Weshalb? Vielleicht liegt das an der „rätselhaften russischen (sowie auch der tatarischen, baschkirischen usw.) Seele“?  Vielleicht aber auch daran, dass die Bürger Russlands „Asiaten“ sind und die Größe der allgemein-europäischen Werte nicht begreifen? Oder daran, dass wir, die Bürger der Russischen Föderation, uns bis jetzt noch nicht aus der „totalitären Gefangenschaft“ während der Zeit der Existenz der UdSSR befreit haben, die uns auch jetzt noch in der Russischen Föderation aufgezwungen wird? Oder liegt es daran, dass sich die Bürger Russlands nicht von jenen Bauernfängern des Westens gängeln lassen wollen, für die die Tatsache, dass ein Oligarch auf freien Fuß gesetzt wurde, ein großes Ereignis darstellt, während Repressalien gegenüber jenen, die Streiks organisieren, die für die Rechte von Lehrern und medizinischem Personal sowie für Bürgerrechte eintreten, keine Beachtung finden? Vielleicht haben wir uns auch einfach abgewöhnt, dem Mainstream der Kämpfer für „allgemeine zivilisatorische Werte“ Glauben zu schenken, nachdem wir 1990 auf all jene „Ratschläge“ gehört hatten, die unsere Reformern von der intellektuellen und politischen Elite des Westens erhalten hatte; denn dies hatte zu einer tiefen Krise geführt sowie dazu, dass die halbe Wirtschaft zusammenbrach und die meisten der einfachen Bürger in große Not gestürzt wurden. Hierbei gibt es jedoch ein „Aber“. Chodorkovskij wird von den meisten denkenden Bürgern Russlands durchaus nicht so eindeutig eingeschätzt wie andere Oligarchen und hohe Beamte, die fast jeder Bürger Russlands gern hinter Gittern sähe. Vielleicht ist das alles so, weil wir wissen, dass er nicht wegen Diebstahls ins Gefängnis gekommen ist, sondern… Weshalb dann? Erstaunlicherweise wurden diese Fragen bereits vor 7 Jahren in einem  Artikel von Ljudmila Bulavka in der russischen Zeitschrift „Alternativen“ unter derselben Überschrift beantwortet.[1] Dieser Text ist in keiner Weise veraltet und wird nachfolgend – mit einigen Ergänzungen von Aleksandr Buzgalin – veröffentlicht. Ein schönes Gesicht mit einem Ausdruck eleganter Ironie, beinahe ein La-Gioconda-Lächeln auf den Lippen, schaute uns über längere Zeit durch ein Gitter vom Bildschirm des Fernsehers an. Dies allein muss schon für Zuneigung, ja sogar für Mitgefühl sorgen. Doch…

Ein Oligarch. Doch er ist ungewöhnlich. Und deswegen kam er ins Gefängnis.

Im vergangenen Jahr war Michail Chodorkovskij zu einem der beliebtesten Objekte von Betrachtungen und Reflexionen einer leicht dissidierenden postsowjetischen Intelligenz geworden, nicht nur in Russland, sondern auch im Ausland, wo heute etwa genau so viele postsowjetische „Intellektuelle“ leben wie in der Heimat. Weshalb? Die meisten interessieren sich für die Frage, ob die Inhaftierung des Oligarchen gerecht war oder nicht und wer er eigentlich ist. Antworten gibt es (wie istets, wenn Intellektuelle diskutieren) bedeutend mehr als Diskussionsteilnehmer (die sich nicht nur gern gegenseitig zuhören, sondern es auch lieben, sich selbst reden zu hören). Uns ist nicht daran gelegen, noch eine weitere Meinung ins Spiel zu bringen, wer Chodorkovskij (als Persönlichkeit) ist, umso mehr, als wir kaum noch etwas dazu beitragen können, was über jene allgemeinen Betrachtungen hinausgeht, die von den Medien ständig wiederholt werden. Uns persönlich interessiert weniger, wer Chodorkovskij ist, als die Frage, wie er zu einem objektiven Phänomen werden konnte, das die Aufmerksamkeit der Staatsmacht, der Medien und der Intelligenz so stark auf sich ziehen konnte, – und das nicht nur in Russland. Was steckt also hinter dem Phänomen „Chodorkovskij“? Einleitend möchten wir sagen: Wir wollen versuchen, dieses Phänomen vom dialektischen Standpunkt aus zu erklären. Davon ausgehend stellen wir gleich zu Anfang die Behauptung auf, dass Chodorkovskij ein Spiegel der Widersprüche des oligarchischen Kapitalismus Russlands der „Jura-Periode“ ist (dieses Bild unseres System stammt von A. Buzgalin). Wie gesagt: Es handelt sich um die Widersprüche des oligarchischen Kapitalismus. Und darin liegt der Unterschied zu den meisten anderen Vertretern des Clans der Oligarchen, die diese Widersprüche schon darum nicht so deutlich zum Ausdruck bringen, weil sie selbst viel trivialer und ganz eindeutig – nur eine Funktion des Kapitals sind, nichts weiter. Chodorkovskij ist etwas anders geartet. Schon darum, weil er sich einige Abweichungen von den vorgegebenen Spielregeln erlaubt hat, welche heißen „Putinscher Kapitalismus“. Und deshalb wurde er zu einem lebendigen Symbol des Widerspruchs. Einerseits ist Chodorkovskij, und das ist offensichtlich, ein Oligarch. Und zwar ein aus Russland stammender Oligarch, und daher widerspiegelt er in vollem Maße die Spezifik dieses Systems. Deshalb trägt Chodorkovskij  den Stempel all jener Wirtschaftsverbrechen (und in diesen existiert immer auch eine moralische Komponente: sie bestand im wesentlichen in der zynisch-amoralischen Ausplünderung der Bürger Russlands und des Landes Russland), die die Oligarchen in Russland begingen und bei denen sie sich an dem bereicherten, was von den westlichen „Eliten“ angeratenen und von den Oligarchobürokraten Russlands verwirklicht wurde. Das waren:
  • die Liberalisierung und die Hyperinflation, die dazu führen mussten, dass 90% der Bürger ihre Spareinlagen und die entwerteten Einkünfte verloren (es sei unterstrichenen: dass sie infolge von Natur und Logik dieser „Reformen“ dazu führen mussten);
  • die Privatisierung (d.h. verbilligter Aufkauf bzw. Aneignung des durch die Arbeit vieler Generationen von Bürgern Russlands geschaffenen Reichtums – halb umsonst);
  • die Finanzstabilisierung (d.h. die über viele Jahre andauernden spekulativen Schwindelgeschäfte von Financiers und Staatsbeamten mit dem Volk mit Hilfe von Voucher, Staatsanleihen usw.)
  • die institutionelle Instabilität und das Vorherrschen informeller Regelungen (d.h. krimineller und bürokratischer Willkür im Lebensstil „mit ausgeklügelten Formulierungen“ usw. Z.B. wenn jemand widersprach,  wurde gesagt: Das haben alle gemacht! Darüber lässt sich schwer streiten – bedeutete: Das haben praktisch alle Oligarchen und ihre kleineren Geschäftskumpanen auf diese Weise gemacht. Im postsowjetischen Russland hatte ein Mensch, der einige Fähigkeiten aufzuweisen hatte, auf den ersten Blick nur die eine Wahl: entweder mit den Wölfen nach deren Gesetzen leben, oder sich damit abzufinden, dass er von ihnen gefressen wird.
In Wirklichkeit war damals aber auch ein dritter Weg vorhanden (und diesen gab es immer); er war mit einer kreativen Alternative verknüpft. Dazu musste man aber gegen den Strom schwimmen. Mit einem Wort, man musste Nonkonformist sein. Je schärfer und dramatischer die gesellschaftlichen Widersprüche waren, desto stärker und talentierter musste man sein. (Es sei darauf hingewiesen, dass die Praxis alternativer sozialer Bewegungen in unserem Lande schon während der Periode der „Reformen“ nicht wenige hervorragende Persönlichkeiten hervorgebracht hatte, die weder ein Wolf sein wollten noch das arme kleine Schaf, das vom Großen Geld oder vom Prestige eines hohen Status aufgefressen werden konnte.) Doch Chodorkovskij gehörte nicht zu diesen. Er wählte den Weg eines Oligarchen, also eines Konformisten, und zwar eines starken, zynischen und amoralischen. Denn jeder Oligarch in Russland – man kann sagen, was man will – war und bleibt kriminell und amoralisch, und zwar insofern, als er sich erstens (absichtlich) an den grenzenlosen Spekulationen der Periode der Hyperinflation und der Privatisierung des gesellschaftlichen Eigentums, der Korruption und der kriminellen Willkür bereichert hat, und, zweitens, als er das Geld, das er auf diese Weise „erworben“ hat, zur eigenen Bereicherung verwendet hat und nicht für soziale und kulturelle Investitionen. Vom Standpunkt des Marxismus ist, nebenbei bemerkt, jegliches Kapital amoralisch, denn es beruht auf Aneignung unbezahlter Lohnarbeit. Als Oligarch kam Chodorkovskij wegen krimineller Verbrechen ins Gefängnis. Diese hatte er wirklich begangen. Hier geht es aber nicht um die Frage, warum man Chodorkovskij eingesperrt hat, sondern warum nur ihn, denn analoge Verbrechen wurden in Russland in bestimmtem Maße wohl fast  von jedem begangen, der Kapital machte. Die Antwort liegt zum Teil auf der Hand: Der „Zar“ hatte beschlossen, den „Bojaren“ zu zeigen, dass er genügend Macht besaß, jeden Beliebigen von ihnen zu maßregeln. Und in diesem Sinne konnte jeder beliebige Oligarch exemplarisch bestraft werden. Aber es war Chodorkovskij, der ins Gefängnis kam. Weshalb? Um diese Frage zu beantworten, muss ein anderes Merkmal des Phänomens „Chodorkovskij“ analysiert werden. Eine solche andere Seite dieses Phänomens ist eine gewisse Besonderheit jener Tätigkeit, die auszuüben sich der Oligarch gestattet hatte. Auf den ersten Blick unterschied sich Chodorkovskij nur in Kleinigkeiten: Etwas öfter als üblich beschäftigte er sich mit Wohltätigkeit. Aktiver als andere schrieb er in der Presse (nebenbei bemerkt, vorwiegend in „seriöser“); etwas atypisch akzentuierte er den sozial orientierten Kurs der Reformen. All dies war partikular, das waren Kleinigkeiten bei derartigen Dingen. Dahinter verbarg und verbirgt sich aber ein anderer Typ des Kapitals (als jener, der von den gegenwärtig Regierenden gefordert wird) und dementsprechend eine andere politische Linie. Chodorkovskij war sowohl ein Inbegriff von Widersprüchen als auch eine Einheit, in der sich der Oligarch und zugleich ein (bis zu einem gewissen Grade) sozial verantwortungsbewusster Geschäftsmann widerspiegelten. Er offenbarte die Erkenntnis, dass für ein strategisch orientiertes Kapital eine sozial stabile und sich aktiv entwickelnde soziale und geopolitische Basis notwendig ist, was seinerseits wiederum erforderlich macht: die Probleme der Armut zu lösen; den Appetit des Kapitals zu mäßigen; es zum Teilen zu zwingen; Demokratie zu sichern, um dem Interesse der Gesellschaft an einem stabilen Funktionieren der sozialen Institutionen zu entsprechen, usw. Ein derartiges Herangehen ist heute nicht nur objektiv möglich, sondern auch für das Großkapital Russlands, das auf die Entwicklung mit und in Russland orientiert ist, strategisch notwendig. Doch für die gegenwärtige wirtschafts-politische Macht Russlands ist dies äußerst gefährlich. Aus diesem Grunde wurde die Tätigkeit Chodorkovskijs von den Machtausübenden nicht nur als Absicht eines neuen politischen Debütanten betrachtet, eine eigene Partei zu gründen. (Diese Einschätzung war von ihrem Standpunkt aus durchaus richtig.) Nein, Die Machtausübenden glaubten, Chodorkovskij sei (gewollt oder nicht, das ist eine zweite Frage) im Bewusstsein der Gesellschaft zu einem Vertreter und Symbol eines sozial verantwortungsbewussten und strategisch orientierten Kapitals in Russland geworden. (Wenn vom Bewusstsein der Gesellschaft die Rede ist, so sei ergänzt, dass dies in Wirklichkeit nur ein sehr begrenzter Teil der Gesellschaft war, der kaum die Mehrheit jener Bürger Russlands umfasste, die mit ihren Einkünften nur mit Mühe über die Runden kamen: für diese war das Thema Chodorkovskij überhaupt nicht aktuell.) Dies allein aber war nach Ansicht der Machtausübenden schon ein gefährlicher Präzedenzfall. Und dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass Chodorkovskij nicht nur in Haft genommen, sondern auch Repressalien unterworfen wurde, was ihn in der gegenwärtigen Situation zu einem politischen Gefangenen machte. Dadurch wurde sein früher erlangter Rang eines Oligarchen jedoch in keiner Weise aufgehoben. Und auch weiterhin ist er durch seine Beteiligung an der Ausplünderung der Gesellschaft objektiv mit diesen Machtausübenden verbunden. Dass Chodorkovskij tatsächlich und aus politischen Gründen repressiert wurde, wird dadurch bewiesen, dass nur er allein verhaftet und verurteilt wurde und nicht die Dutzende von Oligarchen und die vielen Tausende weiterer „Geschäftsleute“, die gegen das Gesetz verstoßen hatten. Hier sei noch eine kurze Erläuterung eingefügt: Diejenigen, die heute in Russland an der Macht stehen, mögen vielleicht eine Strategie besitzen und ein Aufblühen Russlands im Auge haben, doch sie haben hierfür einen Kurs gewählt, der liberale Marktwirtschaft mit einer immer autoritärer werdenden, auf Stärkung der „vertikalen Macht“ orientierten Politik verbindet. (Beispiele dafür sind der neue Arbeitskodex, das Streben nach Monetisierung von Ermäßigungen, die Privatisierung und Kommerzialisierung der kommunalen Wohnungswirtschaft und des Bildungswesens.) Für das 21. Jahrhundert ist dieser Kurs strategisch ausweglos und gefährlich. Eine Alternative kann nach Meinung der Verfasser nur (als Minimalprogramm) ein sozial verantwortungsbewusstes Business sein, das im Dialog mit einem wirklich sozialen und daher demokratischen Staat an der Verwirklichung langfristiger Programme der Modernisierung des Landes zusammenwirkt. Diese Alternative wurde während der gesamten 15 Jahre der „Reformen“ in Russland von zahlreichen gesellschaftlichen Kräften vorgeschlagen; doch sobald dieser Kurs von ernst zu nehmenden Anhängern unterstützt wurde, hat man diese sofort rigoros zur Verantwortung gezogen. Besonders rigide geschah dies im Oktober 1993. Im Falle von Chodorkovskij waren die Regierenden zu der Meinung gelangt, dass sein sich vermehrendes Geld, wenn es bei einem sozial verantwortungsbewussten Kurs für wirkliche Bedürfnisse der Gesellschaft Anwendung finden würde, eine reale Gefahr für die gegenwärtige „Mannschaft“ der Beamten und Oligarchen werden würde; und darum haben sie sich entschlossen, diese Gefahr rechtzeitig abzuwenden. Das hat dazu geführt, dass die Regierenden einen „neuen Märtyrer“ kreierten. Doch alle Heiligen haben diesen Status erlangt, weil sie nicht nur Leiden erduldet haben, sondern weil sie im Namen von Ideen und Idealen auch gelitten haben. Welches aber sind die Leiden unseres „heiligen Michails“?  Und kann die Frage überhaupt so gestellt werden? Vielleicht sollte man sie lieber konkreter formulieren: Wer hat Nutzen von dem Märtyrertum des „heiligen Oligarchen“?

Das Phänomen „Chodorkovskij“: Cui prodest?

Das ist eine recht eigentümliche, aber durchaus erklärbare Inversion. Der Logik der objektiven Umstände nach müsste der Name Chodorkovskijs von den Vertretern des sozial verantwortungsbewussten und strategisch denkenden Busyness Russlands (deren Interessen er objektiv zum Ausdruck bringt) und auch von den gesellschaftlichen Organisationen, die für einen sozialen Kurs kämpfen (den realen Gewerkschaften usw.) eigentlich als Banner benutzt werden. Doch zum einen ist ein solches Business in Russland fast nicht vorhanden, und zum anderen würden derartige gesellschaftliche  Organisationen, auch wenn es ihrer nur wenige, aber aktive sind, keinem Oligarchen vertrauen, und damit täten sie recht. Wer hat Chodorkovskij dann aber gebraucht? Erstens wurde er vom westlichen Establishment gebraucht. Dafür gibt es einige Gründe, die bereits vielfach kommentiert wurden und die wir daher nur nennen möchten. Der wichtigste dieser Gründe ist: die Möglichkeit, dass Russland geschwächt würde, wenn im geopolitischen Wettbewerb eine Person hervorgehoben würde, die einerseits eine starke Alternative zu Putin darstellen und andererseits für den Westen (ihrer Meinung nach) nicht gefährlich sein würde. Wenn diese Karte gezogen worden wäre, hätte auf den Präsidenten Druck ausgeübt und im Ergebnis nicht geringe Vorteile erzielt werden können. Außerdem hätte es sein können, dass ein Teil der westlichen Geschäftsleute ehrlich um den Erhalt ihrer ersten Investitionen in Russland gebangt  hätten. Nebenbei bemerkt, dies wäre ein unnützer Schreck gewesen: Die Garantie der Eigentumsrechte in Russland war und wird auch künftig immer von politischer Loyalität abgeleitet, und die Angelegenheit Chodorkovskij  hätte dem weder etwas hinzugefügt noch entzogen. Und schließlich wäre die ehrliche Sorge einiger westlicher Politiker um die Wahrung der Menschenrechte – speziell in Russland – in diesem Falle als eine sehr gelegene Bemäntelung für die Lösung der ersten beiden Probleme ausgenutzt worden. Kann man diesen Oligarchen deshalb als „Feind des Volkes“ der neuen Epoche und als ausgemachten Antipatrioten betrachten? Wir würden dies verneinen. Und dabei handelt es sich nicht um unsere  Einstellung zum Westen: Auf jeden Fall sind wir der Ansicht, dass seine „Elite“ verantwortlich ist für die tiefen Widersprüche, für die globalen Probleme der Menschheit und jene Verbrechen, die diese „Elite“ verübt hat, und zwar nicht nur in den letzten beiden Jahrzehnten: Es ist schon längst an der Zeit, dass die ganze Welt ein „Schwarzbuch des Kapitalismus verfasst. Der Grund ist ein anderer: Man kann die Interessen Russlands und die Interessen der Putinschen „Mannschaft“ nicht gleichsetzen. Die Unterstützung von Seiten des Establishments des Westens würden wir nicht so sehr als ein Zeichen für gegen Russland gerichtete Absichten sehen, sondern eher als ein Zeichen antihumaner Absichten. Obgleich wir glauben, dass es für Russland ohne die Solidarität der demokratischen sozialen Bewegungen und Organisationen anderer Länder der Welt  schwierig ist, sich seiner eigenen Probleme bewusst zu werden und sie zu lösen. Die Geschichte unseres Vaterlandes zeigt, dass unser Land nur dann Anerkennung erwerben konnte, wenn es die Lösung seiner eigenen Probleme als internationale Probleme und die internationalen Probleme als seine eigenen auffasste. Doch im Fall Chodorkovskijs war die Situation anders: Er wird von Sozialliberalen und einigen naiv-ehrlichen Demokraten des Westens unterstützt, die das durchaus verständliche Ziel verfolgen, dass in Russland eine Macht geschaffen wird, die für sie ein Verbündeter ist. Das Paradoxon realer Geopolitik besteht darin, dass eine solche Macht (wenn sie überhaupt irgend wann einmal entsteht) kein bisschen prowestlicher sein würde als der gegenwärtige Kurs Putins, der den vom Establishments des Westens oktroyierten Normen des sterbenden – und den Völkern das Leben schwer machenden – „Washington Consensus“ entspricht. Die Geopolitik Putins und die Geopolitik der NATO sind im Wesentlichen gleich: Sie sind nichts Anderes als Konkurrenten bei der Realisierung ein und desselben Impulses – des Strebens nach imperialem Einfluss auf die Welt, um die Interessen des „eigenen“ transnationalen Kapitals voranzubringen. Das „Modell“ Chodorkovskijs ist genauso prowestlich und genauso „patriotisch“, wie das „Modell“ Putins. Der Unterschied zwischen ihnen liegt auf einer anderen Ebene als die Geopolitik: und zwar auf der Ebene einer mehr oder weniger starken Sozialisierung und Demokratisierung des Kurses des russischen Staates. Damit kommen wir zu dem zweiten Typ gesellschaftlicher Kräfte, für die Chodorkovskij mehr als nur unentbehrlich war. Chodorkovskij wurde zweitens von jenen politischen Parteien und führenden Kräften gebraucht, die Verfechter des sozial-liberalen Weges für Russland sind. Sie brauchen ihn aber hauptsächlich, um wenigstens am praktischen Beispiel eines einzeln genommenen Oligarchen nachzuweisen, dass ihre Behauptungen eine reale Perspektive haben, - keinesfalls aber brauchen sie ihn, um seinem Beispiel zu folgen. Die politische Praxis der „Demokraten“ der 1990-er Jahre in Russland hat dies in vollem Maße bestätigt. Und außerdem darf man auch nicht vergessen, dass die ethische Argumentation der von ihnen empfohlenen Programme für sie ewig eine „Achillesferse“ darstellt. Das muss hier wohl nicht kommentiert werden. Daher fahren wir fort. Drittens, und dies ist besonders interessant: Chodorkovskij wurde als Symbol eines Märtyrers der postsowetischen Intelligenz benötigt. Dieser Zusammenhang bedarf einer Erklärung, denn er ist von besonderer Bedeutung: Mit Dissidenz der Intelligenz haben in Russland viele gesellschaftliche Veränderungen politischer und wirtschaftlicher Natur begonnen; diese an sich schwache und labile „Zwischenschicht“ des gesprochenen und geschriebenen  Wortes ist bisweilen fähig, den im Innern des Soziums schlummernden Kräften Ausdruck zu verleihen.

Chodorkovskij als Alter Ego der postsowjetischen „Elite“ der Intelligenz

Warum waren die postsowjetischen Intellektuellen von Chodorkovskij so eingenommen? Vielleicht nur wegen seines Märtyrertums? Dann stellen wir die Frage anders: Wäre Chodorkovskij für diese Intellektuellen von Interesse gewesen, wenn er z.B. als Vorsitzender einer oppositionellen Gewerkschaft Leid hätte erdulden müssen? Im Russland der Reformen gab es nicht wenige, die davon betroffen waren. Aber wer aus der Intelligenz weiß das schon, und wer würde dann wohl für ihn eintreten? Chodorkovskij ist ein gewisses Alter Ego der postsowjetischen „Elite“-Intelligenz.   Ich glaube, die Ursache dafür, dass die Intelligenz eine besondere Einstellung zu Chodorkovskij eingenommen hat, liegt vor allem an seinem Geld. Das viele Geld. Die meisten Intellektuellen sind gar nicht in der Lage, zu Geld zu gelangen. Der Prozess des Geldmachens ist ihnen fremd. Nicht, weil sie dies aus ethischen Gründen verabscheuen, sondern weil dies mit besonderen Anstrengungen verbunden ist, – und heute auch noch mit einem Risiko für Leib und Leben.  Und trotzdem wird das Ganz Großen Geld (unterschwellig, unbewusst) von der heutigen Intelligenz (natürlich nicht von der  gesamten) geschätzt. Das gilt auch in Bezug auf die Sehr Starke Macht: Die Intelligenz fürchtet sie, sie ist ihr zuwider, doch sie liebedienert vor ihr und erwartet unterschwellig von ihr Gunstbeweise. Dieser Respekt der Intelligenz vor dem Ganz Großen Geld, der bisweilen zu aufrichtigem Gefühl wurde, beruht unserer Meinung in erster Linie darauf, dass das Verhalten Chodorkovskijs in bestimmtem Maße dem Ideal der russischen Intelligenz entspricht, die ja aus der sowjetischen Kultur hervorgegangen ist, und schon lange nach einem Leitbild, einem eigenen Leitbild, suchte. Das sollte ein Leitbild mit klarer gesellschaftlicher Stellung sein, mit Bildung und Bereitschaft zu aktivem Handeln; und es sollte einen Menschen verkörpern, der sein Leben vornehmlich für die gesellschaftlichen Interessen einsetzt und nicht nur für die eigenen, privaten. Ein solcher Mensch hätte bei der postsowjetischen Intelligenz keine Anerkennung gefunden und nur verhohlenes Missfallen ausgelöst, – je unterschwelliger, desto stärker. Und das ist auch verständlich: Ein solches Leitbild wäre für jeden einzelnen von ihnen ein lebender Vorwurf, weil man um den Preis des eigenen Lebens ein ganz anderes Prinzip hätte vertreten müssen: Nämlich, es für möglich zu erachten, sich „bei einer Tasse Tee“ gut zu unterhalten, einen Artikel zu unterzeichnen – und zugleich etwas zu tun, um dieses Leben zum Besseren zu verändern. Davor haben Intellektuelle bei uns jedoch große Angst; sie möchte ihre Tatenlosigkeit vor sich selbst rechtfertigen, und zwar als einzig mögliche wirklich moralische und geistig anspruchsvolle Art zu leben. Ihrer Meinung nach ist Chodorkovskij ein Intellektueller wie sie, d.h., er ist eine Person, die in gesellschaftlicher Hinsicht insgesamt nichts Besonderes geleistet hat und aus diesem Grunde 1. bei Intellektuellen keinen Anfechtungen ausgesetzt ist (er ist ja schließlich kein Černyševskij!), hat aber das Große Geld gemacht, und daher verdient er 2. Achtung; da er jedoch ins Gefängnis geriet, ist er 3. nicht zu beneiden. Und warum sollte man ihn denn auch nicht bedauern, diesen gemäßigten. sozialen, demokratischen und dazu noch sehr reichen (und nicht sehr kriminellen?) Menschen, der außerdem seinem Lebensstil nach ein Nahestehender und auch noch (es sei wiederholt: vom Standpunkt der Mehrheit der Intelligenz) ein unschuldig Geschädigter! Mehr noch, man sollte ihn doppelt bedauern, schon weil er ein Oliga-a-a-rch ist(!) und im Gefängnis sitzt, –  ich aber, der ich nicht so reich bin, genieße die Freiheit und lebe schon deswegen besser (NB!) als der Milliardär! Das ist es, weshalb Chodorkovskij den heimlichen Traum der postsowjetischen Intelligenz erfüllte: in einer äußerlich widerspruchsvollen Symbiose von hoher Moral eines schuldlosen Opfers (die Opferbereitschaft war ihm ja schon ins Gesicht geschrieben – Moral als Hauptkriterium) und dem Ganz Großen Geld eines Oligarchen. Und dies ist kein zufälliger Traum: Jeder kleinbürgerliche Intellektuelle (der es nicht bis zu einer wirklich bürgerlichen, d.h. einer sozial verantwortungsbewussten Position geschafft hat), der das private Prinzip für das allgemeine hält, glaubt weder an sich selbst noch an die Gesellschaft und sucht daher an einer Kraft Halt zu finden, die im Moment gerade tonangebend ist, das heißt an Macht und Geld. Und dabei stört diesen kleinbürgerlichen Intellektuellen keineswegs der schlechte Geruch, der von diesen ausgeht (sie meinen, es stimme ja nicht, dass Geld blähe und dass Geld und Macht Geruch anhafte; dabei ist dies in Russland nicht nur Geruch, sondern Gestank). Und hier ist gar einer gekommen, der gezeigt hat, dass dieser Traum in Erfüllung gehen kann; etwas Besseres kann es ja gar nicht geben… Und weiter: und wenn diese Intellektuellen Chodorkovskij wirklich unterstützen, so erfordert das von ihnen keinerlei Aktionen, und sie haben dadurch auch nichts zu befürchten, zugleich aber vermittelt ihnen dies das  Gefühl eigener Mitwirkung an einer öffentlichen Dramaturgie und einer wirklich demokratischen Opposition. Es ist also so, dass die Staatsmacht, indem sie der Verhaftung Chodorkovskijs den Anschein einer gesetzlichen Bestrafung für ein Wirtschaftsvergehen verlieh, in Wirklichkeit ein anderes Problem löste. Dieses war damit verknüpft, alle selbständigen Intentionen hinsichtlich sozialer Politik zu unterdrücken, was Wirtschaftspolitik einschließt. Damit ist die Sache Chodokovskij im Wesentlichen eine politische Angelegenheit. Und die Intelligenz, die angeblich Chodorkovskij als politischen Dissidenten verteidigt, versucht in Wirklichkeit einerseits, der Staatsmacht ihre Aversion zu zeigen, und andererseits, die Idee des Großen Geldes mit einem gewissen moralischen Imperativ zu versöhnen, über den sie ihrer Überzeugung nach nicht nur verfügt, sondern der auch ihrer Ausnahmestellung in der Gesellschaft entspricht. Das Phänomen Chodorkovskij  selbst ist nicht nur ein legitimes „Kind“ des oligarchischen Kapitals von „YUKOS“, sondern zugleich auch dessen Voraussetzung. Wie bei Dostoevskij braucht man sich als alte Wucherin also nicht zu wundern, wenn über einem plötzlich das Beil Raskol’nikovs nieder geht.

In Russland gibt es wirkliche Kämpfer. Das ist aber nicht Chodorkovskij

Für die Verfasser dieser Zeilen ist das Phänomen Chodorkovskij interessanter als dessen eigentliche Person. Es ist durchaus möglich, dass die Dramaturgie des nachfolgenden Kampfes für Freiheit und Haft aus Chodorkovskij einen wirklichen Kämpfer für die sozialen Interessen der Bürger Russlands und für Demokratie macht (gemacht hat?). Wir wissen es nicht;  das Leben wird es zeigen. Auf alle Fälle sind wir zutiefst überzeugt (sowohl als Forscher als auch als Bürger), dass das oligarchische Kapital in seiner Genese und in seinem Wesen völlig antisozial und amoralisch sowie meist kriminell ist. Und aus diesem Grunde ist es, gelinde gesagt, nur ein gängiges Mythologem, wenn damit die künftige Entwicklung des Landes verknüpft wird. Die mythologische Herleitung der zunehmenden Popularität Chodorkovskijs ist eine allgemein symptomatische Erscheinung. Mythen im öffentlichen Leben, umso  mehr, wenn sie in der Politik Platz greifen, sind eine gefährliche und schädliche Erscheinung. Doch der Kampf dagegen darf sich nicht nur auf eine Abqualifizierung der Helden derartiger Mythen beschränken, - diese sind hier am wenigsten schuld. Das Problem liegt woanders: Der tatsächliche Inhalt jener Prozesse, die mythologische Formen annehmen, und das, was dahinter steckt, müssen begriffen werden. Und in diesem Zusammenhang wird die Frage der Entmythologisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins aktuell. Für uns persönlich sind ganz andere Formen einer Opposition bedeutsam und wichtig, - ganz andere Subjekte des Kampfes für die sozialen Rechte der Bürger unseres Landes (und nicht nur Russlands), und zwar solche, die den verwerflichen Charakter des oligarchischen Kapitalismus nicht legitimieren, sondern durch ihr Handeln die realen Alternativen seines schon historisch überwucherten Wesens „hervorkehren“. Und dies sind nicht nur Worte, dahinter stehen bereits reale, wenn auch der breiten Öffentlichkeit wenig bekannte Tatsachen der neuesten Geschichte Russlands. Mehr noch, dazu gibt es bereits nicht wenige wissenschaftliche Forschungen, Bücher und Artikel.[2] Wer sind diese neuen Subjekte, die eine Alternative zu dem doppelhäuptigen Hausherrn (Beamten und Oligarchen) des heutigen Russlands darstellen? Vielleicht die versoffenen Arbeiter, die nach der Privatisierung der Betriebe noch übrig geblieben sind? Doch derer, die lebendig zugrunde gehen  und die die Kinder, Mütter und Frauen mit in den tragischen Abgrund hinein reißen, gibt im Lande ohne Zahl. Und dies ist auch ein schrecklicher Preis für die Erfolge des sich in Russland herausbildenden oligarchischen Kapitalismus. Es gab und gibt aber auch andere Arbeiter, denen es gelungen ist, in kollektiver Gemeinschaft auf der Grundlage der Selbstorganisation ihren Betrieb zumindest noch eine Zeit lang vor dem Ruin zu bewahren. In diesen sind die symbolischen Charakterzüge des Heldenbilds des Proletariats als des Totengräbers der Bourgeoisie kaum zu finden, in ihren Gesichtern steht eher Müdigkeit und Abgehärmheit geschrieben. Ihre Augen bringen jedoch in der Tat etwas Anderes zum Ausdruck als die der „heiligen“ Oligarchen. Betriebsingenieure und „einfache Arbeiter“, junge Burschen und Vierzigjährige, Frauen mit Familie und Kindern, Einwohner von Hauptstädten und kleinen Kreiszentren, - sie alle haben etwas vollbracht, was verdient,  Heldentaten genannt zu werden. Tag für Tag gingen sie ein großes Risiko ein, um ihre eigenen Interessen und die Interessen ihrer Genossen zu schützen, die von großen und kleinen Bourgeois, vom Staat und von den Chodorkovskijs betrogen und bestohlen wurden. Ihr Ziel war es, dass die Produktion erhalten blieb, dass der Lohn pünktlich ausgezahlt wurde (bei Verzögerungen von bis zu 5 Monaten und länger) und dass die Mitarbeiter an den Leitungsprozessen teilnehmen konnten. Darüber hinaus waren sie es, die sich dafür einsetzten, dass in ihren Betrieben ein Mechanismus der bürgerlichen Demokratie in Gang kam und die Beziehungen zwischen Eigentümer, Verwaltung des Betriebes und Arbeitskollektiv geregelt wurden, wie dies z.B. im Kuznezker Metallwerk der Fall war. D.h., viel eher und produktiver taten sie das, worüber die Chodorkovskijs gerade erst nachzudenken begannen. Sie haben nicht weniger riskiert als die Oligarchen. In den Jahren, als Chodorkowskij ins Gefängnis kam, hat man sie gesetzeswidrig von der Arbeit entlassen und ihnen die Existenzmittel entzogen (im Dal’zavod“ in Vladivostok); hat man sie eingeschüchtert (in der Mehlfabrik in Ščušansk, im Leningrader Metallwerk, in Anžero-Sudžensk); wurden sie geschlagen und verhaftet (im Maschinenbaubetrieb in Jasnogorsk); schoss man auf sie (im Zellulose- und Papierkombinat in Vyborg). Und sie wurden nicht etwa deswegen Repressionen unterzogen, weil die keine Steuern bezahlt hatten, sondern weil sie die Arbeitsfähigkeit von Betrieben in Russland aufrecht erhalten und die Interessen der Werktätigen geschützt hatten, d.h. nicht – weil sie sich um den Schutz ihres eigenen Geldes gesorgt haben, sondern aus echtem gesellschaftlichem Interesse. Hier muss die Frage gestellt werden: Haben die Massenmedien Russlands hier ihre Stimme erhoben oder die Verteidiger der Menschenrechte des Westens oder vielleicht unsere das Märtyrertum so verehrende Intelligenz, um sich schützend vor all jene Menschen zu stellen, die dem Namen von Bürgern unseres Landes wirklich alle Ehre gemacht hatten? Im Gegenteil, man hatte – wie Zeitungsartikel und Filmmaterial beweisen - Angst vor ihnen bekommen. Als weitere alternative Subjekte einer sozialen Politik meldeten sich vor ungefähr einem Jahr Rentner und Jugendliche zu Wort; sie demonstrierten und protestierten gegen die Monetisierung von verdienten Vergünstigungen. Auch hier gab es Verhaftungen und Schläge. Wurden sie vielleicht von bekannten Anwälten und westlichen Massenmedien verteidigt? Zu jenen, die für gesellschaftliche Interessen eintreten, gehören auch alle, die für eine sozial orientierte Entwicklung, für den Schutz der Natur, für allgemein zugängliche Bildung, für eine friedliche Lösung geopolitischer Probleme eintreten sowie Teilnehmer gewerkschaftlicher und ökologischer, friedenstiftender und alterglobalistischer Organisationen und Bewegungen in der ganzen Welt: von den USA bis nach Indien, von der Europäischen Union bis nach Brasilien. Haben denn all diese Menschen (es sind viele Hunderttausende in der heutigen Welt) weniger öffentliche Aufmerksamkeit verdient als ein einzelner Oligarch in Russland, der wegen nicht bezahlter Schulden ins Gefängnis gekommen ist? Bei allen Widersprüchen und Fehlern dieser gesellschaftlichen Bewegungen sind sie ihrer Gesinnung nach von wahrer Sittlichkeit. Von ihnen geht kein schlechter Geldgeruch aus. Und wenn die Welt eine Perspektive hat, so ist sie mit diesen Menschen verknüpft und nicht mit Oligarchen und Beamten. Irgendwann hatte das Leben Chodorkovskij zum Oligarchen auserkoren. Jetzt hat der Oligarch die Wahl: Entweder zu erreichen, dass ihm die Staatsmacht verzeiht, oder ein „Märtyrer“ zu bleiben; bzw. er muss sich, so banal dies auch klingen mag, in der Kreativität einer gerechteren und humanen Welt wiederfinden. Zeit zum Nachdenken hat er ja. Um die Intellektuellen braucht man sich keine Sorgen zu machen, - die finden einen Anderen, wenn es kein Oligarch ist, so ist es ein Märtyrer.

PS.

Jetzt ist Chodorkovskij in Freiheit. Und für uns ist es an der Zeit, auf die Fragen zu antworten, die wir am Anfang dieses Artikels gestellt haben. Werden diese Antworten wesentlich anders ausfallen als in dem genannten ersten Artikel von vor 7 Jahren? Nein. Doch es ist wichtig, sie zu ergänzen. Die Situation im Lande heizt sich auf. In der Zeit, die Chodorkovskij im Gefängnis zugebracht hat, ist viel geschehen. Rechtsanwalt Stanislav Markelov, der die Rechte der Gewerkschaften, Migranten und Untersrückten verteidigt hat, wurde im Zentrum Moskaus zynisch erschossen. Er war kein Oligarch, und aus diesem Grund ist der Mord für das Establishment des Westens kaum von Interesse. Ja, selbst die Linken des Westens haben diesem Verbrechen keine besondere Aufmerksamkeit widmet. Wenn von den Opfern der Staatsmacht Russlands die Rede ist, wird wohl jeder Aktivist ausländischer sozialer Bewegungen und linker Parteien den Namen Chdorkovskij nennen und kaum einer wird an den Namen Markelov erinnern… Es gab auch Massenaktionen gegen die Monetisierung von Vergünstigungen (darüber ist im Westen nur wenig bzw. beiläufig geschrieben worden). Auf dem Bolotnaja-Platz und auf dem Sacharov-Prospekt in Moskau haben Demonstrationen und Kundgebungen stattgefunden (darüber hat sich das internationale Mainstream sehr lange erregt. – Und auf den Tribühnen standen seine Lieblinge, Nemcov und Co.). Es wurden viele Aktivisten der Linksfront und anderer oppositioneller Organisationen sozialistischer Orientierung verhaftet (dafür haben sich die ausländischen Verfechter der „Menschenrechte“ ebenfalls wenig interessiert; hier ist, nebenbei bemerkt, alles verständlich: die Rechte jener Menschen, die nichts Anderes besitzen als Erfahrungen und den Wunsch für soziale und Bürgerrechte zu kämpfen, sind für die westlichen Verfechter der Demokratie von bedeutend weniger Interesse als die Rechte von Milliardären…). Durch diese Zusammenhänge wird vieles – wenn nicht verändert, so doch korrigiert… Erstens: Im Lande hat sich die Abgrenzung zwischen den Großmachtverfechtern (die russischen Nationalisten sind eine Untergruppierung derselben) und den Westlern verstärkt. Wobei diese Wasserscheide die „horizontale“  Gegenüberstellung der Linken und der Rechten vertikal spaltet. Im Ergebnis reproduziert sich in unserem Land schon lange und stabil die Teilung einerseits in linke und rechte „Großmachtverfechter“. (Erstere sind vorwiegend „Patrioten“ aus der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation [KPRF/КПРФ] und die Zweiten sind verschiedene Apologeten eines Russländischen Imperiums; es ist symptomatisch, dass die einen wie die anderen immer öfter in Stalin ein Symbol der Größe Russlands sehen). Andererseits reproduziert sich stabil auch eine andere Teilung: in linke Internationalisten und rechte „Westler“. Erstere unterscheiden sich von Letzteren nicht nur durch eine sozialistische Orientierung. sondern auch durch Kritik des Establishments der Länder der „goldenen Milliarde“ (diese Kritik geht vom Standpunkt der internationalen Solidarität der linken Kräfte und der internationalen sozialen und demokratischen Alternative der kapitalistischen Globalisierung aus und nicht vom Standpunkt der Gegenüberstellung eines Russländischen Imperiums und eines „globalen Imperiums des Westens“). Diese mehrdimensionale Abgrenzung wirkt sich auch auf die Beziehung zu dem Phänomen „Chodorkovskij“ aus: Sowohl die rechten als auch die linken „Großmachtverfechter“ verhielten sich zu der Freilassung des Exoligarchen gleichgültig-negativ. Die „Westler“ sind geneigt, den „heiligen Michail“ zu heroisieren. Die Internationalisten analysieren jedoch die realen Widersprüche dieses Phänomens (wie dies in unserem gesamten Text zum Ausdruck kommt). Zweitens wächst neben weiteren Spannungslinien die geopolitische Gegenüberstellung Russland – USA + EU. Die Oligarchen Russlands und die Machtstrukturen versuchen, sich gegenseitig zumindest ein bisschen Platz unter der Sonne der globalen imperialen Privilegien abzujagen, indem sie den Einfluss im militärisch-industriellen Komplex verstärken; und sie bemühen sich (bisweilen, wie im Falle mit Syrien – nicht ohne Erfolg), eine selbständige Außenpolitik zu betreiben. Bei dieser Gegenüberstelllung kann Chodorkovskij außen vor bleiben, – aber er kann auch zu einer Figur von Belang  werden, wenn er es versteht, trotz der offensichtlichen Unterstützung seitens der westlichen „Eliten“ die Notwendigkeit von Schritten zu fördern, die auf eine Einschränkung der unbegrenzten Macht der NATO und ihr ähnlicher Organe gerichtet ist. Wird dies eine Unterstützung des „Putinregimes“ und Verrat an den „europäischen Freunden“ sein? Nein. Und zwar aus zwei Beweggründen. Zum einen, weil der Kurs auf eine Einschränkung der unbegrenzten Macht der USA und der Brüsseler Bürokratie nicht von den Machtorgane Russlands vertreten wird, sondern von den Tausenden und aber Tausenden von Nichtregierungsorganisationen, sozialen Bewegungen und linken Parteien in der ganzen Welt, darunter auch in Europa und in den USA. Zum anderen, weil dies ein Kurs ist, der von den Völkern Russlands in gleichem Maße wie von den Bürgern der der USA, der EU usw. gefordert wird. Nebenbei bemerkt, die Verfasser dieses Textes zweifeln stark daran, dass Chodorkovskij in der Lage ist, einen solchen Schritt zu tun. Drittens: Heute, da die Welt bemüht ist, die Lehren aus der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise zu ziehen, hat sich das Problem einer Erneuerung der Prinzipien und Formen der Verwirklichung des demokratischen sozialen Projekts wie nie zuvor zugespitzt. Der frühere Kurs eines Balancierens zwischen Markteffektivität und sozialer Wohltätigkeit ist in eine Sackgasse geraten. Gebraucht werden neue Entscheidungen, die es ermöglichen, Schritte zu unternehmen von der Erhöhung der Schulden des Staates zu Gunsten sozialer Almosen für die Bedürftigen in Richtung einer aktiven Einbeziehung dieser Menschen in eine gesellschaftliche Produktion, die nach Nicht-Marktprinzi­pien organisiert wird. Neue Technologien (z.B. das Internet) gestatten, dies in solchen Bereichen wie Wissenschaft und Innovation, Bildungs- und Gesundheitswesen, Kultur und Rekreation von Gesellschaft und Natur zu einer Massenerscheinung zu machen. Hier sei nur Wikipedia genannt, die ein gewaltiges Potenzial neuer Formen der Organisation demonstriert… Exoligarch Chodorkovskij, der einmal schriftlich niederlegt hat, dass er sich nur im Gefängnis frei von der Macht des Kapitals gefühlt hat, möge sich angesichts all dessen seiner zaghaften Benühungen von vor zehn Jahren erinnern, als er darüber nachzudenken begann, dass der Schutz der Bürgerrechte ohne Garantie der ökonomischen und sozialen Rechte eine Fiktion ist. Übrigens, auch hier erwarten wir keine Wunder: Im Gefängnis über Freiheit ohne die Fesseln des Kapitals zu reden, ist eine Sache. Etwas ganz Anderes ist es, dies nicht zu vergessen, wenn man sich schließlich wieder in der alltäglichen Umgebung von Fünfsterne-Suiten und Villen befindet. Eine Belastungsprobe ist in einer Umgebung von Kupferrohren viel schwerer durchzustehen als im Feuer von Gerichten und beim Wasser eines Gefängnisses. Und noch etwas: Bevor Chodorkovskij ins Gefängnis kam, verfügten  die Texte, die er geschrieben hatte, über kein besonders großes soziales Potenzial…

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Vielleicht mag man uns vorwerfen, dass uns das Schicksal Chodorkovskijs als Mensch gleichgültig sei. Dem möchten wir entgegnen: Wir haben unsere Einstellung zu Chodorkovskij deutlich zum Ausdruck gebracht. Bevor er ins Gefängnis kam – war er ein Oligarch, und ein Oligarch  bleibt – auch wenn er über die soziale Verantwortung des Business nachdenkt, ein Oligarch. Punkt. Im Gefängnis – achtungswert, ein Mensch, der nicht aufgegeben und versucht hat, nachzudenken. Drei Punkte. Nachdem er aus dem Gefängnis gekommen ist – … verbleibt Michail Chodorkovskij noch eine Wahl, doch der Exoligarch wird wohl eher den Ex(?)menschen besiegen. Fragezeichen. Übersetzung: Ruth Stoljarowa 05.01.2014
 
[1] Siehe „Alternativen“ Nr. 3/2006, S. 149-158. Die Gedanken für diesen Artikel wurden vor 7 Jahren gemeinsam von L. Bulavka und A. Buzgalin als Thesen zu einem Artikel entwickelt und formuliert, der  jetzt  von A. Buzgalin im Dialog mit der Mitautorin erweitert wurde und der vorliegenden Publikation als gemeinsame Arbeit zugrunde liegt.
[2] Siehe z.B.: Bulavka L.: Nonkonformizm. Soziokul’turnyj portret protestnogo dviženija v Rossii [Der Nonkonformismus. Ein Soziokulturelles Bild der Protestbewegung in Russland]. M., URSS, 2003; Buzgalin A.V. (red.) Al’terglobalizm. Teorija i praktika „al’terglobalistskogo“ dviženija [Der Alterglobalismus. Theorie und Praxis der „alterglobalistischen“ Bewegung]. M., URSS, 2003; (siehe auch die Artikel von A. Buzgalin über den Alterglobalismus in der Zeitschrift „Političeskij klass“ [Politische Klasse], 2005, Nr. 7, 8). Einige Jahre nach dem von L. Bulavka verfassten Artikel, der als Teil in die vorliegende Arbeitl eingegangen ist, erschien das Buch „Kto vtorit istoriju“ [Wer gibt das Echo der Geschichte?]. (M., 2010, 2012).