Die von Fridays for Future (FFF) geforderten Klimaschutzmaßnahmen ignorierten die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in Deutschland, ließ Bundesverkehrsminister Wissing verlauten, als er von den Umweltverbänden und Fridays for Future am 17. Juli öffentlich des erneuten Rechtsbruchs „angeklagt“ wurde. 

Man fragt sich, von welchen Realitäten hier ausgegangen wird: Die knapp 200 Toten bei der Flut im Ahrtal und in NRW vor zwei Jahren hat Herr Wissing dabei offenbar ebenso wenig im Blick wie die Massenevakuierungen auf Rhodos oder Taifune in Mailand in diesem Sommer.

Angeklagt wurde der Minister natürlich nicht wirklich – obwohl er sich als zuständiger Minister das zweite Jahr in Folge weigert, sich an das geltende Klimaschutzgesetz (KSG) zu halten. Angeklagt werden die von der „bürgerlichen Presse“ als Klima-Kleber bezeichneten Klima-Aktivist*innen, die auf den Rechtsbruch der Bundesregierung aufmerksam machen. 

Wobei auch das so nicht ganz stimmt: Einige Umweltverbände waren so freundlich, anstelle der Regierung auf die Einhaltung der deutschen Gesetze zu achten und haben die Bundesregierung ob ihrer Versäumnisse im Klimaschutz tatsächlich verklagt.[1] Aber das bedeutet noch lange keine persönlichen Konsequenzen für diesen oder irgendeinen Minister, selbst wenn die Bundesregierung eine juristische Niederlage erleidet. Aktuelles Beispiel – die Pkw-Maut: Hier müssen wir nun alle den Populismus der CSU ausbaden. Kostenpunkt: 243 Millionen Euro, die als Schadensersatz an die ehemaligen Auftragnehmer für den Aufbau des Pkw-Mautsystems vom Bund gezahlt wurden. Nicht nur die völlig übereilte Kündigung des Vertrages durch den ehemaligen Verkehrsminister Andreas Scheuer war sehr dumm, sondern der Vertrag selber war es auch. Jedenfalls wird keine Rechnung nach Bayern geschickt, obwohl Minister Wissing – für mich überraschend – nun immerhin einen Regress prüfen will.[2] Offenbar gibt er dem öffentlichen Druck nach. Aber ich bin mir sicher, da wird nichts geschehen, schon gar nicht von Herrn Wissing, sonst könnte am Ende womöglich ja er selber, für das Unterlassen der planetaren Hilfeleistung, angeklagt werden.

Geduldeter Rechtsbruch

Am 17. Juli war die „Deadline“, bis zu der Minister Wissing ein sogenanntes Klimaschutzsofortprogramm nach § 8 Abs. 1 KSG hätte vorlegen müssen. Die um diesen Tag erfolgte mediale Aufregung und die Veranstaltungen der Verbände waren völlig richtig und auch wichtig. Weniger bekannt ist unterdessen, dass es bereits seit einem Jahr einen geduldeten Rechtsbruch des Bundesverkehrsministeriums gibt. Ein am 13. Juli 2022 vorgelegtes Sofortprogramm des Verkehrsministeriums, das einen Ausgleich der Überschreitung der Sektorhöchstmenge um 3,1 Millionen t CO2-Äquivalente im Jahr 2021 vorsieht, wurde nie formal beschlossen, geschweige denn umgesetzt. Nachdem der Expertenrat für Klimafragen, der die offizielle, gesetzlich legitimierte Aufgabe der neutralen Begutachtung dieser Programme hat, dem Minister bescheinigte, sein Programm sei schon im Ansatz ohne Anspruch, passierte: nichts. 

Stattdessen zog Minister Wissing in mehreren Ausschüssen des Bundestages über den Expertenrat für Klimafragen her, der es gewagt hatte, seinem Sofortprogrämmchen die Note 6 zu geben. Dass der Expertenrat recht hatte, sieht man ganz einfach daran, dass die Höchstmenge im Jahr 2022 um gut neun Millionen t CO2-Äquivalente überschritten wurde, noch einmal viel deutlicher im Vergleich zu 2021. Wenn die Sektorziele de facto aufgehoben werden, was zunächst am 28. März im Koalitionsausschuss beschlossen und mittlerweile in Paragraphen gegossen vom Kabinett am 21.6. als Gesetzentwurf beschlossen wurde, dann muss der Bundesverkehrsminister auch nie wieder ein Sofortprogramm auflegen. Dann hat sich Herrn Wissings „Bockigkeit“ ausgezahlt – leider. Dann wird er erst recht nur noch Verkehr ermöglichen, nicht verhindern, wie er süffisant sagt. 

Wissings Aussage in Richtung FFF im TV-Sender Welt, „Die Behauptung, die Menschen würden sich in Deutschland nach einem Verbot des Individualverkehrs sehnen, halte ich für absurd“, ist ein weiteres Beispiel für seine perfide Taktik, Klimaschutz zu diskreditieren. Dass sich viele Menschen danach sehnen, darum geht es auch gar nicht, sondern schlicht darum, dass es anders nichts wird mit dem Klimaschutz im Verkehr. Bleibt die Zahl der Pkw gleich hoch oder steigt sie gar weiter an – dann war’s das! Egal wie viele davon E-Autos sind.

Offenbar war die Klage der Umweltverbände auch ein wichtiges Argument für den Verkehrsminister, auf die Legalisierung des Bruches des Klimaschutzgesetzes durch das Bundesverkehrsministerium, also letztlich durch ihn, zu drängen: Er will schlicht nicht verurteilt werden: In einer Demokratie müssen demokratische Mehrheiten entscheiden. Aber der Gesetzgeber hätte ein System geschaffen, in dem am Ende die Gerichte entscheiden müssen. Etwas aus der Verantwortung der Regierung wegzuschieben, das ginge doch nicht! Außerdem würde die Reform des Klimaschutzgesetzes doch eine Stärkung des Klimaschutzes bedeuten, weil nicht mehr einzelne Ressorts, sondern die gesamte Regierung in Verantwortung stünde – so der Minister. Den Einwand, dass ausgerechnet er als ehemaliger Richter den Gerichten Vorschriften machen wolle – verneinte er natürlich, aber es sei eben einfach schwierig, wenn Gerichte ein Sonntagsfahrverbot verhängen, und die Menschen dann „Oma“ am Wochenende nicht mehr besuchen dürften. Nur, darum geht es gar nicht. Gerichte werden keine konkreten Maßnahmen vorschreiben, weil sie sehr wohl um die Gewaltenteilung wissen, sondern nur urteilen, dass der Minister sofort wirksame Maßnahmen vorlegen müsse. In der Novelle des Klimaschutzgesetzes ist nun übrigens vorgesehen, dass der Expertenrat die neue Befugnis erhält, selber Klimaschutz-Maßnahmen vorzuschlagen. Dabei liegen die doch schon lange auf dem Tisch! Die Politik ist nur entweder nicht Willens oder nicht in der Lage, zu entscheiden. 


Ratespiel: Was wird passieren, wenn der Expertenrat ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen vorschlägt? 
Antwort A: Danke, da sind wir noch gar nicht drauf gekommen!
Antwort B: Das geht leider an der Lebenswirklichkeit der Menschen in Deutschland vorbei.
Lösung ist Antwort C: Das steht nicht im Koalitionsvertrag.


Minister Wissing sagte auch, er könne doch nichts dafür, dass Deutschland seine Klimaziele im Verkehrsbereich nicht einhalte, schließlich fahre er ja nicht. Mein Vorschlag, wenn er nicht weiß, was er mit seinem politischen Amt anfangen soll, dann soll er es doch niederlegen und zumindest versuchen, im Privaten zum Klimaschutz beizutragen, wenn er denn keine politisch gestalterischen Ideen hat. 

Beim Cannabis schien es mit der Legalisierung noch zu dauern. Denn als Thomas Lutze, Sprecher und Obmann der Fraktion die LINKE, in einem Obleutegespräch im Frühling sagte, Cannabis würde ja bald legalisiert, da müssten wir uns im Verkehrsausschuss Gedanken machen, was das für Fahren bedeute, rief ihm einer aus der Koalition scherzhaft zu: „Was hast du denn geraucht?“ Mit dem Schleifen des Klimaschutzgesetzes hingegen sollte es zunächst ganz schnell gehen.

Minister Habeck hat sich dann aber Zeit gelassen, der Gesetzentwurf wurde erst am 21. Juni zusammen mit dem „großen“ Klimaschutzprogramm im Kabinett verabschiedet und wurde noch nicht in den Bundestag eingebracht. Er scheint ein Unterpfand dafür zu sein, dass den Grünen neben dem so heiß umkämpften Gebäudeenergiegesetz (GEG) zwei zentrale, mehrfach versprochene verkehrspolitische Vorhaben – die Verdopplung der Lkw-Maut, die ab 2024 zu deutlich mehr Mitteln für Ausbau und Modernisierung der Bahn führen soll, sowie die Reform des Straßenverkehrsrechts (StVG und StVO) für mehr kommunalen Verkehrswende-Spielraum – auch tatsächlich umgesetzt werden. Vermutlich soll der FDP auch die Blamage eines Urteils nicht erspart werden. Denn solange das Klimaschutzgesetz gilt, muss es auch eingehalten werden, auch wenn der Kanzler das anders sieht und Minister Wissing mit Verweis auf den Koalitionsbeschluss vom 28.3. mit der beabsichtigten Aufgabe der sog. Sektorziele davon freispricht, ein Sofortprogramm auflegen zu müssen (t-online, 17.4.2023).[3] Oder hoffen die Grünen gar auf Gegen- bzw. Rückenwind gegen die Neufassung des Klimaschutzgesetzes?, sodass sie die vielleicht sogar ganz verhindern können, oder sie aber zumindest deutlich schwächer, nur „minimalinvasiv“ ausfällt?

Immerhin ist die Reaktion des Ministers auf die Klima-Aktionen noch eine zivilisierte, hat er sich dazu lediglich geäußert und sogar zum Gespräch mit der „Letzten Generation“ getroffen. Dafür wurde er dann allerdings im Ausschuss heftig von Union und AfD angegangen, wie könne man denn mit Kriminellen reden! Dankenswerterweise stellte Thomas Lutze in der Debatte klar, dass er auch schon „kriminell“ war, er hätte nämlich gegen Castor-Transporte demonstriert und sich festgekettet. Und waren da nicht auch mal die Grünen und die SPD dabei gewesen?

Kulturkampf um den Klimaschutz

Aber, es ist eben leider so, außer in den Innenstädten der Großstädte, da, wo im Extremfall (Berlin Kreuzberg und Berlin Mitte) weniger als 200 Pkw auf 1 000 Einwohner*innen kommen – im bundesdeutschen Durchschnitt waren es Ende 2022 mit 579 fast dreimal so viele – gibt es keine politischen Mehrheiten für eine echte Verkehrswende, eine, die mit wirksamen Maßnahmen den Autoverkehr einschränkt. Natürlich ist die Mehrheit der Menschen für Klimaschutz, aber viele dann doch eben nicht so, dass man selber dadurch Einschränkungen erleidet. Zum eigenen Verzicht sind nur circa ein Drittel der Menschen bereit.

Nicht umsonst war das Erste, was man von Berlins neuer Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) zu hören bekam, dass man die vielen geplanten Radwege stoppen müsse, kein Parkplatz und keine Fahrspur dürfe dafür wegfallen. Dabei hatte sie weniger die Bedürfnisse der Bewohner*innen der Innenstädte im Blick – die kämpfen eher selten für die Parkplätze, sondern für mehr Platz für ihre Kinder oder Grünflächen oder Cafés. Nein, Frau Schreiner dachte wohl eher an ihre Wähler*innen aus den Außenbezirken, wo mehrheitlich Union gewählt wurde. Die meisten Menschen dort wollen nämlich mit ihrem Auto schön bei der Arbeit, dem Kino oder Restaurant vor der Tür parken – und interessieren sich ansonsten wenig um die Menschen, die in der Innenstadt tatsächlich wohnen („das könnte ich nicht, viel zu laut und dreckig“).[4] Etwas Hoffnung an der ganzen Sache macht nur, dass es in Berlin nach dem großen Widerstand nun nicht gar so dramatisch gekommen ist, der Bau oder die Freigabe der allermeisten Radwege von Frau Schreiner fortgesetzt wird.

Der Kulturkampf um den Klimaschutz tobt, der Riss geht nicht nur mitten durch unsere Städte, nein, er durchzieht die ganze Gesellschaft, wie man an der extrem aufgeheizten Debatte um das Gebäudeenergiegesetz (GEG) – Stichwort Wärmepumpe – sehr deutlich sehen konnte. Dieser Riss geht leider auch mitten durch die LINKE, trennt die Mehrheit der Fraktion von der Partei; und zudem mit einer ins populistische abdriftenden Union, die sich der AfD nicht nur an die Seite stellt, sondern sich mit Merz als bessere AfD positioniert, „Union, wir sind die bessere Alternative“, „die Alternative zur Alternative“, oder so. Nicht zu vergessen aber, es war ausgerechnet die Union, die zusammen mit der SPD das gar nicht so schlechte Klimaschutzgesetz ins Leben gerufen hatte. Das Bundesverfassungsgericht musste zwar mit seinem Beschluss vom April 2021 etwas nachhelfen, aber immerhin wurde dieser dann halbwegs passabel umgesetzt![5] 

Wenn man sich die aufgeheizte Debatte um die „Klima-Kleber“ ansieht, mit oftmals nur unterdrückter extremer Wut – die manchmal auch nicht mehr unterdrückt wird – wenn man dann noch betrachtet, wie man angebrüllt wird, wenn man es wagt, laut über weniger Autos nachzudenken, dann zeigt sich doch, wie sehr „das Auto“ Symbol und Fetisch ist, dass die Mehrheit zu frieren beginnt, sich ohne ihre Blechhülle nackt fühlt. Ein Nestbeschmutzer, wer es wagt, die Stütze der Deutschen Gesellschaft, die deutsche Automobilindustrie, in Frage zu stellen. 

Jein zum Weiterbau der A 100

Die politische Situation in der Ampel ist zuletzt immer skurriler geworden. Immer weniger ist dabei in den Debatten auszumachen, wer die Regierung stellt und wer zur Opposition gehört. Völlig irre wurde es bei einem Thema, bei dem Ablehnung und Zustimmung klar verteilt waren – außer natürlich bei der SPD, die sich wie so oft mit einem pointierten „da müssen wir mal schauen“ an der Debatte beteiligte: dem Weiterbau der A 100 mitten durch Berlin. Mit dessen überraschender und unabgesprochener Verkündung hatte die FDP die Grünen ein knappes Jahr zuvor ziemlich brüskiert– heißt es doch im Koalitionsvertrag eigentlich eindeutig, dass „es eine gemeinsame Abstimmung über die laufenden Projekte“ gäbe. 

Nachdem ein Antrag der LINKEN, der sich eindeutig gegen den Weiterbau der A 100 aussprach, von der Ampel im Ausschuss dreimal mit fadenscheiniger Begründung kurzfristig von der Tagesordnung gestimmt wurde, brachte die Union noch rechtzeitig vor der Berliner Wiederholungswahl einen Antrag zum Thema, der sich eindeutig für den Weiterbau aussprach, ins Plenum ein, wo ihn die Ampel nicht von der Tagesordnung stimmen konnte. In dieser Debatte äußerte sich sogar ein CSU-Abgeordneter mit den Worten, da hätten ja die LINKEN Recht. In der späteren gemeinsamen Debatte beider Anträge im Ausschuss – nach der Wahl – führte Thomas Lutze dann aus, es wäre irrsinnig, wenn die Ampel beide Anträge ablehne, das ginge gar nicht. Darauf rief mir ein Kollege aus den Reihen der Ampel zu: beide annehmen!

Klimakleber schützen vor Klimaleber

Auslöser dafür, diesen Artikel so zu schreiben, waren zwei Lesempfehlungen des Berliner Stadtmagazins tip. Die Erste preist das Büchlein „und sie bewegt sich doch!“ an, „heitere Zug-Storys“, die aus Pleiten Pech & Pannen bei der Bahn entstanden sind, u.a. mit der Aussage, dass „die Deutsche Bahn (…) einfach der härteste Player im Comedy-Business“ sei. Tatsächlich ist es so schlimm geworden, dass man nicht mehr guten Gewissens Familie Freunden und Bekannten ohne das große Risiko nachhaltiger Verstimmungen Bahn-Fahren nahelegen kann. Die Zweite ist eine zu T.C. Boyles neuem Roman „Blue Skies“, eine weitere Dystopie aus der Zeit nach der Klimakatastrophe, „in dem übrigens auch verdammt viel gesoffen wird“, weil es wohl „sonst nicht zum Aushalten“ sei. „Womöglich ist die Klimaleber eine Gefahr, die wir derzeit alle noch sehr unterschätzten. Danke, T.C. Boyle.“[6] Ja, Klimakleber schützen vor Klimaleber, oder so. Gute Nacht.