Das wird sich erst ändern, wenn das politische Interesse ganz natürlich in einem ständigen Hin und Her die Staatsgrenzen überqueren kann, so wie es für die europäische Gelehrtenrepublik zur Zeit Montesquieus oder Humes kennzeichnend war, oder sogar zu der eines Curtius oder Benda, ganz zu schweigen von ihren revolutionären Varianten bei Trotzki oder Gramsci. In meinem Buch The New Old World (2009) befasse ich mich mit den Kernländern der EU und ihrer Osterweiterung auf einer Ebene, auf der Politik für die Menschen ungleich größere Bedeutung hat als in der abgeschlossenen Maschinerie von Brüssel; das soll eine – und sei es auch noch so entfernte – Erinnerung an diese Tradition sein.
Die nationale Nabelschau ging einher mit kontinentaler Selbstzufriedenheit. In The New Old World kritisiere ich den europäischen Narzissmus, der vor einigen Jahren einen Höhepunkt erreichte: die Behauptung, dass die Union – mit den Worten des verstorbenen Tony Judt (2005, 799), die bei so vielen anderen europä- ischen Geistesgrößen Widerhall finden – ein »Musterbeispiel« der sozialen und politischen Menschheitsentwicklung sei. Seit 2010 haben die Havarien der Eurozone diesen Eitelkeiten ihren sarkastischen Kommentar hinzugefügt. Aber sind sie deshalb verschwunden?
Dass es verfrüht wäre, dies anzunehmen, wird an einem prominenten Beispiel deutlich. Jürgen Habermas hat nach Ach, Europa (2008) ein weiteres Buch Zur Verfassung Europas (2011) veröffentlicht. Sein Kernstück, ein Essay mit dem Titel Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, ist eine bemerkenswerte Illustration der genannten Denkmuster. Es enthält auf weniger als 60 Seiten rund hundert Literaturhinweise, drei Viertel davon zu deutschen Autoren. Von diesen wiederum ist fast die Hälfte ihm selbst oder drei Kollegen gewidmet, denen er für ihre Mithilfe dankt. Der Rest bezieht sich ausschließlich auf angelsächsische Autoren, wobei der Löwenanteil – ein Drittel der Angaben – auf einen einzigen britischen Bewunderer entfällt, den jüngst durch Gaddafi-Gelder bekannt gewordenen David Held. Keine andere europäische Kultur ist in dieser denkwürdigen Dokumentation des Provinzialismus vertreten.
Noch bemerkenswerter ist das Thema des Essays. 2008 hatte Habermas den Lissabon-Vertrag kritisiert, weil er es versäumt habe, das Demokratiedefizit der EU zu beseitigen oder dafür eine politisch-moralische Perspektive zu schaffen. Durch die Verabschiedung des Vertrags werde »das bestehende Gefälle zwischen Eliten und Bürgern eher zementiert« (2008, 105), ohne dass für Europa eine positive Richtung herausspringt. Nötig sei stattdessen ein europaweites Referendum, das die Union mit der notwendigen sozialen und finanziellen Harmonisierung, der militärischen Stärke und – vor allem – einer direkt gewählten Präsidentschaft ausstattet, um zu verhindern, dass die Zukunft des Kontinents »im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden ist« (ebd., 85). Ich habe damals bemerkt (2009, 513), wie weit diese Begeisterung für einen demokratischen Ausdruck des Volkswillens, den Habermas in seinem eigenen Land nie auch nur andeutungsweise unterstützt hatte, von seiner traditionellen Einstellung entfernt war, und ich habe prophezeit, dass er sie nach der Durchsetzung des Vertrags stillschweigend zurücknehmen würde.
Diese Vorhersage war untertrieben. Nicht stillschweigend, sondern in den höchsten Tönen lobt Habermas nun den Vertrag, der kein Gefälle mehr zwischen Eliten und Bürgern zementiert, sondern nichts weniger als die Charta eines beispiellosen Schritts zu menschlicher Freiheit ist – die Verdopplung der Grundlagen europäischer Souveränität in Bürger und Völker (statt Staaten) der Union, ein leuchtendes Beispiel für ein künftiges Weltparlament. Das Europa von Lissabon treibe in einem »Zivilisierungsprozess«, der die zwischenstaatlichen Beziehungen befriedet und den Einsatz von Gewalt auf das Bestrafen von Menschenrechtsverletzungen beschränkt, den Übergang von unserer heutigen, unverzichtbaren, aber verbesserungswürdigen »internationalen Gemeinschaft« zu einer zukünftigen »kosmopolitischen Gemeinschaft« voran, einer wirklichen Union, die auch noch den letzten Erdenbürger umfasst.1
Statt einen Dämpfer zu bekommen, hat der Narzissmus der letzten Jahrzehnte in solchen Aufwallungen einen neuen Gipfel erreicht. Dass der Lissabon-Vertrag nicht von den Völkern, sondern von den Staaten Europas spricht, dass er durchgedrückt wurde, um den in drei Referenden ausgedrückten Volkswillen zu umgehen, dass die Verhältnisse, die er festschreibt, bei den ihnen Unterworfenen auf verbreitetes Misstrauen stößt, und dass die Union, die er kodifiziert, so weit davon entfernt ist, ein Hort der Menschenrechte zu sein, dass sie sich mit Folter- und Besatzungspraktiken arrangiert, ohne darüber ein Wort zu verlieren – all das geht unter in einem Rausch der Selbstbeweihräucherung.
Kein einzelner Kopf kann als solcher für eine Perspektive stehen. Habermas, inzwischen mit europäischen Auszeichnungen überhäuft wie ein mit Orden gespickter Sowjetgeneral, ist zweifellos auch ein Opfer seiner Eminenz – eingekapselt, wie vor ihm Rawls, in eine geistige Welt, in der sich überwiegend Anhänger und Bewunderer sammeln, zunehmend unfähig, sich mit Positionen zu beschäftigen, die von seiner eigenen mehr als ein paar Millimeter entfernt sind. Oft als Nachfahre Kants gepriesen, droht er zu einem modernen Leibniz zu werden, der mit unerschütterlichen Euphemismen eine Theodizee konstruiert, in der auch die Übel der Finanzmarktderegulierung durch die »List der ökonomischen Vernunft« (2011, 77) zu den Segnungen des kosmopolitischen Aufbruchs beitragen, während sich der Westen auf dem Wege von Menschenrechten und Demokratie auf das Paradies gesamtmenschlicher Legitimität zubewegt.
Habermas stellt einen Sonderfall dar, was den Rang wie dessen Korrumpiertheit betrifft. Aber die Haltung, von Europa als einem Musterbeispiel für die Welt zu sprechen, ohne das wirkliche politische und kulturelle Leben, das darin herrscht, übermäßig zur Kenntnis zu nehmen, ist nicht verschwunden. Während Alain Supiot (2012) auf eine Zeit zurückblickt, in der die Europäische Gemeinschaft die Prinzipien des Sozialstaats respektierte, stellt sich Jan-Werner Müller (2012) die Frage, ob Deutschland seine Macht dazu nutzen könnte, die EU gleichzeitig effizienter und demokratischer zu machen. Die Realität war bisher das genaue Gegenteil: Berlin hat sowohl den Wirrwarr als auch die Autokratie des Brüsseler Systems noch verstärkt. Um zu begreifen warum, muss man ein Verständnis der tieferen Dynamik entwickeln, die in der Krise der Eurozone am Werk ist.
Einfach gesagt, kommen darin zwei voneinander unabhängige Entwicklungen zusammen. Die erste ist die allgemeine Implosion des fiktiven Kapitals, mit dem die Märkte im langen Zyklus der Finanzialisierung in Gang gehalten wurden – der Aufblähung des Finanzsektors, die in den 1980er Jahren begann, als die Rentabilität der Realwirtschaft unter dem internationalen Wettbewerbsdruck zusammenschrumpfte und die Wachstumsraten Jahr für Jahr weiter zurückgingen. Die Mechanismen dieser Entschleunigung, die der Kapitalverwertung selbst innewohnt, sind jedem Leser der Arbeiten von Robert Brenner (2006; 2009) vertraut. Ihre Auswirkungen auf die gewaltige Aufblähung der Privat- und Staatsverschuldung – zur Abstützung der Profitraten wie der politischen Wählbarkeit – wurden von Wolfgang Streeck (2011) meisterhaft aufgezeigt. Die amerikanische Wirtschaft ist das Musterbeispiel für diese Entwicklung. Ihre Logik war aber systemimmanent.
In Europa wurde eine weitere Entwicklung in Gang gesetzt – durch die deutsche Wiedervereinigung und durch die Gestaltung der in Maastricht vereinbarten Währungsunion mit dem nachfolgenden Stabilitätspakt, die beide auf deutsche Forderungen abgestellt waren. Über die Gemeinschaftswährung sollte eine Hayekianisch konzipierte Zentralbank wachen, die weder Regierungen noch Wählern verpflichtet ist, sondern dem alleinigen Ziel der Preisstabilität. Beherrscht wurde die neue Währungszone von ihrer größten Volkswirtschaft, die sich nach Osten erweitert hatte und direkt jenseits der Grenze über ein großes Reservoir von Billigarbeitskräften verfügte. Die Kosten der Wiedervereinigung waren hoch und zogen das Wirtschaftswachstum nach unten. Um sich zu erholen, übte das deutsche Kapital einen beispiellosen Druck auf die Löhne aus, der von den Beschäftigten – unter der Drohung von Standortverlagerungen nach Polen, in die Slowakei oder sonstwohin – akzeptiert wurde. Mit zunehmender Produktivität und sinkenden Lohnkostenanteilen erlangte die deutsche Exportindustrie eine nie da gewesene Wettbewerbsfähigkeit und immer größere Marktanteile auf den Märkten der Eurozone. An deren Peripherie wurde die entsprechend verminderte Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften durch einen Zustrom von billigem Kapital narkotisiert, dessen Zinssätze nach deutschen Vorschriften in der gesamten Eurozone praktisch einheitlich waren.
Als die in den Vereinigten Staaten losgetretene Überfinanzialisierungskrise in Europa zuschlug, brach das Vertrauen in diese peripheren Schuldenländer zusammen. Es drohte eine Serie von Staatsbankrotten. In den USA wurde der Zusammenbruch insolventer Banken, Versicherungen und Firmen durch massive Staatshilfen verhindert und die Notenpressen der Federal Reserve konnten den Rückgang der Nachfrage stoppen. In der Eurozone standen einer solchen temporären Lösung zwei Hindernisse im Weg: Die im Maastrichter Vertrag festgelegten EZB-Statuten verbieten den Ankauf von Schuldentiteln der Mitgliedsstaaten; und es gibt keine Weberianische »Schicksalsgemeinschaft«, die Regierende und Regierte in eine gemeinsame politische Ordnung zwingt, in der es die ersteren teuer zu stehen käme, wenn sie die Grundbedürfnisse der letzteren ignorierten. Im europäischen Scheinföderalismus konnte es keine »Transferunion« nach amerikanischem Muster geben.
Als die Krise kam, ließ sich die Eurozone also nicht durch Staatsausgaben zusammenhalten, nur durch ein politisches Diktat – indem Deutschland an der Spitze eines Blocks nördlicher Länder für die südliche EU-Peripherie, die ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr durch Abwertungsmaßnahmen wiederherstellen konnte, drakonische Sparprogramme durchsetzte, die für die eigenen Bürger undenkbar wären. Unter diesem Druck fielen die Regierungen der schwächeren Staaten um wie die Fliegen. Die politischen Mechanismen sahen unterschiedlich aus. In Irland, Portugal und Spanien wurden die bei Ausbruch der Krise amtierenden Regierungen abgewählt und von Nachfolgern abgelöst, die dieselben Mittel in höheren Dosen verschrieben. In Italien kamen innere Verwesung und äußere Einmischung zusammen, ein parlamentarisches Kabinett wurde ohne Rekurs auf Wahlen durch ein technokratisches ersetzt. In Griechenland hat eine von Berlin, Paris und Brüssel verordnete Spardiät das Land auf einen Status reduziert, der an Österreich im Jahre 1922 erinnert, als von der Entente ein Hochkommissar eingesetzt wurde (unter der Flagge des Völkerbunds), der in Wien die Wirtschaft führte.
Die alles andere als einheitlichen Vorschriften, die das Vertrauen der Finanzmärkte in die Verlässlichkeit der einheimischen Intendanturen wiederherstellen sollen, umfassen die Kürzung der Sozialausgaben, die Deregulierung der Märkte und die Privatisierung von öffentlichem Eigentum – die neoliberale Hausapotheke, ergänzt durch verstärkte Steuerbelastungen. Um sie festzuschreiben, sind Berlin und Paris gegenwärtig entschlossen, die Forderung nach einem ausgeglichenen Haushalt in der Verfassung aller siebzehn Länder der Eurozone verankern zu lassen – ein Gedanke, der in Amerika lange als alter Hut der durchgeknallten Rechten galt.
Die Rezepte von 2011 werden die Gebrechen der Eurozone nicht heilen. Die Spreads auf Staatsanleihen werden nicht auf das Vorkrisenniveau sinken. Nach Schätzungen könnten sich die ungedeckten Bankverbindlichkeiten auf 1,3 Billionen Euro summieren. Die Probleme sind größer, die Mittel schwächer und die Vollstrecker unsicherer, als die offiziellen Verlautbarungen zugeben können. Wenn sich zeigt, dass das Gespenst der Zahlungsunfähigkeit nicht weicht, dürften die von Merkel und Sarkozy zusammengeschusterten Lösungen nicht tragen. Deutschland, das durch ein System von Kapitalderegulierung nach außen und Lohndrücken nach innen mehr als jeder andere Staat letztlich die Eurokrise verursacht hat, hat sich als Bock zum Gärtner gemacht. In diesem Sinne ist die Stunde eines neuen europäischen Hegemons gekommen. Pünktlich zu diesem Zeitpunkt ist auch das erste ungenierte Manifest deutscher Vorherrschaft in der Union erschienen.
In einem Leitessay im Merkur, dem wichtigsten intellektuellen Meinungsorgan der Bundesrepublik, erklärt der Konstanzer Staatsrechtler Christoph Schönberger (2012, 2), dass mit der »Hegemonie«, die Deutschland in Europa zufallen solle, »nicht das diffuse Schlagwort eines antiimperialistischen Diskurses à la Gramsci gemeint ist« – der Begriff sei vielmehr in dem von Heinrich Triepel (1938!) ausgeführten verfassungsrechtlichen Sinn zu verstehen, der die Führungsrolle des mächtigsten Staates in einem Bündnissystem – etwa die Preußens im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – bezeichnet. Die EU sei ein genau solches System – ein wesentlich intergouvernementales Konsortium, verkörpert durch den Europäischen Rat, der zwangsläufig unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt. Nur politische Science-Fiction käme auf die Idee, darin »die blaue Blume der Demokratie jenseits aller institutionellen Erdenreste zu suchen« (ebd., 5). Da die im Rat vertretenen Staaten in ihrer Größe und ihrem Gewicht größtenteils ungleich sind, sei es unrealistisch anzunehmen, dass sie sich auf gleichem Fuße miteinander abstimmen könnten. Die Union könne nur dann funktionieren, wenn ihr der an Bevölkerung und Reichtum ungleich größere Staat ihren Zusammenhalt und eine Richtung verleiht. Europa bedürfe also der deutschen Hegemonie, und Deutschland dürfe sich nicht länger scheuen, sie auszuüben. Frankreich, dessen »militärisch-außenpolitische Sonderinsignien, sein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat und sein Status als Atommacht, nicht länger von prägender Bedeutung sind«, habe sich darauf einzustellen. Deutschland müsse Frankreich so behandeln, wie Bismarck in jenem anderen föderalen System, dem Kaiserreich, Bayern behandelt hat – indem er darauf bedacht war, das untergeordnete Mitglied »durch symbolische Auszeichnung und bürokratische Abstimmung an der Seite Preußens zu halten« (ebd., 4).2
Ob sich Frankreich so leicht auf die Stellung Bayerns im Zweiten Reich degradieren lässt, bleibt abzuwarten. Ein modernerer Vergleich könnte zutreffender sein. Das Bestreben der französischen Politikerklasse, stets im Schulterschluss mit Deutschland zu handeln, erinnert immer mehr an jene andere special relationship, die das verzweifelte britische Anklammern an die Rolle des Adjutanten der Vereinigten Staaten darstellt. Die Frage ist, wie lange diese französische Selbstunterordnung anhalten kann, ohne dass es eine Gegenreaktion gibt. Wenn der Fraktionschef der CDU damit renommiert, dass »in Europa auf einmal Deutsch gesprochen wird«, ruft dies weniger Übereinstimmung als Ressentiments hervor. Der neue Hegemon kann zwar mit seinen Muskeln spielen. Er bleibt aber ein Koloss auf tönernen Füßen, der weder die für Unordnung sorgende Währungsunion abschaffen noch den Schritt darüber hinaus zu einer politischen Union vollziehen kann, in der die Union finanzielle Transferleistungen akzeptieren müsste, die von ihren Wählern abgelehnt werden.
Genauso brüchig sind andere Einrichtungen der politischen Landschaft. Die Hayekianischen Dämme der EZB dürften durch die Schuldenflut unter zunehmenden Druck geraten, wenn die Krise andauert. Wenn der Pegel weiter steigt, werden sie kaum standhalten. Für die Ideologie der EU ist nichts so zentral wie ihr Anspruch, eine Rechtsordnung zu sein; keine Bürokratie hat so flexibel nach Wegen gesucht, sie zu umgehen. Wer wäre noch überrascht, von ihren Juristen zu hören, dass die Bestimmungen des Maastrichter Vertrags der EZB zwar den Ankauf von Staatsanleihen verbieten, dass sie aber, wenn man ihren Sinn richtig versteht, besagen, dass die EZB in Wirklichkeit dazu verpflichtet ist?
Auch die beiden Regierungslager, die das restliche Europa in ihrem Stabilisierungsgehege einpferchen wollen, sehen nicht besonders wetterfest aus. In Deutschland hat Merkel eine Landtagswahl nach der anderen verloren, sogar in der sichersten Bastion christlicher Demokratie, Baden-Württemberg, während der Koalitionspartner FDP – nicht zum ersten Mal – vor dem elektoralen Exitus steht. In Frankreich hat Sarkozy die Nationale Front preisgegeben, ohne in der Mitte zuzulegen. Er verlor nun die Wahl gegen den blassesten PS-Funktionär. Ob die Rückkehr der Sozialdemokratie an die Macht in Paris und Berlin den Gang der Krise großartig verändern würde, ist eine andere Frage. Für sich genommen dürfte sie aller Wahrscheinlichkeit nach kaum einen Unterschied machen; man kann sich leicht vorstellen, dass Hollande oder Gabriel genauso wie Rajoy an die Macht kommen würden, ohne positives Wählerengagement, nur weil es keine Alternativen gibt. Ein ernsthafter Volksaufruhr würde natürlich etwas verändern. Bisher kam das nur in Griechenland auf. Anderswo haben die Eliten von den Massen noch nichts zu hören bekommen. Dass es auch bei akuter Not keine Garantie dafür gibt, dass die Krise zu einer Explosion statt zu einer Abstumpfung führt, hat man an Russlands Passivität unter der Katastrophe der Jelzin-Herrschaft gesehen. Die Bevölkerungen der EU sind allerdings weniger leidgeprüft. Wenn sich die Verhältnisse gravierend verschlechtern, dürfte ihr Geduldsfaden eher reißen. Im Hintergrund all dieser Szenarien lauert der nackte Tatbestand, dass auch dann, wenn die Eurokrise – unwahrscheinlich genug – ohne dramatische Opfer auf Kosten der Schwächsten gelöst werden kann, der ihr zugrundeliegende Wachstumsrückgang bestehen bliebe.
Gekürzte Fassung von »The New Old World« in New Left Review, Nr. 73, 1–2/2012. Aus dem Englischen von Thomas Laugstien
Literatur
Anderson, Perry, 2009: The New Old World, London/New York
Brenner, Robert, 2006: The Economics of Global Turbulence, London/New York
Ders., 2009: What is Good for Goldman Sachs is Good for America, Center for Social Theory and Comparative History, Paper 2009–11; http://escholarship.org/uc/item/0sg0782h, 30.4.2012
Habermas, Jürgen, 2005: Das illusionäre Nein der Linken, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 6, 755–57
Ders., 2008: Ach, Europa, Frankfurt/M Ders., 2011: Zur Verfassung Europas, Frankfurt/M
Judt, Tony, 2005: Postwar, London (dt.: Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006)
Müller, Jan-Werner 2012: Beyond Militant Democracy?, in: New Left Review 73, 39–47
Schönberger, Christoph, 2012: Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union, in: Merkur, Nr. 752, Januar, 1–8
Streeck, Wolfgang, 2011: Völker und Märkte. Demokratischer Kapitalismus und Europäische Integration, in: Lettre Internationale 95, 15–17
Supiot, Alain 2012: Under Eastern Eyes, in: New Left Review 73, 29–37
Triepel, Heinrich, 1938: Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart
Anmerkungen
1 Habermas’ leidenschaftliche Intervention zum französischen Referendum über den EU-Verfassungsvertrag (2005), die im Falle der Ablehnung vor einer Katastrophe warnte, war umhüllt von völligem Schweigen über das Fehlen jedweder Volksbefragung in Deutschland, wie schon im Falle von Maastricht.
2 Der geistige Mentor von Schönbergers Konstruktion, der Berliner Staatsrechtslehrer Heinrich Triepel (1868–1946), bewunderte nicht nur Bismarcks Neuordnung Deutschlands unter preußischer Hegemonie. Er hat 1933 die Machtergreifung Hitlers als »legale Revolution« begrüßt, und er beschließt sein Buch über Die Hegemonie (1938, 578) mit einer Hymne an den »Führer«, der durch die Angliederung Österreichs und des Sudetenlands den alten deutschen Traum vollständiger staatlicher Einheit verwirklicht habe.