Stand heute lassen die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD nichts Gutes erahnen. [1] Vielmehr sieht es so aus, als ließe sich Friedrich Merz (CDU) die Zugeständnisse beim Milliardenpaket für Infrastruktur mit der Zustimmung zu staatlichen Leistungskürzungen bezahlen. Merz kritisiert »überbordende Sozialausgaben« und fordert sie auf den Prüfstand zu stellen. Flankiert wird seine Forderung von konservativen und liberalen Ökonomen. So strebt beispielsweise Friedrich Heinemann vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung ein höheres Renteneintrittsalter, die Ausweitung der Wochenarbeitszeit und mehr Eigenverantwortung im Fall von Krankheit an.[2] Bei härteren Sanktionen gegen Bürgergeldbezieher*innen sind sich die zukünftigen Koalitionspartner anscheinend schon einig. Von »Totalverweigerern« unter den Bürgergeldbezieher*innen sprachen sowohl Scholz (SPD) als auch der künftige CDU-Kanzler bereits im Wahlkampf. Als Begründung für diese Attacken auf den Sozialstaat dienen die horrenden Wachstumspläne für den Verteidigungshaushalt.

Hinzu kommen Einschnitte in vielen Bundesländern. Obwohl auch diese und die Kommunen von dem Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für den Ausbau und die Sanierung von Infrastruktur profitieren sollen, werden diese Mittel nicht ausreichen, um alle bereits beschlossenen oder geplanten Sozial- und Haushaltskürzungen zu verhindern. Während sich CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag also mit dem »Investitions-Wumms« rühmen, kommt der Angriff auf die wichtige Daseinsvorsorge in den Kommunen quasi durch die Hintertür. Doch wo Sozialstaat und Infrastruktur geschwächt werden, werden es die Frauen sein, die als Erstes die Lücken füllen müssen (Zimmermann 2025). Wenn das Bürgergeld angefasst wird, trifft es am härtesten alleinerziehende Frauen, die in Deutschland am stärksten von Armut betroffene Bevölkerungsgruppe. Wenn immer mehr Kitas und Kinderläden schließen, die Versorgung in den Krankenhäusern unter dem Ökonomisierungsdruck zusammenbricht oder Sozialarbeiter*innen in Schulen entlassen werden, dann werden vor allem diejenigen unter den daraus entstehenden Zusatzbelastungen zu leiden haben, die sich jetzt schon mehrheitlich um die Kinderbetreuung und die Pflege von Kranken und alten Angehörigen kümmern. Es sind insbesondere migrantische Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen, die angesichts allerorten wegbröckelnder Strukturen ein Minimum an sozialer Versorgung aufrechterhalten. Der Niedriglohnsektor ist weiblich und er ist migrantisch. Austeritätspolitik führt nicht nur allgemein zu mehr Ungerechtigkeit, sie führt auch zu mehr Geschlechterungerechtigkeit. Das haben bereits Studien über die Austeritätspolitik nach der Weltwirtschaftskrise 2008 belegt (vgl. Wischnewski 2018). Ein gut ausgebauter Sozialstaat und gut funktionierende soziale Infrastrukturen sind Emanzipationsbeschleuniger. Sie anzugreifen kommt einem Angriff auf Frauen gleich.

»Um die AfD zu schwächen und zurückzudrängen, bedarf es dringend einer antifaschistischen Wirtschafts- sowie Sozialstaats- und Infrastrukturpolitik.«

Während die neue Regierung also im Begriff ist, die materielle Grundlage für einen neuen Backlash bei der Geschlechtergerechtigkeit vorzubereiten, liefert die politische Rechte bereits das ideologische Rüstzeug. Die AfD propagiert schon lange die Verlagerung sozialstaatlicher Aufgaben in die Familie und damit auf Frauen und Mütter. Wer ihr heteronormatives Idealbild von Familie nicht teilt, wird zum Feind erklärt. Deshalb sind von dieser Seite queere Lebensweisen ebenso bedroht wie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch oder eben der Sozialstaat. Um die AfD und andere rechtsextreme Kräfte zu schwächen und zurückzudrängen, bedarf es daher dringend einer antifaschistischen Wirtschafts- sowie Sozialstaats- und Infrastrukturpolitik (vgl. hierzu Mattei 2024). Der Linken kommt die zentrale Aufgabe zu, diesbezüglich Druck aufzubauen, Alternativen zur herrschenden (Austeritäts-)Politik aufzuzeigen und diese zu popularisieren. Sie hat durch ihre aktuelle innere Verfassung und ihre wiedergewonnene Rolle in der gesellschaftlichen Klassenauseinandersetzung auch wieder die Chance, diese Aufgabe erfolgreich wahrzunehmen.

Zeit für eine emanzipatorische Klassenpolitik

Lange genug hatte die Partei diese Chance verspielt. Die vergangenen Jahre waren sowohl gesellschaftlich als auch innerparteilich von der Erzählung einer immer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft geprägt. Eine der bekanntesten war die These von der Spaltung in Kommunitaristen und Kosmopoliten (Merkel/Zürn 2019), also kurzgefasst in Gewinner*innen und Verlierer *innen der modernen Globalisierung. Steffen Mau u. a. (2023) haben in ihrem Buch »Triggerpunkte« aufgezeigt, dass die Polarisierung zwar stattfindet, allerdings nicht derart weitreichend unversöhnlich, wie gemeinhin angenommen. Dennoch hat die Debatte um die gesellschaftliche Spaltung über viele Jahre die Strategieentwicklung der Partei Die Linke bestimmt und sie schlussendlich in eine tiefe Krise gestürzt. In dieser Auseinandersetzung hat zwar die Klassenpolitik ein überraschendes Revival erlebt, allerdings wurde diese von einer meist sehr unproduktiv geführten »Wokeness«-Debatte überlagert. Wer sich mit Themen wie Klimaschutz, (Queer-)Feminismus und Antirassismus auseinandersetzte und diese in der eigenen politischen Praxis aufgriff, sah sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die Interessen der Arbeiter*innenklasse nicht mehr zu vertreten und Klassenfragen durch »identitätspolitische« Fragen ersetzt zu haben. Ob das an manchen Stellen tatsächlich passiert ist, ist viel weniger interessant als der Umstand, dass sich Die Linke durch diesen Konflikt in die politische Handlungsunfähigkeit manövrierte.

»Während die Linke sich in einem unproduktiven Streit mit sich selbst befand, überließ sie die Diskurshoheit über Antidiskriminierungs-, Gleichstellungs- und Menschenrechtspolitik dem grün-liberalen Bürgertum.«

Diese Auseinandersetzung mündete im Herbst 2023 schließlich in einer Rechtsabspaltung von der Linken und im Januar 2024 in der Gründung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Man kann heute festhalten, dass bei allem Schmerz, den dieser Bruch mit sich brachte, er ein Befreiungsschlag für Die Linke war. Mit der Trennung wurde eine Erneuerung der Partei eingeläutet. Diese zeigte sich zuerst in einem Mitgliederzuwachs, der bereits nach der Abspaltung begann, der sich aber im Zuge der Bundestagswahl zu einem regelrechten Boom und Höhenflug ausweitete. Heute zählt die Partei Die Linke mit über 100 000 Mitgliedern doppelt so viele wie zum Zeitpunkt des Austritts von Sahra Wagenknecht. Während die Linke sich in einem unproduktiven Streit mit sich selbst befand, überließ sie die Diskurshoheit über Antidiskriminierungs-, Gleichstellungs- und Menschenrechtspolitik dem grün-liberalen Bürgertum und sah zu, wie sich der aggressive Gegenpol aufseiten der Konservativen und Rechten formierte. Als eine moderne sozialistische Partei, die Oben-unten-Konflikte mit Forderungen nach Freiheits- und Bürger­rechten verbindet, fiel Die Linke über mehrere Jahre aus.

So haben die letzten Bundesregierungen zwar die Ehe für alle eingeführt, das Selbstbestimmungsgesetz reformiert und Cannabis legalisiert, aber zugleich nichts gegen die explodierenden Miet- und Lebensmittelkosten, eine marode Infrastruktur und das Problem der Arbeitsverdichtung und Arbeitsplatzun­sicherheit unternommen. Während Annalena Baerbock eine feministische Außenpolitik propagierte, lieferte Deutschland weiterhin Waffen an frauenfeindliche Länder wie Saudi-Arabien oder in Krisenregionen wie den Jemen. Diese Form der klassenunabhängigen Klientelpolitik fördert Politikverdrossenheit und ist mitverantwortlich dafür, dass der Zustand der permanenten Erschöpfung zur Volkskrankheit ganzer Generationen geworden ist. All das ist Wasser auf die Mühlen der AfD, die sich den Wunsch nach »der guten alten Zeit« genauso zu eigen macht wie die Enttäuschung derjenigen, die sich von Politik nichts mehr erhoffen. Sie lenken diese Wut jedoch nicht nach oben, adressieren nicht die Herrschenden und Mächtigen in Politik und Wirtschaft, sondern treten nach unten, hetzen gegen Geflüchtete, Bürgergeldbezieher*innen und queere Lebensformen. Die AfD ist, wie Mau u. a. es nennen, ein Polarisierungsunternehmer, der darauf setzt, Konflikte in der Gesellschaft zu befeuern und die Bevölkerung auseinanderzudividieren, allerdings nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen unten und noch weiter unten. Das Kapital dankt und unterstützt wie im Fall von Donald Trump und seinen Tech-Milliardären mittlerweile ganz offen autoritäre Regime. 

Als sozialistische Partei gesunden

Das ist auch eine mögliche nahe Zukunft für Deutschland. Deshalb ist es gerade unerlässlich, dass Die Linke ihre neue Beinfreiheit für eine emanzipatorische Klassenpolitik nutzt. In einer Situation, in der die CDU im Bundestag nicht davor zurückschreckte, gemeinsame Sache mit der AfD zu machen, die SPD sich mehr als angeschlagen zeigt und die Grünen in die Mitte streben, konnte Die Linke mit ihrer eindeutig antifaschistischen Haltung einen Pol besetzen, den sie zuvor aufgrund ihrer eigenen uneindeutigen – oder besser vieldeutigen – Positionen freigelassen hatte. Zwar baute Die Linke im zurückliegenden Bundestagswahlkampf auf sozialpolitische Themen wie die Einführung eines bundesweiten Mietendeckels, Vermögenssteuer und Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, aber sie ließ nie einen Zweifel daran, dass sie in Fragen von Asylpolitik oder beim Recht auf sexuelle Selbstbestimmung standhaft bleiben wird. Und das haben ihr die Wähler*innen und die vielen neuen Multiplikator*innen aus Kultur und Gewerkschaften, Wissenschaft und den sozialen Medien auch abgenommen. Man könnte sagen, Die Linke konnte durch ihre Rechtsabspaltung als sozialistische Partei wieder gesunden. Sie kann heute wieder selbstbewusst die Enteignung großer Wohnungskonzerne und einen höheren Mindestlohn fordern und gleichzeitig das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und eine gerechte Verteilung der Sorgearbeit propagieren.

»Die Linke konnte mit ihrer eindeutig antifaschistischen Haltung einen Pol besetzen, den sie zuvor aufgrund ihrer eigenen uneindeutigen – oder besser vieldeutigen – Positionen freigelassen hatte.«

Es gibt ein neues Zeitfenster für Die Linke, diese Rolle erfolgreich wahrzunehmen, und dieses muss sie auch nutzen. Denn sie kann sich nicht darauf verlassen, dass Bündnis 90/Die Grünen ihr den Platz, den sie links freigemacht haben, dauerhaft kampflos überlassen werden. Die Grünen werden im Bund erneut in die Opposition gehen. Auch wenn es gerade noch so aussieht, als würde die aktuelle Führung den Kurs von Baerbock und Habeck Richtung Mitte fortsetzen, haben sie nun die Chance, einige Entscheidungen aus der Vergangenheit, mit denen sie viele Wähler*innen enttäuscht haben, wieder gutzumachen. Wenn Die Linke also ihren Platz als Pol der Hoffnung auf ein besseres Leben für alle weiter ausbauen möchte, dann muss sie für die kommende Zeit eine Strategie entwickeln, die mehr bietet als »Brot und Butter« in Form von Mietendeckel und bezahlbaren Lebensmitteln.

Linke Polarisierungsunternehmerin und eine neue Vision

Die Linke hat sich zu lange selbst blockiert, um eine umfassende neue Erzählung für eine heute gesamtdeutsche sozialistische Partei zu entwickeln. Weder das Schwelgen in Erinnerungen an die Nachwendejahre, als man glaubwürdig die ostdeutschen ­Interessen vertrat, noch an die Zeit, als man die Anti-Agenda-2010-Opposition stellte, reichen heute noch aus. Wobei »Vertreterin von« sein und »Opposition zu« sein schon mal kein schlechter Anfang ist. Die Linke vertritt die Interessen der arbeitenden Menschen in diesem Land. Das meint alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um leben zu können, aber auch Erwerbslose und jene, die nicht (mehr) lohnarbeiten können oder dürfen wie Asylsuchende, Rentner*innen, Mütter in Elternzeit, Arbeitsunfähige oder Kinder. Das heißt automatisch, dass Die Linke auch in Opposition zu den herrschenden Verhältnissen steht, in denen Mensch und Natur von Wenigen ausgebeutet werden. Marx beschrieb als erstes Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus das der Frau (und der Kinder) in der Familie durch den Mann bzw. Vater.[3] Nun können wir von Glück reden, dass die feministischen und queer-feministischen Bewegungen seit über 100 Jahren an diesem ersten Ausbeutungsverhältnis gerüttelt und viele Rechte für Frauen und queere Menschen erkämpft haben. Doch sie stehen heute erneut unter Beschuss durch die AfD, flankiert von CDU/CSU, während zu befürchten ist, dass die SPD den neuen Regierungskurs zum Abbau des Sozialstaats mittragen wird. 

Strategie der Linken in dieser Situation muss es sein, überzeugend klarzustellen, dass der Wunsch nach materieller Sicherheit nur eingelöst werden kann, wenn wir grundlegende Veränderungen ermöglichen. Das fängt bei so unmittelbaren Reformen wie der Abschaffung der Schuldenbremse an, um langfristig das Funktionieren einer öffentlichen Infrastruktur finanzieren zu können. Und das hört bei einer Vision von Gesellschaft auf, in der alle Menschen die gleichen Rechte haben und gleiche Chancen auf ein gutes Leben, in der Zeitressourcen gerecht verteilt sind und in der grundlegende Infrastrukturen, die für das Gemeinwohl benötigt werden, uns allen gehören und demokratisch organsiert werden. Wer eine solche Vision entwirft und als Gegenentwurf zu einer faschistischen und damit menschenfeindlichen und egozentrischen Tyrannei vertritt, der wird schnell zu dem Schluss kommen: Es darf in einer sozialistischen Partei niemals mehr in Zweifel gezogen werden, dass Freiheitsrechte und soziale Rechte ineinander verschränkt sind und ohne einander nicht auskommen. 

So eine Vision erzeugt Reibung in einer Zeit, in der Menschen eben doch von vielen Triggerpunkten gereizt werden. Die Linke hat deshalb auch nicht die Aufgabe, unnötige Trigger in ihrer Erzählung und ihrer Ansprache zu vermeiden, sondern auf das Verbindende zu orientieren. Sie hat die Aufgabe, die Arbeiterklasse eben nicht wie die rechten Polarisierungsunternehmer*innen zu spalten, sondern als linke Polarisierungsunternehmer den Oben-unten-Konflikt in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei geht es aber nicht nur darum, ob ich am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche habe, sondern auch darum, ob ich das Recht habe, an Wahlen teilzunehmen oder eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden. Es geht darum, Arbeit und Gesellschaft so umzuorganisieren, dass eine alleinerziehende Mutter nicht in Armut leben muss, sondern bei Wunsch einer Lohnarbeit nachgehen kann, während ihr Kind in einer Kita gut versorgt ist – weil wir unsere soziale Infrastruktur nicht einfach opfern, um die Rüstungsindustrie weiter zu stärken.

Für so eine Erzählung brauchen wir Erfinder*innen, Auskenner*innen und Multiplikator*innen. Antonio Gramsci nannte dies organische Intellektuelle. Die Linke hat in den letzten Jahren viele dieser Intellektuellen verloren. Sie hat jetzt die Chance, neue zu finden und alte wieder von sich zu überzeugen. Nie standen die Chancen dafür besser als jetzt.

[1]   Der Artikel wurde bereits im April 2025 verfasst.

[2]   Vgl. www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/sondierungen-reaktionen-oekonomen-kommunen-100.html

[3]  »Ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte […], also das Eigentum, das in der Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind, schon seinen Keim, seine erste Form hat. Die freilich noch sehr rohe, latente Sklaverei in der Familie ist das erste Eigentum, das übrigens hier schon vollkommen der Definition der modernen Ökonomen entspricht, nach der es die Verfügung über fremde Arbeitskraft ist.« (Marx/Engels 1978, 32)

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