Derartige orientalistische Klischees wurden der Komplexität der hegemonialen Beziehungen in der Türkei in keiner Weise gerecht, halfen aber den Topos vom jakobinischen Militär aufrechtzuerhalten. So war es kein Zufall gewesen, dass die AKP in ihrer Selbstdarstellung gegenüber dem westlichen Ausland ganz bewusst keine islamistische, sondern eine antijakobinische Sprache verwendete. Als solche holte sie umfangreich Anleihen aus Edmund Burkes Kritik der Französischen Revolution, die als Gründungsmoment des modernen westlichen Konservatismus gilt und wurde diskursiv anschlussfähig an die Selbstauffassungen westlicher Konservativer. Im Westen und wohl auch im American Enterprise Institute (AEI) war die Botschaft angekommen: Die stand nicht nur für eine strategische-taktische Integration der Türkei in den Westen, sondern war im Kern selbst eine westliche, konservative Partei. Der Kemalismus war fortan das suspekte Andere – die Verkörperung des nicht-westlichen illiberalen Staates. Im März 2016, zwölf Jahre später, veröffentlicht das AEI einen Artikel, der – so zahlreiche BeobachterInnen – mehr oder minder »grünes Licht zum Sturz der Islamisten« gibt. Es setzt dabei seine Hoffnungen auf Kemalisten in den Streitkräften und scheut auch die Analogie zum Sturz der von der Muslimbruderschaft dominierten ägyptischen Regierung nicht. Der Artikel zog offenkundig weite Kreise, denn selbst das türkische Militär sah sich gezwungen, derartige Absichten  zu dementieren. Ein Artikel also reicht aus, um Spekulationen über einen möglichen Militärputsch in der Türkei auszulösen? Dies scheint insofern nachvollziehbar, als die Reputation der AKP im Ausland weitgehend zerstört ist – unter US-amerikanischen noch weit mehr als unter den europäischen Eliten, die verzweifelt nach Gate-Keepern für ihre Grenzen suchen. Noch dazu sind die Differenzen zwischen der türkischen und der US-amerikanischen Regierung über die Syrienpolitik vor allem über die von der PKK-nahen PYD vorangetriebene Föderalisierung Syriens allzu manifest, da dies einer kurdischen de facto Autonomie innerhalb der formellen Grenzen Syriens gleichkäme. Die USA scheinen sich damit abgefunden zu haben, die türkische Regierung nicht – das ist eine Differenz, die zentrale außenpolitische Interessen der Türkei berührt. Die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA könnten also besser sein, weit besser. Dennoch: Wenn ein Artikel eines neokonservativen US-amerikanischen Think Tanks ausreicht, um derartige Spekulationen auszulösen, stellen sich Fragen. Namentlich: Herrscht hier nicht eine allzu mechanistische Auffassung über den konkreten Modus der Einbindung der Türkei in die sich international konstituierende Zivilgesellschaft, vor allem aber in die regionale, transatlantische Ordnung vor? Ein Faktum wird nur allzu gern übersehen: Die Türkei und namentlich die türkische Regierung, ist nicht die ›Handlangerin westlicher Interessen‹, wie vielleicht allzu schlicht gestrickte Antiimperialismen nahelegen. Sie ist vielmehr die Regierung eines souveränen Staates innerhalb und auf den Schultern der transatlantischen Ordnung. Ihren Nexus von EU-, IWF-Reformen und politischem Islam hatte sie innerhalb dieser Ordnung angesiedelt. Eben auch deshalb wurde sie nicht als islamistisch, sondern als „islamisch-konservativ“ rezipiert, während sie selbst KemalistInnen erfolgreich als illiberale Feinde der Ordnung portraitierte. Eben diese Reformen konnten das ›kemalistische Establishment‹ größtenteils ausschalten, die Ergenekon-Ermittlungen, waren da eher Nachwehen. Das Agieren innerhalb der Ordnung hatte derweil die Unterstützung führender Klassenakteure in der Türkei, da dieses lange eine relative gesellschaftliche Stabilität und eine verhältnismäßig stabile kapitalistische Entwicklung ermöglichte. Ebenso hatte es deshalb die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten. Die AKP bezog in ihren goldenen Jahren ihre Legitimität wesentlich aus dem Inneren dieser mit dem Äußeren verschränkten Konstellation heraus. Allerdings hat es in der Türkei selbst nie eine derart positive Perzeption der Partei gegeben, wie sie bis zur Gezi-Revolte 2013 im westlichen Ausland dominierte – wo sie gar als Stimme der sprachlosen Subalternen galt. Was aber wenn das Agieren innerhalb der Ordnung sukzessive beginnt, die Reproduktionsgrundlage der eigenen Legitimität zu untergraben? Wie die relativ beständige kapitalistische Expansion auch mit einer Durchrationalisierung der Lebensrealität einhergeht und sich dagegen Widerstände formieren, konnten wir in zahlreichen lokalen Kämpfen und am prominentesten 2013 während der Gezi-Revolte sehen. Entscheidend für die heutige politische Instabilität in der Türkei ist nicht etwa eine schwere ökonomische Krise gewesen, sondern die relativ beständige kapitalistische Entwicklung. Während andere Staaten in Rezessionen oder Schuldenkrisen rutschten, hat die Türkei 2009 einen scharfen aber kurzen Einbruch erlitten –mehr nicht bislang. Das weitere Wachstum ist seither fragil – aber kapitalistisches Wachstum ist im Grunde immer fragil. Was die politische Instabilität brachte, war die spezifische kulturell-politische Kodierung der Ein- und Ausschlüsse in die kapitalistische Expansion, die schlicht nicht alle mitnehmen kann. Unter der AKP wurde in diesem Kontext in zunehmendem Maße eine eigene nationalistische Erzählung platziert, die sich konkret auf ihre Interpretation von sunnitischem Islam und ihrer Imagination einer osmanischen Vergangenheit bezog. Gezi war daher stets auch eine anti-islamistische Revolte gewesen, die über die Kritik an Lebensstilpolitiken hinaus, die neu-implementierte nationale Erzählung in Frage stellte. Die neue nationale Erzählung hatte bis dahin gerade in westlichen Staaten positiven Anklang gefunden: Ein ›kulturell-authentischer‹ Staat, befreit vom kemalistischen Jakobinismus und versöhnt mit seiner osmanischen Vergangenheit, aber eingebunden in der transatlantischen Ordnung mochte gar zu einem wichtigen diplomatischen Schlüsselakteur in der Region werden – solche Projektionen konnte man lange in westlichen (auch akademischen) Journale lesen. Tatsächlich ist die türkische Außenpolitik gegenüber ihren NachbarInnen weitestgehend gescheitert, selbst die einschlägigen Journale räumen es ein. In der Türkei hat die Identitätspolitik der AKP zu einer wachsenden islamistischen Mobilisierung geführt, die sich keineswegs in den Bahnen der Ordnung bewegt, sondern ihre ganz eigene Dynamik entfaltet. Dies gilt gerade auch für das Agieren türkischer Sicherheitskräfte im kurdischen Raum – namentlich der Spezialeinheiten von Polizei und Gendarmerie. Der nach der Wahlniederlage der AKP entfachte Bürgerkrieg wird von diesen Kräften geführt, als wäre er ein Religionskrieg: Einschlägige Gesten, Parolen und Graffiti der beteiligten Einheiten legen nahe, dass die beteiligten Einheiten die kurdische Zivilbevölkerung ernsthaft für HäretikerInnen, AtheistInnen und gar ArmenierInnen halten – also Motive verfolgen, die über die Bekämpfung der PKK hinausgehen. Diese enorme Aufladung des Konfliktes entlang imaginierter und nicht realer (bei der kurdischen Bevölkerung handelt es sich überwiegend um sunnitische Muslime) religiöser Konfliktlinien, erweckt Besorgnis. Unterstellen wir Michael Rubin, dass sich seine Besorgnis gegenüber der AKP-Regierung nicht zuletzt aus solchen Ereignissen islamistischer Mobilisierung innerhalb der Staatsapparate speist, so sollten wir dennoch nicht von einer allzu ernsten Anteilnahme für die betroffene Zivilbevölkerung ausgehen. Vielmehr dürfte der Wahrnehmungswandel innerhalb der einschlägigen neokonservativen Kreise von grundlegender Natur sein: Sie scheinen die AKP nunmehr selbst nicht mehr als „islamisch-konservative“, sondern als islamistische Partei aufzufassen, und bemerken zweitens, dass sich die Dynamiken islamistischer Mobilisierung nicht einfach kontrollieren lassen – am wenigsten von der AKP. Was Neokonservative, wie Michael Rubin reitet, heute auf das türkische Militär zu setzten – darüber kann jedoch nur zu spekuliert werden. Anscheinend halten sie den Verbleib der Türkei innerhalb der transatlantischen Ordnung für gefährdet. Dass mit wachsender islamistischer Mobilisierung eine okzidentalistische Perzeption „des Westens“ einhergeht, wird zum Beispiel in den öffentlichen Äußerungen des türkischen Präsidenten täglich zur Schau gestellt. Ob aus einer solchen Wahrnehmung, durch prominente Mitglieder der türkischen Exekutive, eine reale außenpolitische Umorientierung der Türkei folgt, ist jedoch eine ganz andere Frage. Politik basiert nicht nur auf kulturalistischen Perzeptionen von Paradigmen oder der Produktion von Symbolen, sondern auch auf konkreten Interessen. Stehen also die sich durch den Bürgerkrieg radikalisierten Dynamiken islamistischer Mobilisierung in einem positiven Verhältnis zu den Vorteilen, die aus einer leidlich stabilen Einparteienregierung resultieren? Zu den Vorteilen einer AKP-Regierung zählen – aus Sicht führender türkischer Eliten – die oft unter Beweis gestellte Fähigkeit der Partei, antineoliberale Widerstände zu brechen; also die sozioökonomische Ordnung bei allem Disput um kulturelle Symbole wirksam abzusichern. Allen vier Militärinterventionen (1960, 1971, 1980 und 1997) gingen ernste Zweifel der führenden Klassenakteure über die Reproduktion der sozioökonomischen Ordnung voraus. Das Memorandum der Streitkräfte von 2007 scheiterte gerade auch an der Unterstützung führender Klassenakteure. Gegenwärtig befindet sich die Ökonomie nicht in einer schweren Krise und die herrschenden, sie regulierenden Paradigmen werden von der AKP nicht herausgefordert. Die Spannungen zwischen der AKP und der US-Regierung mögen geopolitischer Natur sein.  Die dominierende Dimension der transatlantisch-türkischen Beziehungen stellt aber aus Wahrnehmung führender türkischer Klassenakteure aber eine andere dar: Der ›Westen‹ steht immer auch für regulative Paradigmen der Governance von Klassenverhältnissen. Weite Teile des türkischen Wirtschaftsregimes werden durch die EU-Zollunion kodifiziert und die AKP bemüht um aktive Teilhabe am TTIP, die sie als Upgrade der Zollunion bezeichnet. Es gibt also wichtige Felder, auf denen sich die AKP klar innerhalb der Ordnung positioniert und das Verhältnis stabil ist. Selbst türkische Exporterfolge in nicht-westliche Staaten ruhen wesentlich auf den Schultern dieser Stabilität. Vor allem aber gilt: Das alles sind primär Fragen, die türkische Machtblockakteure gemäß ihrer Interessen stellen und beantworten. Einen mechanischen Transmissionsriemen gibt es nicht. Wenn unter einer der vielen möglichen Antworten ein Putsch denkbar ist, so sicherlich nicht auf Grund eines Artikels von Michael Rubin. Artikel, wie die von Rubin besitzen ihre Relevanz vor allem als Gradmesser für die Verschiebung des internationalen Diskurses, den auch türkische Eliten zur Kenntnis nehmen weil sie, wenn sie sich häufen, als Möglichkeitskorridore interpretiert werden können. Und schließlich wäre im Übrigen noch die folgende Frage zu bedenken: Durch die vielschichtigen organisatorischen und ideologischen Transformationen des Sicherheits- und Polizeiapparates, stünden den Streitkräften zumindest potenziell bewaffnete Gegner mit gefestigter Identität und soliden militärischen Erfahrungen plus Ausstattung gegenüber. Nicht zu vergessen die militärischen(!) und nicht nur polizeilichen Erfahrungen, die sie seit dem Sommer 2015 haben sammeln können. Und gibt es überhaupt (noch) das homogene kemalistische Militär? Oder handelt es sich nicht um allenfalls noch einzelne kemalistische oder vielleicht andere dissidente Strömungen im Militär? Es ist durchaus möglich, dass der von Rubin ersehnte Militärputsch im Dienste anderer Ziele stünde, als jene, von denen er träumt. Noch wahrscheinlicher ist, dass der Putsch durch eine schwache innere Kohärenz der Streitkräfte von Beginn an mit Problemen zu kämpfen hätte und sich eine türkische Regierung, erstmals in der Geschichte des Landes, dem unter Rückgriff auf eigene loyale Kräfte innerhalb und außerhalb der Streitkräfte versuchen würde, den Putsch militärisch zu brechen. Türkische Akteure haben darauf wahrscheinlich einen differenzierteren Blick als Rubin – können aber auch genauso (wie er) Fehler machen und sich nach den Streitkräften sehnen. LUX & BEYOND heißt das neue Online-Format der LuXemburg. Hier verweisen wir auf aktuelle Beiträge (im Englischen) zu internationalen politischen Debatten.