Seit November brodelt es wieder einmal in Frankreich. Nachdem Staatspräsident Emmanuel Macron die Proteste von Gewerkschaften und Studierenden gegen seine Reformpolitik im Frühjahr erfolgreich abgewehrt zu haben schien, entstand spontan und unerwartet eine neue Bewegung. Sie unterzog die aktuellste Maßnahme von Regierung und Staatspräsident – die Erhöhung der Benzinpreise – einer Generalkritik. Es kam zu Protesten die zunächst „nur“ Kreisverkehre, Autobahnausfahrten und Supermärkte blockieren. Weil die die Teilnehmer*innen der Protestaktionen gelbe Westen tragen sollten, da diese in Fahrzeugen gesetzlich verpflichtend mitgeführt werden müssen, hatten die Proteste ein wirksames Erkennungszeichen als „Gelbwesten“. Die Protestierenden änderten nach wenigen Tagen ihre Taktik und versuchten ihr Anliegen in die französische Hauptstadt Paris zu tragen. Dabei kam zu militanten Auseinandersetzungen, welche die Intensität traditioneller Scharmützel zwischen linksradikalen Gruppierungen und der militarisierten französischen Bereitschaftspolizei CRS weit überschritten.Von Beginn an wurde darüber debattiert, wer hinter diesen scheinbar nur per Internet organisierten Protesten stand und welchem politischen Lager sie nützen könnten. Die These eines zweigeteilten Landes wurde aufgeworfen: Eine verarmte unsichtbare Landbevölkerung verschaffe ihrem Frust über die Bevorzugung der kosmopolitischen Metropolen Ausdruck. Eine These die sicherlich kritisch diskutiert werden muss. Auf jeden Fall aber sind die „Gelbwesten“ Ausdruck einer Krise der traditionellen Repräsentationsstrukturen. Die Proteste entfalteten einen derartigen Druck, dass die Regierung Macron ihre erste innenpolitische Niederlage hinnehmen musste. Die Erhöhung der Benzinsteuer wurde zurückgenommen.
Macrons arroganter Autoritarismus legt die Grundlage für Proteste
Obwohl die Steuererhöhungen für Benzin gerne als Auslöser für die Proteste der „Gelbwesten“ benannt werden, greift dies als alleinige Erklärung zu kurz. Vielmehr haben diese Steuerpläne das Fass nur zum Überlaufen gebracht. Wir erinnern uns, Staatspräsident Macron ist nicht mehr als ein „Zufallspräsident“. Obwohl im Mai 2017 gewählt, siegte er nur auf Grund der Angst der Menschen vor der „faschistischen“ Bedrohung durch Marine Le Pen. Im ersten Wahlgang im April hatte er gerade einmal knapp 24 Prozent der Stimmen erhalten. Doch dieser Mangel an gesellschaftlichen Rückhalt störte Macron wenig. Der Wunschkandidat der französischen Wirtschaft, der nicht wie seine Vorgänger in langsamen, sondern schnellen Schritten das Sozial- und Wirtschaftssystem umbauen wollte, mutierte vom Hoffnungsträger zum Albtraum. Das „Macronistische“ Politikverständnis zeichnet sich dadurch aus, dass es ultraliberale „Reformen“ mit einem autoritären Politikstil verbindet. Der antidemokratische Charakter der V. Republik, der alle Macht in den Händen der Exekutive konzentriert, erleichtert dies. So wurden per Verordnung weite Teile des Arbeitsrechtes ausgehebelt, massive Stellenkürzungen im Öffentlichen Dienst angekündigt, Renten eingefroren, Sozialsteuern erhöht und Sozialleistungen abgesenkt. Betroffene wurden nicht gehört, Gewerkschaften oder Zivilgesellschaft spielten keine Rolle. Dem gegenüber stehen Senkungen der Vermögens- und Unternehmensteuern. Die Wirtschaftszeitung „Alternative économique“ rechnete die Folgen dieser Umverteilungspolitik „nach oben“ durch: So fielen die Staatseinnahmen zwischen dem ersten Halbjahr 2017 und 2018 um 14 Milliarden Euro (Plenel 2018).
Zur Enttäuschung der Menschen über die arroganten Art ihres Staatsoberhauptes gehörte die penetrante Bürgerferne, die wiederholten Beleidigung von armen und arbeitslosen Menschen, dazu kam mehr und mehr die Empörung über die fortschreitende Ungleichverteilung der Belastungen. Verschärft wird diese Wahrnehmung noch durch den weiter vorangehenden Abbau der sozialen Infrastruktur. So werden in nächster Zeit reihenweise Krankenhäuser und Mütterzentren schließen. Viele Französ*innen empfanden die angekündigten Steuererhöhungen auf Kraftstoffe deshalb eben nicht als Beitrag zu einer ökologischen Wende, sondern vielmehr als Versuch Steuerlöcher zu stopfen, und somit als weitere Verengung des eigenen finanziellen Spielraums. Zumal die Großunternehmen, besonders jene, die in besonderem Maße auch noch für die oben genannten Missstände verantwortlich sind, ausgenommen sind. Wie bei den sonstigen Steuern auch, soll die Allgemeinheit zahlen. Es sollte nicht verwundern, dass die Forderung nach mehr Umverteilung von „oben nach unten“ in Frankreich aktuell Rekordwerte erreicht (Tiberj 2018).
Die „Gelbwesten“ – Aufschrei der Vergessenen?
Zahlreiche der ursprünglich geäußerten Thesen über die Zielsetzungen der „Gelbwesten“ scheinen damit schon von Beginn an hinfällig zu sein. So wurde diese Bewegung, bevor sie das erste Mal in Erscheinung trat, sofort mit der radikalen Rechten in Verbindung gebracht. Und das auch nicht ohne Grund. Bewegungen gegen einen übermächtigen Staat, zu hohe Steuern, aber auch ökonomische Konzentrationsprozesse waren seit jeher das Spielfeld des französischen Kleinunternehmertums, aus dem der Front National (inzwischen Rasseblement National) bis heute zahlreiche „Kader“ gewinnen konnte. Die Poujadistische Bewegung, benannt nach ihrer zentralen Figur Pierre Poujade, die hauptsächlich von kleinen Einzelhändlern getragen wurde und in den 1950ern sogar im französischen Parlament vertreten war, muss hier genannt werden.
Dagegen sprechen jedoch die prominenten Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit, z.B. für höhere Mindestlöhne, für die Bewahrung eines staatlich finanzierten Rentensystem, oder der Wunsch nach einer Wiedereinführung der Vermögensteuern. Die „Gelbwesten“ lehnen den steuerfinanzierten, lenkenden Staat also nicht ab, wie es in Reihen der bäuerlichen und kleinunternehmerischen Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts üblich war. Vielmehr ist ein Wunsch nach steuerlicher Gleichbehandlung aller Staatsbürger*innen, wie sie in der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte 1789 festgelegt worden ist, leitend (Plenel 2018). Dennoch beschreibt es die Bewegung nicht ausreichend, wenn, den legitimen Selbstdarstellungen der Akteure folgend, die Gelbwesten als prekäres Milieu aus der ländlichen Provinz des Landes bezeichnet werden. Diese These muss allein schon deshalb bestritten werden, da ein Großteil der Blockaden zu Beginn der Protestwelle am 17. November nicht im ländlichen Raum, sondern an den Rändern der urbanen Regionen erfolgte. Hier lebt ein Großteil der „Gelbwesten“, die zum Teil in die Städte pendeln, zum Teil aber auch vor Ort einer Erwerbsarbeit nachgehen. Besonders ausgeprägt ist die „Gelbwesten“-Bewegung im Großraum Paris. Es handelt sich auch nicht um arme oder abgehängte Menschen. In der Regel verfügen die „Gelbwesten“ über stabile Einkommen, sind aber eher gering qualifiziert. Sie besitzen eine meist kreditfinanzierte Immobilie in den Gemeinden an den Stadträndern. Menschen, die mit dem bisher im Leben erreichten zufrieden sind, aber wenig finanziellen Spielraum haben. Möglicherweise ist dies auch ein Grund, weshalb sich viele Frauen unter den Aktivist*innen befanden, so erste qualitative sozialwissenschaftliche Ministudien (Molénat 2018).
Für diese Menschen ist die weitere Erhöhung des Benzinpreises ein Risiko, da der Pkw für den Weg zur Arbeitsstelle und zur Bewältigung des Alltags benötigt wird. Diese Beziehung zum Pkw lässt sich auch statistisch nachweisen: Denn zwei Drittel der ärmsten Gruppe der Französ*innen greift auf die Öffentlichen Verkehrsmittel zurück, nicht auf das eigene Auto, das sie gar nicht finanzieren können. So sind vor allem die mittleren Einkommen von den erhöhten Kosten für Benzin betroffen, da hier der Nutzungsgrad des Pkw am höchsten ist (Chassignet 2018).
Es zeigt sich also, dass die „Gelbwesten“ nicht einfach als Vertreter*innen eines abgehängten Frankreichs bezeichnet werden können. Die Gemeinden am Stadtrand sind kein Rückzugsort einer abgehängten weißen Unterklasse, sondern Orte, wo kleine soziale Aufstiege gelebt werden sollen (Girard 2017). Ein weiterer Beleg dafür sind die Median-Einkommen in den sogenannten peri-urbanen Räumen, die über jenen der Innenstädte liegen (Béhar/Dang-Vu/Delpirou 2018). Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass diese Räume von der „unteren Mittelklasse“ geprägt sind. Dass Menschen aus dieser sozialen Gruppe auch bei den militanten Aktionen der letzten Wochen mitten in Paris eine zentrale Rolle spielten, räumte indirekt auch das französische Innenministerium ein. So fänden sich kaum organisierte linke und rechte Akteure unter den Verhafteten, sondern in erster Linie Menschen aus der Pariser Region, die gesellschaftliche gut verankert seien.
Die „Gelbwesten“ sind Ausdruck einer Krise der traditionellen Nachkriegsstrukturen
Die Bewegung der „Gelbwesten“ verdeutlicht einmal mehr die tiefe Krise der repräsentativen Demokratie. Auch die traditionellen Interessengruppen, wie Gewerkschaften, sind betroffenen. Ein grundlegendes Mißtrauen in die Durchsetzungsfähigkeit von und Aufrichtigkeit der Politik ist entstanden. Kategorien, wie „links“ und „rechts“ verlieren an Bedeutung, da mit diesen Kategorien keine Politikkonzepte mehr verbunden werden. Gerade die Linke leidet unter dem Verlust ihrer Verankerung in den Arbeitermilieus, die sich stark verändert haben. Die nachkommenden Generationen haben wenig mit den sozialen Kämpfen der Väter- und Großvätergeneration zu tun. Verbreitet ist das Ideal der „Partnerschaft“ zwischen Arbeit und Kapital, um Standortsicherung zu erreichen. Diese hat einen gewissen individuellen oder familiären Wohlstand mit sich gebracht. Einkommen und billige Kredite ermöglichten mehr privaten Konsum. Ein Ideal in der Mittelklasse. Doch ein Funken moralische Empörung über die Ungerechtigkeiten ist geblieben und Privilegien, die nicht als ‚verdient‘ gelten, stoßen auf tiefe Ablehnung.
Aus diesem Grund gelingt es den „Gelbwesten“ auch nicht Repräsentanten für etwaige Verhandlungen mit Regierungsvertreter*innen zu benennen. Wer nicht genügend in den Gruppen vor Ort ist, hat sich auch keine Legitimation als Sprecher verdient. Als problematisch könnte sich auch erweisen, dass die Zugeständnisse Macrons zu einer Spaltung der „Gelbwesten“ führen werden. Für manche, weniger radikale Akteure, reicht dies völlig aus. Für andere, politisch bewusstere Akteure, gilt es jetzt die politische Gegenoffensive zu starten. Repräsentanten werden von diesen grundsätzlich abgelehnt. Radikaldemokratische Experimente, wie Basisversammlungen werden gefordert, während andere „Gelbwesten“ nur auf höchste Ebene verhandeln wollen.
Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass ein weiterer Angriff auf die Grundfesten des französischen Sozialstaats erfolgen könnte. So haben Staatspräsident Macron und Premierminister Édouard Philippe schon angekündigt, dass an der grundsätzlichen Ausrichtung ihrer Politik nicht gerüttelt wird. Die Entlastungen der Vermögensbesitzer*innen werden nicht in Frage gestellt. Da durch die Streichung der Einnahmen aus der Erhöhung der Steuern auf Benzin das 3-Prozent-Haushaltsziel wieder in Gefahr gerät, könnten noch mehr Kürzungen im Öffentlichen Dienst und bei Sozialleistungen folgen. Letztere würden auf Menschen zielen, die eben nicht, wie die um die Bewahrung ihres sozialen Status bemühten Akteure aus der „unteren Mittelschicht“ auf die Straße gehen. Eine Gruppe könnte gegen die andere ausgespielt werden.
Die Linke – zwischen Zaudern und Umarmung der „Gelbwesten“
Dieser Gefahr ist sich die politische Linke bewusst. Das die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsverbände nicht zum Protest aufrufen ist nicht weiter verwunderlich: Sie haben sich längst mit einer Rolle als pazifizierter „Begleiter“ der Unternehmer*innen abgefunden. Was wie gesagt nicht im Widerspruch zum Bewusstsein vieler junger Beschäftigter stehen muss. Dass auch die linke CGT-Gewerkschaft zögert, scheint unverständlich, aber nachvollziehbar. Schließlich sind die Protestierenden nicht frei vom Verdacht, rechtes Gedankengut zu vertreten, verfügen nicht über ein Klassenbewusstsein hinter das sich die CGT ohne Weiteres stellen könnte. Erst langsam, nur unter Duldung der Spitze, suchen im urbanen Raum Aktivist*innen aus den linken gewerkschaftlichen Bewegungen des Frühjahrs Kontakt zu den „Gelbwesten“. Vonseiten der CGT-Spitze wird versucht, eigene, alternative Akzente zu setzten. Mitte Dezember soll es wieder einen der traditionellen Aktionstage geben, sicherlich auch aus der Sorge heraus, dass eine zu starke Beteiligung an militanten Konflikten die eigenen Strukturen wieder staatlicher Repression aussetzen könnte. Eine Strategie, welche von den meisten Linken nicht mehr geteilt wird. Besonders trotzkistische Milieus kritisieren diese Haltung. Deshalb rufen inzwischen auch vermehrt Studierende zur Beteiligung an den Protesten auf und Schüler*innen gehen in großer Zahl auf die Straße.
Die Auswirkungen im politischen Feld sind noch unklar. „La France insoumise (LFI)“ begrüßt die Proteste, sieht man doch im Wunsch zahlreicher „Gelbwesten“ nach dem Rücktritt Macrons den Wunsch nach einer demokratischen Neukonstituierung der französischen Republik, ein Kernelement der eigenen Programmatik. Doch auch die Zustimmung zum Rassemblement National (RN, früher Front National) legt nach einer Schwächeperiode wieder zu. RN wird neben LFI als wieder tatkräftigste Oppositionspartei wahrgenommen. Aber auch die Zustimmungswerte für Jean-Luc Mélenchon steigen nach einer Abwärtsbewegung aufgrund von inneren Konflikten und äußere Affären wieder an. In Frankreich bleiben die Verhältnisse in Bewegung.