Am Koalitionsvertrag der neuen Regierung muss man aus verkehrspolitischer Sicht vieles kritisieren – von allgemeiner Ideenlosigkeit über fehlende Maßnahmen zur Verkehrsvermeidung bis zu mangelhaftem Klimaschutz. Wie aber sieht es mit dem Schienenverkehr aus, dem großen Hoffnungsträger einer Verkehrswende?
Die neuen Koalitionspartner bekennen sich zu den Zielen, die auch die alte Regierung zumindest rhetorisch bereits verfolgte: eine Steigerung des Marktanteils der Schiene im Güterverkehr von heute 19 auf 25 Prozent und eine Verdoppelung der Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr – beides bis zum Jahr 2030. Das macht aber nur Sinn, wenn dieser Verkehr nicht zusätzlich entsteht, sondern tatsächlich von den klima- und umweltschädlicheren Verkehrsträgern weg verlagert wird. Genau das dürfte aber kaum gelingen, denn die dafür notwendigen Push-Maßnahmen, die beispielsweise den Luft- und Straßenverkehr teurer oder unattraktiver machen würden, findet man im Koalitionsvertrag kaum – ganz im Gegenteil sollen sie weiter intensiv unterstützt werden.
Immerhin soll der Ausbau des Schienennetzes endlich Vorrang vor der Straße bekommen. Dabei dürfte aber ein Großteil der versprochenen Investitionsmittel in neue Großprojekte mit fragwürdiger Klimabilanz fließen, die momentan im Zuge des Deutschlandtakts geplant werden. Dazu gehören die Neubaustrecken Bielefeld–Hannover und Würzburg–Nürnberg. Mit vielen kleineren kapazitätserweiternden Maßnahmen im Schienennetz und Ausbau- statt Neubauprojekten könnte aber letztlich sogar ein robusterer Taktfahrplan realisiert werden.[1] Auch eine Senkung der in Deutschland vergleichsweise hohen Trassenpreise für die Nutzung der Schienen könnte die Bahn deutlich attraktiver machen. Dies soll jedoch gemäß Koalitionsvertrag nur umgesetzt werden, „sofern haushalterisch machbar“.
Ein großer Streitpunkt zwischen den Ampelkoalitionär*innen war die zukünftige Struktur der Deutschen Bahn (DB). Grüne und FDP hätten sie gerne in eine staatliche Netzgesellschaft und privatwirtschaftliche Transportbetriebe zerschlagen. Die SPD tritt hingegen für eine integrierte Bahn mit Netz und Betrieb unter einem Dach ein. Ob der Kompromiss, die Infrastruktur innerhalb der DB nur wirtschaftlich vom Rest des Konzerns zu trennen, funktionieren wird, bleibt abzuwarten. Sowohl die fehlende politische Steuerung als auch die dringend notwendige Konzentration auf das Kerngeschäft Personentransport anstatt internationaler Logistik bleiben jedoch gigantische Leerstellen im Koalitionsvertrag.
Zweifelhafte Bilanz der Liberalisierung
Sehr deutlich bekennt sich die neue Koalition dafür zum liberalisierten Bahn-Markt. Die Verkehrsunternehmen sollen „markt- und gewinnorientiert im Wettbewerb“ geführt werden. Der liberalen Hoffnung gemäß soll dies zu besserer Qualität und niedrigeren Preisen führen. Auch der designierte Verkehrsminister Volker Wissing steht als Mitglied des Schaumburger Kreises, des liberal-konservativen Wirtschaftsflügels der FDP, wohl für diese Agenda. Aber funktioniert ein solcher Markt auf der Schiene tatsächlich? Dazu lohnt ein Blick auf Erfahrungen im Ausland und im deutschen Schienenpersonenverkehr.
Am konsequentesten hat Großbritannien den Wettbewerb auf der Schiene umgesetzt: In den 1990er Jahren wurde dort die British Rail in eine Vielzahl von privaten Gesellschaften zerschlagen. Zunächst war sogar das Schienennetz privatisiert worden – was sich aber als schlechte Idee erwies, da das Unternehmen Railtrack zwar anfangs traumhafte Gewinne einfuhr, diese aber offensichtlich durch Aufschieben von Instandhaltungsmaßnahmen finanzierte. Als es in der Folge zu mehreren tödlichen Unfällen kam, musste der Staat 2002 das Netz wieder übernehmen und für viele Milliarden sanieren. Seitdem herrscht in Großbritannien also der Wettbewerb, den FDP und Grüne auch bei uns gerne hätten: 25 Transportgesellschaften konkurrierten zuletzt um den Betrieb der verschiedenen Verbindungen auf dem staatlichen Netz, darunter die DB-Tochter Arriva. Allerdings sind die Brit*innen in Anbetracht mittelmäßiger Leistungen und hoher Preise alles andere als zufrieden mit diesem System. Auch der „Williams Rail Review“ zeigte im Auftrag der Regierung, wie ineffizient das System durch die verschiedenen miteinander konkurrierenden Akteure ist. Daher wird nun Great British Rail – ironischerweise unter einer Tory-Regierung – erneut als staatliche Bahngesellschaft gegründet.
Auch hierzulande sind die Erfahrungen mit dem Wettbewerb auf der Schiene bestenfalls durchwachsen. Im Fernverkehr ist Flixtrain der einzige echte Wettbewerber und platziert sich als Billiganbieter. Das Geschäftsmodell ist Rosinenpicken, da die grünen Züge nur auf den beliebten Verbindungen zwischen den Metropolen fahren, während die weniger lukrativen Verbindungen allein der DB überlassen bleiben. Für viele Verbindungen gibt es keine durchgehenden Tickets, weil Flixtrain keine Anschlusstickets verkauft. Es kommt immer wieder zu kurzfristigen Zugausfällen, ohne dass die Fahrgäste DB-Züge als Alternative nutzen könnten. Während des Corona-Lockdowns hatte Flixtrain seinen Betrieb sogar monatelang komplett eingestellt. Und bei den meisten Subunternehmen, die die Züge für Flixtrain fahren, gibt es weder Tarifbindung noch Betriebsräte. Ein solcher Open-Access-Wettbewerb kann nicht die Zukunft des deutschen Bahnverkehrs sein – erst recht nicht, wenn die Züge zukünftig im Deutschlandtakt eng abgestimmt und pünktlich verkehren müssen.
… nur wenn die Öffentlichen einspringen
Eine andere Art von Wettbewerb herrscht im Nahverkehr: Da dieser immer direkt staatlich mitfinanziert ist, wird der Betrief hier in Ausschreibungen vergeben. Die Aufgabenträger – meist Verkehrsverbünde oder Landesnahverkehrsgesellschaften – definieren den gewünschten Verkehr, und dann können sich verschiedene Eisenbahnverkehrsunternehmen um den Betrieb bewerben. Entstanden ist damit ein Wettbewerb vorwiegend zwischen den europäischen Staatsbahnen: Während in Deutschland Abellio als Tochterunternehmen der niederländischen NS, Netinera als Tochter der italienischen FS und Keolis als Tochter der französischen SNCF mit der DB um Aufträge konkurrieren, betreibt die DB wiederum durch ihr Tochterunternehmen Arriva Nahverkehr in vielen anderen Ländern. Das Ergebnis ist gemischt. Auf einigen Strecken funktioniert der Verkehr gut, auf anderen kommt es immer wieder zu Problemen:
- Vor allem bei den Betriebsübernahmen fehlt es häufig an Personal und einsatzfähigen Zügen. Bei der Übernahme des Dieselnetzes Sachsen-Anhalt konnte der neue Betreiber Abellio wegen Personalmangels sogar einige Linien über Wochen nicht betreiben.
- Bei der S-Bahn Rhein-Ruhr mussten im Herbst 2019 nur zweieinhalb Monate vor Betriebsübernahme zwei Linien neu vergeben werden, weil der neue Betreiber Keolis nicht genügend Personal einstellte. Bisher kann die DB in solchen Fällen noch einspringen – aber als eines von vielen kleineren Unternehmen wäre das langfristig kaum noch möglich.
- Auch im täglichen Betrieb häufen sich bei einigen Betreibern Zugausfälle und Verspätungen – was häufig mit Wartungsproblemen oder mangelhafter Personalplanung zusammenhängt. Um Personalmangel abzufedern, bildet das Land Baden-Württemberg inzwischen selbst Lokführer*innen aus und stellt diese sogar ein, um sie an die Betreiberunternehmen ausleihen zu können. So übernimmt das Land Kosten und Risiken für die Betreiber.
- Im Extremfall können Unternehmen sogar pleitegehen – wie im Juli 2019 die Städtebahn Sachsen. Das hatte die wochenlange Einstellung mehrerer Regionalbahnlinien zur Folge. Aktuell steht der Betreiber Abellio am Rande der Insolvenz, weil er wohl mehrere Ausschreibungen mit Kampfpreisen gewonnen hat und nun Verluste erwirtschaftet. Hier zeigt sich das hohe Erpressungspotenzial der Drohung einer kompletten Betriebseinstellung.
In der Anfangsphase dieses Wettbewerbs konkurrierten die Unternehmen vor allem über die Löhne und Arbeitsbedingungen. Seit Zugpersonal und vor allem Triebfahrzeugführer aber schwer zu finden sind, ist dieses Lohndumping zum Glück kaum noch möglich. Da die Aufgabenträger bis hin zum Personaleinsatz die Bedingungen immer genauer festlegen, um Qualitätsprobleme zu vermeiden, und die Züge teilweise sogar selbst anschaffen, haben die Betreiberunternehmen ohnehin immer geringere Spielräume. Das stellt selbst aus Sicht vieler Befürworter*innen den Sinn dieses Ausschreibungswettbewerbs infrage. Eine Studie im Auftrag des Landes Thüringen ergab, dass letztlich eine Landesbahn die deutlich günstigere Alternative zum Ausschreibungswettbewerb wäre.[2] Und Baden-Württemberg ist aktuell froh, eine solche Landesbahn bereits zu haben, die kurzfristig den Verkehr vom Insolvenz-bedrohten Unternehmen Abellio übernehmen kann.
Gemeinwohl statt Konkurrenz
Statt eines Wettbewerbs auf der Schiene spricht vieles für eine integrierte gemeinwohlorientierte Bahn nach Schweizer Vorbild. Der Erfolg des Schweizer Bahnsystems mit einem zuverlässigen, dichten Takt, durchgehenden Tickets im gesamten öffentlichen Verkehr und seiner hohen Beliebtheit spricht für sich. Netz und Betrieb sind hier unter einem Dach, und kantonale Bahnen sind kooperativ eingebunden. Auch die deutschen Planungen für eine Verdoppelung des Personenverkehrs und einen Deutschlandtakt lassen keine Reibungsverluste durch viele konkurrierende Akteure zu, weil die Züge in engem Takt aufeinander abgestimmt verkehren müssen. Gleichzeitig ermöglicht die Integration von Landesbahnen regional verankerte Strukturen im Nahverkehr. Und auf internationaler Ebene könnten die Bahnen durch Kooperation statt Konkurrenz endlich den grenzüberschreitenden Verkehr wieder ausweiten. So wäre eine echte Verkehrswende mit einer Verkehrsverlagerung auf die Schiene möglich.