fanden Eingang in das FI-Wahlprogramm von 2022. La France insoumise skizzierte darin die Klimakrise als Sinnbild des profitorientierten Kapitalismus. An die Stelle großer Konzernstrukturen müssten kleine, regionale und bestenfalls genossenschaftliche Produktionsstrukturen treten.

FI hat sich über die Jahre zu einer Organisation entwickelt, die junge Aktivist*innen ebenso anzieht wie Menschen, die sich bereits in anderen linken Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen engagieren. Sämtliche relevante Protestbewegungen der letzten Jahre haben bei FI personelle Spuren hinterlassen. Eine formale FI-Mitgliedschaft ist nicht notwendig und die Aktionsfreiheit in den Basisgruppen groß – somit werden die Mechanismen von FI als wenig einengend und sehr handlungsorientiert wahrgenommen. Gleichzeitig kaschierte die Popularität Mélenchons gewisse Reibereien in den Basisgruppen: Politische Machtkämpfe, aber auch programmatische Dissonanzen führten nicht zwangsläufig zum vollständigen Rückzug von Aktivist*innen, da Ressentiments auf handelnde Personen vor Ort projiziert wurden und sich nicht negativ auf die Person Mélenchon auswirkten.

Die Spitze von La France insoumise ist gegenwärtig von langjährigen Weggefährt*innen Jean-Luc Mélenchons besetzt. In der Breite wird die Organisation durch Aktivist*innen der Klimabewegung und der Studierenden- und Schüler*innenbewegung ergänzt (Cervera-Marzal 2021, 36). Letztere wird insbesondere durch den populären, gerade erst 21-jährigen Louis Boyard repräsentiert, der letztes Jahr sogar in die Nationalversammlung gewählt wurde. Er wirkte als wichtiger Katalysator für die phasenweise starke Beteiligung von Schüler*innen an den Protesten gegen Macrons Rentenreform im Frühjahr 2023 (Dusseaulx 2023). Mélenchon seinerseits plädierte während der Proteste für eine dauerhafte politische Aktionseinheit von Gewerkschaften und politischen Parteien, um die dogmatische Trennung von gewerkschaftlicher und politischer Sphäre zu durchbrechen (Mélenchon 2023). Gleichzeitig sammelte FI Spenden für eine eigene Streikkasse. Die Gelder wurden an Belegschaften ausgezahlt, die sich intensiv an Streiks und Protestaktionen beteiligt hatten.

Auch NUPES, die das Wahlprogramm Mélenchons für die Präsidentschaftswahl 2022 ausarbeitete, war als breites überparteiliches Bündnis konzipiert. Ihre Gründung war zwar ohne Frage ein machtpolitischer Schachzug von FI, um die Stagnation infolge der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2017 aufzufangen. Denn FI hatte bei den Europawahlen 2019 sowie den Kommunal- und Regionalwahlen 2020 eher enttäuschend abgeschnitten (Girier-Timsit 2022). Doch die andauernde Populärität Mélenchons innerhalb des linken Lagers und der erklärte Wille, eine breite linke Zivilgesellschaft in Form eines »Parlaments« in die Wahlkampagne einzubinden, brachte FI politisch wieder in die Offensive. Der Unterschied zur Wahlkampagne 2017 bestand tatsächlich darin, dass FI nicht aggressiv versuchte, Akteur*innen zu öffentlichen Bekenntnissen und dauerhaftem Engagement in den eigenen Reihen zu zwingen, sondern auch punktuelle Mitarbeit ermöglichte.

Die Einbindung der, wenn national auch schwachen, anderen Linksparteien in ein Wahlbündnis für die Parlamentswahlen 2022 folgte dagegen einer anderen Logik. So war man sich in den Reihen von La France insoumise bewusst, dass unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts die Linke nur ohne gegenseitige Konkurrenzkandidaturen eine Chance hatte, überhaupt in die Stichwahlen einzuziehen. Damit ein auch programmatisch fundiertes Linksbündnis zustande kommen konnte, beharrte FI auch nicht mehr auf seiner Distanz zur EU. Somit steht die Mitgliedschaft in der EU nicht mehr gänzlich zur Debatte. Stattdessen plädiert man gemeinsam mit den anderen NUPES-Parteien dafür, neoliberale EU-Politiken schlicht nicht mehr umzusetzen. Somit sieht sich FI gegenwärtig wieder als Teil der politischen Linken und will breite progressive Bündnisse ermöglichen.

FI bleibt eine Bewegung ohne innerparteiliche Demokratie

Der Erfolg von La France insoumise bei den Wahlen 2017 und 2022 beruht zweifelsfrei auf der inneren Stabilität der Organisation, die breite Debatten innerhalb der Bewegung stets verhindert. Faktisch werden wichtige Entscheidungen »an der Spitze« getroffen, ohne dass die »Basis« große Mitsprachemöglichkeiten hätte. Das Nichtvorhandensein von gewählten Parteigremien oder Parteitagen soll FI einen »prickelnden« (gazeux), fluiden Charakter geben (Cervera-Marzal 2021, 37). Man fürchtet, dass formale Gremien Strömungen hervorrufen könnten, die die Organisation zerreißen würden. Zudem führten formale Parteimechanismen schnell zur Transformation in eine »normale« Linkspartei, die wiederum schnell an Attraktivität für Wähler*innen und Aktivist*innen verlieren könnte. Man befürchtet, FI könnte in zahlreiche (verfeindete) Gruppierungen zerfallen, die sich in endlosen Debatten aufrieben. Hier hat die FI-Spitze vor allem die Sozialistische Partei vor Augen, die seit ihrer Gründung in den 1970er-Jahren von Lagerdenken und Richtungsstreit geprägt ist. Aus den Reihen der FI gehörte ihr nicht nur Jean-Luc Mélenchon lange an.

Sämtliche Diskussionen über Strukturreformen werden von der Leitungsebene (der Jean-Luc Mélenchon offiziell nicht mehr angehört) zurückgewiesen. Dennoch haben interne Konflikte um dessen Nachfolge und damit die Frage, wer 2027 Präsidentschaftskandidat wird, bereits begonnen. Je nach persönlicher und politischer Nähe zu Mélenchon vertreten die Fraktionen unterschiedliche Standpunkte, die sich an Fragen der Bündnispolitik innerhalb der Linken festmachen lassen. So fordern jene, die sich von der Person Mélenchon absetzen wollen, einen internen Umbau von FI zur Partei und eine programmatische Abrüstung, um das Linksbündnis NUPES zu stärken (Dejean 2023).

Da die Basisgruppen nicht mehr als 15 Mitglieder haben dürfen und keine Delegiertenversammlungen stattfinden, sorgt die vertikale Kommunikation »von oben nach unten« dafür, dass sich die Basisgruppen kaum vernetzen. Gleichzeitig findet eine Institutionalisierung »von oben« statt – aufgrund des Wahlerfolgs bei den Parlamentswahlen stehen dafür Mittel aus der Parteienfinanzierung bereit. So ist als nächster Schritt geplant, flächendeckend Partei- und Abgeordnetenbüros zu eröffnen. Zudem ist inzwischen eine individuelle Mitgliedschaft möglich. Außerdem wird ein deutlicher Ausbau der Bildungsarbeit durch das Bildungsinstitut La Boétie angestrebt. Das Institut, dessen Co-Vorsitzender Jean-Luc Mélenchon ist, plant Qualifizierungsmaßnahmen für Aktivist*innen und will ein Diskussionsraum für linke Debatten sein. La France insoumise plant also eine langfristige gesellschaftliche Verankerung und will weiterhin offen für politische Aktivist*innen sein.

Die Erfolge der letzten beiden Jahre dürfen jedoch nicht über die Grenzen des »Modells FI« hinwegtäuschen. So gelingt es der Organisation – wie anderen europäischen linken Formationen – aktuell in erster Linie nur in urbanen Räumen zu punkten. Hier ist man nicht nur mit Kampagnen präsent (so gibt es seit einigen Jahren während der Sommerferien eine »Karawane«, die gezielt soziale Brennpunkte ansteuert, um den Kontakt mit den Menschen vor Ort zu suchen), sondern versucht die Bewohner*innen durch organisierte Proteste gegen konkrete Missstände, etwa die mangelnde Instandhaltung von Wohngebäuden, zu mobilisieren. Zwar werden so auch (migrantisch geprägte) Arbeiter*innen angesprochen. Dennoch ist die Mehrheit der Wähler*innen und Aktivist*innen überdurchschnittlich gebildet.

Im ländlichen Raum hat es FI dagegen schwer. Hier dominiert das »macronitische« Lager und Rassemblement National (RN). Insbesondere letztere Partei punktet hier mit der Angst vor »Überfremdung«, dem Verlust nationaler Selbstbestimmung und in der Folge Massenarbeitslosigkeit. FI steht in diesen Themenfeldern dem RN diametral gegenüber. Im ländlichen Raum ist FI aber bisher kaum präsent, weshalb hier verstärkt Partei- und Abgeordnetenbüros eröffnet werden sollen. Diese neuen Büros sollen als Anlaufpunkte für politische Aktionen und Bildungsveranstaltungen und als Keimzellen für die Erweiterung der Aktivist*innenbasis dienen. Kurzfristig werden aber die urbanen Hochburgen im Zentrum der politischen Arbeit stehen.

La France insoumise ist es zu verdanken, dass die französische Linke den letzten Wahlzyklus überlebt hat. Denn der Organisation ist es gelungen, in großem Maße Jungwähler*innen zu mobilisieren, die sich von der Linken traditionellerweise am meisten angesprochen fühlen, aufgrund der eigenen schwierigen wirtschaftlichen Perspektive aber nur schwer zur Stimmabgabe zu bewegen sind. Ebenso stoßen innerhalb der »nonkonformistischen« französischen Gesellschaft politische Strukturen, deren Organisationsformen eher locker und undefiniert bleiben, auf große Zustimmung. Oft wird die Kritik an mangelnder innerer Demokratie deshalb in der FI-Führungsebene laut und stammt nicht von der Basis. Dort bleibt die Vorstellung, dass FI eine Bewegung der Tat und nicht der Theorie sein sollte, sehr populär.

Doch die Stärkung der ideologischen Komponente durch die erstmals großflächige Förderung der politischen Bildung innerhalb von FI zeigt, dass die Bewegung den Weg in Richtung einer »modernen« Linkspartei gehen möchte. Denn eine lediglich »prickelnde« Bewegung, die in erster Linie mit der Empörung der Massen Politik macht und über keine klare programmatische Linie verfügt, wird mit dem Abflauen der Wut der Bürger*innen wieder in sich zusammenfallen. Die aktuellen Versuche von La France insoumise, sich konsequent als antikapitalistische Partei aufzustellen und durch die Ausbildung von jungen Kadern auch langfristig offensiv in den gesellschaftlichen und politischen Raum hinein zu wirken, könnten FIs Rolle als führende linke Kraft auf längere Zeit zementieren.