Im Falle eines kompletten Lieferausfalls wäre mit Ausnahmen Italiens, wo Strom zur Hälfte aus Erdgas gewonnen wird, kein Land Europas so signifikant betroffen wie Deutschland. Damit sind ernst zu nehmende Herausforderungen verbunden. Einige Interessengruppen und Politiker*innen versuchen hier allerdings Lösungen anzubieten, die dem Problem in keiner Weise gerecht werden. Gefordert wird etwa, das Ziel der Bundesregierung, möglichst bis 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen, zu revidieren oder die AKW-Laufzeiten zu verlängern. Stattdessen müsste es darum gehen, zum einen den Druck und die Unterstützung für Energieeinspartechnologien zu erhöhen, und zum anderen den bislang schleppenden Umstieg auf Erneuerbare auch im Wärmebereich sowie die überfällige Verkehrswende voranzutreiben. Klar ist zudem, dass eine soziale Abfederung dieses Prozesses eine noch größere Rolle spielen wird als bisher. Die Leitschnur in der nun anstehenden Debatte muss deshalb sein, in Friedensenergien zu investieren und die Kosten dafür gerecht zu verteilen, statt militärisch aufzurüsten.
Falls der Hahn zugedreht wird
Ob und inwieweit sich die Lieferungen von Erdgas, Öl und Steinkohle aus Russland tatsächlich reduzieren werden, ist derzeit Spekulation. Denn Moskau verdient in diesem Jahr allein an Steuereinnahmen aus der Ausfuhr von Erdöl und Erdgas125 Milliarden Dollar. Sie füllen Putins Kriegskasse und angesichts der teils sanktionsbedingt festgefrorenen Auslandskonten kommt diesen Einnahmen derzeit eine besondere Rolle zu. Andererseits könnte ein Lieferstopp fossiler Rohstoffe eine Antwort des russischen Regimes auf genau diese Sanktionen und die Unterstützung des Westens für die Ukraine sein.
Wie empfindlich würden sich nun Lieferstopps auswirken, und wie könnte kurz- und langfristig darauf reagiert werden? Die größte Herausforderung dürfte in einer drastischen Reduzierung der importierten Gasmengen liegen. Obwohl die Gasspeicher in Deutschland zum Ende des Winters mit 30 Prozent nur gering gefüllt sind, rechnen Energiewirtschaft und Politik für die kommenden Monate nicht mit einschneidenden Auswirkungen für die Versorgungssicherheit. Sollten sich dennoch Engpässe ergeben, griffe eine Hierarchie, bei der zum Schutz privater Haushalte und Infrastrukturen wie Krankenhäuser, zuerst die Industrie ihren Erdgasverbrauch mindern müsste. Mit 35 Prozent hat sie den höchsten Anteil am deutschen Erdgasverbrauch.
Ernsthafte Probleme könnten hingegen für den nächsten Winter drohen, da Gas im Wärmebereich nicht so einfach innerhalb weniger Monate durch andere Energieträger zu ersetzen ist. Die Gasspeicher müssen darum im Herbst wieder gut gefüllt sein. Während der dunklen Monate wären jedoch (wie bisher) zusätzlich fortlaufende Lieferungen erforderlich.
Um vom russischen Erdgas und sonstigen Krisen unabhängiger zu werden, plant die Bundesregierung neue Instrumente. So will sie über vorgeschriebene Mindestfüllstände für die privaten Gasspeicher eine strategische Gasreserve einrichten. Werden die Füllstände unterschritten, müssen die Betreiber Sonderausschreibungen vornehmen. Für die Kosten der Reservehaltung kommt der Staat auf.
Ersetzende Erdgaslieferungen würden vor allem aus anderen Weltregionen kommen, vor allem über Flüssiggastanker, die Liquefied Natural Gas (LNG) transportieren. Dieses verflüssigte tiefgekühlte Erdgas wäre weltweit knapp, also teuer (u.a. aus den USA, Katar, Australien). Zusätzlich könnten Norwegen und Algerien ihre Pipeline-Lieferungen in die EU erhöhen.
Sollten für ganz Europa russische Gaslieferungen ausfallen, so müsste der jetzige globale LNG-Markt von 500 Milliarden Kubikmeter um 28 Prozent wachsen, errechnete Tagesspiegel Background (TSB). Ein großer Teil davon wäre an LNG-Terminals westeuropäischer Küsten anzulanden, zu regasifizieren und per Pipelines nach Deutschland zu leiten, da hierzulande keine solche Anlagen existieren. Wirklicher Bedarf für sie bestand bislang auch nicht: Die günstig gelegenen und mit der Bundesrepublik vernetzten LNG-Terminals in Rotterdam, Zeebrügge und Dünkirchen waren jahrelang unterausgelastet, das Erdgas kam ohnehin aus dem Osten. Nunmehr seien die Terminals jedoch vollständig ausgebucht, so der Tagesspiegel. Zudem erschwerten technische Restriktionen den Gastransport von West nach Ost.
Dennoch steht in Frage, ob die neuerdings auch vom grünen Klimaminister Robert Habeck begrüßten und mit enormen Fördermitteln bedachten LNG-Terminals, die in Brunsbüttel, Stade und Wilhelmshaven geplant sind, tatsächlich gebraucht würden. Bis die Genehmigung und der Bau vollzogen wären, vergingen Jahre. Auch wären sie später nicht so einfach auf grünen Wasserstoff umzustellen, wie das manchem Lobbyisten über die Lippen geht. Vielmehr besteht hier die Gefahr, dass sie ein Türöffner für dauerhafte LNG-Importe sein könnten – ein weiterer Lock-In in eine neue fossile Sackgasse.
Unter dem Strich wird in den Expertenrunden noch darüber gestritten, wie viel Gas bei einem vollständigen Importstopp russischen Gases in den nächsten Wintern trotz Einsparungen fehlen könnte, die Berechnungen sind hochkomplex. Es scheint aber, dass die Lücke nur unter sehr optimistischen Annahmen (alternative Gaslieferungen wären tatsächlich konstant verfügbar, die europäischen Gasspeicher würden übers Jahr vollständig gefüllt werden können) überschaubar wäre.
Jenseits russischer Kohle
Auch für Steinkohlekraftwerke gibt es vielfach keinen kurzfristigen Ersatz. Sie erzeugen nicht nur Strom, sondern versorgen häufig auch große Stadteile mit Wärme. In einzelnen dieser Kraftwerke werden aktuell bis zu 75 Prozent russische Steinkohle verfeuert, schreibt der Bundesverband der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in einem Sachstandsbericht.
Steinkohle lässt sich im Vergleich zu Erdgas aus mehr Regionen der Erde beziehen, was aber höhere Transportkosten zur Folge haben kann. Auch die Steinkohlepreise selbst würden bei einem Lieferstopp Russlands wohl noch stärker steigen als im letzten Jahr. Im wichtigen Lieferland Australien schüttet in diesen Tagen eine „Regenbombe“ unermessliche Wassermassen auf jene Küstenregion, in der sonst Steinkohle verladen wird. Dass diese Region nun verheerende Zerstörungen hinnehmen muss, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Klimawandel-bedingt. Statistisch wäre solch ein Starkregen eines von den „Jahrtausend-Ereignissen“ die nun jedes Jahr irgendwo auf der Erde stattfinden.
Flucht nach vorne...
Jenseits von schwierigen und teuren Möglichkeiten, die Lieferregionen zu diversifizieren, müssen vor allem schnellstmöglich und entschlossen all jene Aufgaben angepackt werden, die ohnehin auf der Liste notwendiger Klimaschutzmaßnahmen stehen, aber seit Jahren nur schleppend vorankommen. Dazu gehören kurzfristig mögliche Maßnahmen zur Optimierung von Heizungen, die – sofern gut eingestellt – den Öl- und Gasverbrauch deutlich senken können. Einen etwas längeren Vorlauf bräuchte (wegen Planung und Handwerker*innen) eine Offensive für Wärmepumpen, die mit einer Kilowattstunde Ökostrom drei Kilowatt Erdgas ersetzen können, weil sie aus Boden, Wasser oder Luft Umweltwärme „ernten“. Schließlich sparen gut isolierte Gebäude drastisch Heizenergie. Insofern müsste eine sozialverträgliche Gebäudesanierung vorangetrieben werden. Diese braucht allerdings nicht nur Zeit, sondern auch bessere mietrechtliche und soziale Absicherung, soll sie nicht zum Verdrängungsfaktor werden. Beschleunigt werden muss der Prozess aber unverzüglich. Nicht zuletzt deshalb, weil Wärmepumpen vor allem als Niedrigtemperatursysteme eingesetzt werden, also vernünftig gedämmte Häuser als Grundlage benötigen.
Und die Stromversorgung? Der Anteil der Erdgaskraftwerke zur Elektrizitätsversorgung beträgt nur 13 Prozent, wobei die Hälfte davon auf russischem Gas basiert – eine überschaubare Größenordnung, die sich kurzfristig durch Verstromung von Alternativen (Kohle) und mittelfristig durch den Ökostrom-Ausbau ersetzen lässt. Sollte es hart auf hart kommen, müssten als letztes Mittel pragmatisch auch einige Kohlekraftwerke, die momentan außerhalb des Marktes in staatlich angeordneter Sicherheitsbereitschaft oder in Kapazitätsreserve schlummern, kurzzeitig zurück ans Netz.
Eine Verlängerung der Laufzeiten der drei letzten Atomkraftwerke, die keinerlei Wärme auskoppeln, würde dagegen kaum etwas zur Entspannung beitragen. Auch hätten die auf den Ausstieg Ende 2022 eingestellten Betreiber Probleme, entsprechend angefertigte Brennstäbe zu organisieren. Dennoch plädierte NRW-Wirtschaftsminister Pinkwart (FDP) am Donnerstag im einem Interview dafür, nun die AKW-Laufzeiten zu verlängern. Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder, in dessen Bundesland die schärfsten Abstandsregeln den Ausbau der Windkraft seit Jahren praktisch verhindern, lieferte dafür mit einer ähnlichen Forderung die absurde Vorlage. Dabei hat Der Spiegel gerade vorgerechnet: Wären die Abstandsregelungen bundesweit so streng wie in Bayern, dürfte es 71 Prozent der Windräder in Deutschland gar nicht geben. Anstatt also auf diese Weise zu irrlichtern, sollten Pinkwart und Söder besser die Energie- und Verkehrswende vor Ort beschleunigen. Beides wäre aktuell auch mit Blick auf möglicherweise reduzierte russische Ölliefermengen hilfreich. Bundesweit wäre außerdem ein sofortiges Tempolimit ein wichtiger Schritt.
Was den Kohleausstieg bis 2030 angeht, den nun etwa Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) angesichts der aktuellen Lage in Frage stellt, so hat der BDEW in seinem Sachstandsbericht dazu eine klare Einschätzung: „Ein anvisierter vorgezogener Kohleausstieg ist unter der Bedingung von Substitutionen durch Erneuerbare Energien und die erforderliche gesicherte Leistung weiterhin möglich“. (BDEW-Lagebricht, 28.2.2022)
... statt zurück
Einen Griff in die Kiste falscher Lösungen lieferte auch der von der ehemaligen Grünen-Politikerin Kerstin Andreae geführte Spitzenverband, allerdings in Sachen Wasserstoff. Mit Blick auf längere Zeiträume ist der These, der Hochlauf von Wasserstoff sei von zentraler Bedeutung für den Transformationspfad der Gaswirtschaft hin zur Klimaneutralität zwar zuzustimmen. Der BDEW bezieht sich aktuell aber auf die Ukraine-Krise und nutzt diese in seinem Sachstandsbericht, um weitere Wünsche nachzuschieben, deren Erfüllung allerdings andere zu zahlen hätten: Entscheidend sei, „dass zu restriktive Kriterien“, dafür, was überhaupt grüner Wasserstoff sei und zu welchen Bedingungen er produziert werde, „einen schnellen Markthochlauf auszubremsen drohen und daher verhindert werden müssen“(BDEW-Lagebricht, 28.2.2022). Nach der bundesdeutschen Wasserstoffstrategie soll bekanntlich der Löwenanteil des künftig benötigten Wasserstoffs aus dem Ausland kommen. Mit laschen Nachhaltigkeitskriterien ginge die Produktion von Wasserstoff im Globalen Süden für den deutschen Markt jedoch zu Lasten der dortigen Bevölkerung oder der Energiewende. Damit könnte neuer imperialer Zündstoff gelegt werden.
Brisanter heimischer Zündstoff liegt darin, dass die ohnehin schon historisch hohen Energiepreise infolge der russischen Invasion weiteren Auftrieb erhalten könnten. Eine soziale Abfederung dieser Entwicklung durch die Bundesregierung muss daher eine zentrale Aufgabe sein. Auch in dieser Hinsicht ist es deshalb ein Unding, dass die Bundesregierung nun plant, in den kommenden Jahren 100 Mrd. Euro in zusätzliche Panzer und Kanonen zu investieren.