Eine Tragödie, die zur Farce wird oder eine Farce als Tragödie

Die Ukraine ist voller Widersprüche. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts erlebt Kiew Massenaktionen des Protests und Zusammenstöße mit der Staatsmacht. Doch der Spätherbst 2013 ähnelt nur äußerlich den Ereignissen von 2004. Die Situation ist viel komplizierter geworden. Hauptakteur des Majdan waren im ersten Fall Menschen, die der Unverfrorenheit und Willkür der herrschenden Elite in Wirtschaft und Politik überdrüssig geworden waren. Die nationalistischen Gruppen, Agenten einflussreicher Kräfte usw. waren damals vielleicht nicht weniger stark als 2013. Maßgebend war damals jedoch das Aufbegehren des Volkes. Und die Konfrontation war damals nicht nur geopolitisch bedingt (nach Europa bzw. zu Russland), sondern auch gesellschaftspolitisch: entweder wir, die Bürger – oder sie, die Parasiten. Der Majdan von heute ist in vielfacher Hinsicht anders. Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Parasitismus der Regierenden ist noch vorhanden, doch in den Vordergrund tritt eine wohldurchdachte Organisation seitens der prowestlchen politischen und Wirtschafts“eliten“. Haben sich die Drahtzieher 2004 jedoch noch nicht offen hervorgewagt, so sind sie jetzt ganz deutlich in den Vordergrund gerückt. Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht darin, dass sich 2013 auf dem Majdan nationalistische und profaschistische Organisationen als reale organisierte Hauptkraft des „Protestes“ (ganz bewusst steht dies in Anführungszeichen) versammelt haben. Die Situation ist ausgesprochen mehrdimensional geworden, und daher ist es umso wichtiger, sich damit auseinandersetzen. Die das Land zerreißenden Widersprüche darf man nicht nur ausgehend von dem heute in Mode gekommenen  geopolitischen Standpunkt aus betrachten, sondern muss sie auch durch das Prisma der sozial-ökonomischen und politisch-ideologischen sowie der kultur-historischen Maßstäbe zu verstehen suchen. Daraus ergibt sich die prinzipielle These dieses Textes, - dass sich in der Ukraine heute (wie übrigens auch früher) sehr tiefe Widersprüche kreuzen,  und zwar  sind nicht nur solche, die die Ukraine selbst betreffen. Die Ukraine, das sind – die Arbeiter der Eisenhüttenindustrie und ein „Büroplankton“, das sind Lehrer und Bauern, das sind Besitzer von Dienstleistungsunternehmen und Oligarchen, wobei Letztere wiederum in unterschiedliche „Clans“ unterteilt sind… In der Ukrane gibt es prowestliche, prorussische und „unabhängige“ Gewerkschaften und gesellschaftliche Organisationen sowie mehrheitlich pragmatisch-zynische Parlaments­parteien, die die Frage der Integration mit der EU vorwiegend durch das Prisma ihrer Wählerschaftsprobleme betrachten. Schließlich besteht die Ukraine aus einer Bevölkerung, die zu gleichen Teilen ukrainisch und russisch spricht. Und zur Ukraine gehören auch Jahrhunderte von Kriegen und Unionen mit Polen und Litauen. Dieses Land hat eine 450 Jahre währende Gemeinschaft mit Russland und Jahrhunderte der Unterdrückung durch das Russische Imperium hinter sich. Und es hat auch das Heldentum der antifaschistischen Partisanen wie die Verbrechen der den Faschismus unterstützenden Banderabanden erlebt… Hieraus ergeben sich in der ukrainischen Gesellschaft prinzipielle, tiefe, historisch nicht zufällige auch sozial-klassenmäßig bedingte Widersprüche. Und diese prinzipiell mehrdimensionalen Widersprüche, die historisch-kulturelle, politisch-ideologische, sozial-klassenmäßige, pragmatisch-ökonomische und geopolitische Dimensionen besitzen, haben sich gegenwärtig auf dem Majdan erneut gekreuzt. Und noch etwas darf nicht vergessen werden: Die Ukraine ist auch eine konkrete allgemeine Einheit ihrer Völker, Geschichte und Kultur. Sie ist ein bestimmtes unteilbares Ganzes, das die vom ganzen Volk getragenen Interessen der von der „Ukraine“ repräsentierten Welt in sich trägt. Und durch das Prisma dieser Probleme können und müssen wir das Problem der Eurointegration der Ukraine analysieren. Doch zunächst noch einige Worte zu einem internationalen Zusammenhang: über Russland und die EU. Russland: Die Traditionen der Freundschaft der Völker und der zunehmende Chauvinismus, die Intention der sozialen Befreiung und die Gier des oligarchischen Kapitals… Ich möchte voranstellen: Für mich sind Charkov, Kiev und L’vov, der Dnepr, die Karpaten und die Krim ein unabtrennbarer Teil meiner Heimat – der Sowjetunion. Auf diesem Territorium bin ich aufgewachsen, habe ich gelebt, und überall hatte ich hier Freunde. Doch ich bin auch in dem Verständnis aufgewachsen, dass meine Heimat, die UdSSR, von vielen Widersprüchen durchdrungen war, durch die sie zugrunde gehen konnte und auch zugrunde gegangen ist. Dasselbe kann ich auch über das heutige Russland sagen, - es ist mein Land, das ich aufrichtig liebe; es ist der wichtigste Teil meiner Heimat. Und aus diesem Grunde kann ich auch nicht die Augen davor verschließen, dass im heutigen Russland größtenteils reaktionäre politisch-ökonomische Kräfte herrschen. Dazu sei ergänzt: Das heutige Russland besitzt noch immer ein gewaltiges historisches Potential an Kultur, Wissenschaft und Bildung. Die meisten Bürger unseres Landes schätzen (wie die sozialen Umfragen besagen) noch immer die Werte sozialer Gerechtigkeit und der Macht des Volkes. Ungeachtet tiefer innerer Widersprüche und eines zunehmenden Nationalismus sind unsere Völker noch immer in ihrer Mehrzahl auf Freundschaft und gleichberechtigte Beziehungen zu den Völkern anderer Länder orientiert. Dies betrifft besonders die Völker solcher Länder wie der Ukraine, denn dort haben Kinder und Väter gemeinsam gegen den Faschismus gekämpft und unsere Völker haben gemeinsam über Jahrhunderte einen einheitlichen soziokulturellen Raum aufgebaut, in dem eigentlich niemand darüber nachgedacht hat, ob man Gogol als Ukrainer oder als Russen betrachten soll. Davon ging eine gewaltige Integrationsfähigkeit der Völker der Ukraine und Russlands aus. Das ist die mächtige Kraftquelle der Integration der Völker der Ukraine und Russlands. Und nicht nur der Ukraine und Russlands: Unsere Länder sind multinational, – und dies zu verstehen, ist von prinzipieller Bedeutung. Das hat zur Folge, dass unsere zukunftsorientierte und von Zukunftsgewissheit getragene Zusammenarbeit und unsere enge kulturelle Integration sich nicht nur ständig festigen, sondern dass auch die eigene Kultur sowohl bei uns als auch bei unseren Nachbarn wirksam ist und sich weiter entwickelt. Und dies ist von Bedeutung: Für Russland wäre es schwierig und von Nachteil, wenn es ohne das kulturelle Erbe der ukrainischen Gesellschaft – auch ohne das der vielfältig nuancierten europäischen Westukraine – leben müsste. Die ukrainische Sprache, Gedichte und Bühnenstücke über Lesja Ukrainka, Gogols Erzählungen „Abende auf dem Weiler nahe von Dikanka“, die Dnepropetrovsker Steilhänge, das alte L’vov, die Prospekte in Char’kov, all dies ist ein Teil unserer kulturellen Welt… Zum heutigen Russland gehört jedoch auch der von dem barbarischen russischen Kapitalismus hochgezüchtete Großmachtchauvinismus und die noch herrschende „Elite“ Russlands. Und hier ist alles noch bedeutend komplizierter, um nicht zu sagen schlechter. Für die Oligarchen Russlands ist die Ukraine vor allem ein neues Territorium, auf dem sie dieselbe Politik des Parasitierens auf den Naturreichtümern und der billigen Arbeitskraft betreiben würden wie in Russland. Das russische „abstruse und erbarmungslose“ Unternehmertum würde den Völkern der Ukraine dasselbe bringen wie den Völkern unseres Landes: eine Mischung von brutaler kapitalistischer Ausbeutung und halbfeudalem Diktat. Das gleiche gilt für die herrschende „politische Klasse“. In Russland herrscht heute ein korrumpiertes Beamtentum, das mit einer Rohstoff- und Finanzoligarchie sowie mit den Bossen des militärisch-industriellen Komplexes verquickt ist. Die realen sozialen und zivilen Rechte der Bürger Russlands sind weit entfernt von den Normen eines demokratischen Sozialstaates; die Rechte der unabhängigen Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen sind sehr beschränkt. Einen gewichtigen Faktor in der Politik Russlands bilden die nationalistischen und Großmachttendenzen bei einer Reihe von Vertretern der Oberschichten. Dies alles ist dazu angetan, dass die reale herrschende „Elite“ Russlands zu einem recht problematischen Partner für die Integration geworden ist. Und das ist noch vorsichtig formuliert. Eine ökonomische und politische Integration mit einem derartigen Russland würde nur zur Stärkung der prorussischen Oligarchen und der prorussischen politischen „Eliten“ in der Ukraine führen. Den Völkern dieses Landes würde das einerseits verhältnismäßig preiswerte Ressourcen für die Bürger und die Produktion bringen sowie das Weiterbestehen (in der Perspektive vielleicht ein Wachstum) der Schwerindustrie und des Industrieproletariats, und es würde ihnen die großen Märkte der Länder der Zollunion öffnen; andererseits brächte dies die Erhaltung und Konsolidierung primitiv-kapitalistischer Formen der Ausbeutung und der halbfeudalen Unterwerfung der Werktätigen sowie paternistisch-bürokratische Tendenzen im Staatsapparat und die Gefahr einer geopolitischen Dominanz der Bürokratie Russlands mit sich. Letztlich würden diese beiden Seiten  für die Mehrheit der Bürger der Ukraine kaum von Vorteil sein. Und was ist mit der EU?

Die Europäische Union: Errungenschaften und Verbrechen oder was kann der Ukraine die Integration mit der EU bringen

Der erste Punkt ist augenfällig: die Errungenschaften der europäischen Gemeinschaft sind real und allgemein bekannt. Sofern man vom „Zentrum“ der EU spricht. Das heißt, ungeachtet aller heutigen Widersprüche bleiben sehr viele positive Momente übrig. Wenn wir nach dem Norden Europas blicken, so hat das dortige so genannte „skandinavische“ Modell viele reale Vorzüge im Vergleich mit den Systemen, die in Russland und in der Ukraine existieren. Vor allem sind dies: das hohe Niveau der Sozialisierung der Wirtschaft (die progressive Einkommensteuer, das hohe Niveau des sozialen Schutzes, die Tatsache, dass Bildung, Gesundheitswesen und Kultur vorwiegend kostenlos sind, starke und effektive Gewerkschaften), der niedrige Stand sozialer Differenzierung (der Unterschied von 10% der ärmsten und 10% der reichsten Bürger beträgt das 6-7-fache, d.h. ist um das Doppelte niedriger als in unseren Ländern), sowie die sich real auswirkenden Rechte der Organe der Zivilgesellschaft.   In diesem sozialdemokratischen Honigfass ist jedoch ein Löffel Teer. Und nicht nur einer. Die hohen sozialen Ergebnisse in diesen Ländern wurden vor vielen Jahrzehnten erzielt, doch dabei sind sie … stehen geblieben. Der soziale demokratische Trend kann indes, wie ein Fahrrad, nicht einfach stehen bleiben, er muss voran kommen. Wenn man versucht, auf dem toten Punkt Balance zu halten und auf halbem Wege der Umgestaltungen verweilt, so gerät die Gesellschaft in einen Zustand der Stagnation und erzeugt sozialen und geistigen Stillstand, soziale Monotonie… Dies zum Ersten. Der zweite Punkt – die Verbrechen der EU; – es hat wohl den Anschein, als seien dies Zwecklügen der Feinde der Eurointegration und der Demokratie. Jedoch. Wie im Falle der herrschenden „Elite“ Russlands muss man bei einer Analyse der EU einerseits unterscheiden zwischen den Errungenschaften der Bürger (vor allem – der Werktätigen, ihrer Gewerkschaften, der linken und linkszentristischen Parteien, der sozialen Bewegungen und der Nichtregierungsorganisationen) der europäischen Länder, deren aktiver über ein Jahrhundert geführter Kampf für soziale und Bürgerrechte zu Ergebnissen geführt hat, – und andererseits der Politik der europäischen Transnationalen Korporationen (TNK) und den Regierungen der Länder, die Mitglieder der NATO sind. Angesichts einer derartigen Fragestellung wird sofort klar, dass diese „Akteure“ der EU für Tausende ermorderter friedlicher Bürger in Jugoslawien – und nicht nur dafür – verantwortlich sind, und auch für den Ausbruch der Finanzkrise 2008, die faktisch alle Völker der Welt getroffen hat, sowie für die Massenarbeitslosigkeit in den Ländern im Süden des europäischen Kontinents usw. usf. Und das Wesentliche: Eine Integration der Ukraine in die EU bedeutet nicht, dass die ukrainischen Bürger in absehbarer Zukunft so leben werden wie die Bürger Österreichs oder Deutschlands. Wie die ganze Welt unterteilt sich auch die Europäische Union in arme und reiche Regionen. Einerseits sind dies jene Länder, die die „Heimat“ der europäischen TNK sind, in deren Händen sich die Hauptmasse des Kapitals und der Innovationstechnologien sowie der sehr teuren Simulakren (von ersuchten Markenwaren bis zu Massen-Kultartikeln und Medienmüll) befindet. Andererseits sind dies Länder, in denen neben billigen (nach europäischen Begriffen) Arbeitskräften auch Rohstoffe, Roh- und Montageproduktion konzentriert sind sowie eine Bevölkerung, die bereit ist, täglich ohne freie Tage 12-14 Stunden zu arbeiten, um an die „europäischen Lebensweise“ heranzukommen. Die soziale Differenzierung ist in der EU, wenn man 10% der reichsten und 10% der ärmsten Bürger aller Länder der Gemeinschaft vergleicht, etwa dieselbe wie in unseren Ländern… In diesem Zusammenhang sei auf folgendes hingewiesen: Wenn die Ukraine den Weg der Integration in die EU beschreitet, gerät sie auf die Stufe der armen Peripherie. Das wird eigentlich auch nicht bestritten. Die proeuropäischen Kreise „vergessen“ dies nur, bzw. sie wollen nicht darüber reden. Und was würde in diesem Fall unsere Freunde in der Ukraine erwarten? Das gleiche, als würden sie sich in Richtung Russlands bewegen, ein recht widersprüchliches Ergebnis. Einerseits ein gewisser formaler Fortschritt auf dem Wege des Parlamentarismus und der Rechte verschiedener Minderheiten (jedoch kaum der Rechte der Gewerkschaften und der Linken), eine Erleichterung des Dialogs mit dem Westen und der Aufnahme in das Establishment der EU für die ukrainische „Elite“ sowie neue Möglichkeiten für die Erweiterung der Tätigkeit der Klein- und mittleren Bourgeoisie auf dem Gebiet des Zwischenhandels, des Tourismus usw. Dazu käme dann noch – und dies ist von prinzipieller Bedeutung – der Sieg der prowestlichen Oligarchen der Ukraine im Konkurrenzkampf für die staatlichen Ressourcen und Märkte. Andererseits würde dadurch die schon ohnehin beträchtliche Migration der Ukrainer in die EU gestärkt, vorwiegend durch Beteiligung niedrig bezahlter Arbeitskräfte am „Outsourcing“ sowie durch Intensivierung des Prozesses der Deindustrialisierung, durch das Wachstum des ukrainischen Nationalismus sowie durch wesentliche soziokulturelle Probleme für die russischsprachige Bevölkerung u.a.

Welche Richtung soll die Ukraine einschlagen?

Was ist für die Ukraine besser: Soll sie zur Peripherie für die EU werden? Soll sie sich mit Russland integrieren? Oder soll sie ein unabhängiges Land der Dritten Welt sein? Meine Antwort ist dreigeteilt. Erstens: Diese Frage müssen die Bürger der Ukraine selber lösen. Druck durch Emissäre der EU und der USA ist hier ebenso unzulässig wie durch Vertreter Russlands. Zweitens: Die verschiedenen Schichten der ukrainischen Gesellschaft sind an unterschiedlichen Lösungen interessiert. Ich erhebe natürlich keinen Anspruch auf die Wahrheit höchster Instanz, doch als Wissenschaftler und Bürger kann ich nicht die Position eines neutralen Beobachters einnehmen. Meiner Meinung nach kann die Situation ganz kurz zusammengefasst folgendermaßen dargestellt werden. Für den Großteil des Industrieproletariats und der Bauernschaft der Ost-Ukraine brächte eine Zusammenarbeit mit Russland (wobei hervorgehoben sei, dass es sich hierbei im Prinzip nicht um eine Einbeziehung der Ukraine in Russland handeln würde) ungeachtet aller offensichtlich negativer Seiten des Unternehmertums und der Bürokratie Russlands eine größere Stabilität und würde keine neuen kulturellen und sprachlichen Probleme hervorrufen. Dies träfe auch auf die Vertreter der Vielzahl intellektueller Berufe zu (in staatlichen Institutionen tätige Lehrer, medizinisches Personal usw.). Anstelle paternalistischer „Bevormundung“ durch die ukrainische Bürokratie und weiterer Beschränkung ihrer sozialen und Bürgerrechte würden sie alle relative Stabilität erlangen. Eine Annäherung an Russland wäre auch für die entsprechenden Kreise der Großunternehmer sowie für die mit ihnen verwobenen politischen und bürokratischen Schichten ein Gewinn. All diese „positiven Seiten“ sind äußerst ambivalent. Doch eine mögliche Annäherung unserer Länder brächte einen unzweifelhaften Vorteil, und zwar durch das Wiedererstehen und eine Intensivierung unseres sozio-kulturellen Dialogs. Dieser Parameter ist prinzipiell bedeutsam und eindeutig positiver. Für den größeren Teil von Personen mit „freien Berufen“, der Klein- und mittleren Bourgeoisie, des Sektors der Zwischenhändler und der Oligarchen, die mit den westlichen TNK verquickt sind, sowie für die prowestlichen politischen Kräfte würde eine Orientierung auf die EU anfangs vorteilhaft sein. Im Weiteren würden sie wahrscheinlich den korporativen „Zentren“ der EU unterstellt werden, wie dies in den Ländern Mittel- und Osteuropas der Fall war. Es ist zwar paradox, doch für die unabhängigen Gewerkschaften und eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen (besonders solcher, die den realen sozial-ökonomischen Problemen fern stehen, wie jene, die für gleiche Rechte von homo-, trans- und intersexuellen Menschen kämpfen) könnte die Eurointegration von zeitweiligem Vorteil sein, da für sie einige bürokratische Beschränkungen wegfallen würden. Doch diese demokratischen Schritte würden – wenn überhaupt – kaum ins Gewicht fallen und kaum von Dauer sein: An der Peripherie der EU werden die europäischen Normen zum Schutz der sozialen und Bürgerrechte mit erstaunlicher Leichtigkeit verletzt, und die Brüsseler Bürokratie ist dem gegenüber erstaunlich blind und „übersieht“ diese Verletzungen, wenn sie nicht die Interessen der europäischen TNK und der Brüsseler Nachbarn aus dem Stabsquartier der NATO betreffen. Das Wichtigste in diesem Punkt ist folgendes: Im Vergleich mit den Ereignissen von 2004 (wo der Verfasser persönlich anwesend war) sind die Nationalisten und Faschisten zur entscheidenden praktisch wirksamen und zu einer gut organisierten Kraft der Majdan-Aktionen von 2013 geworden. Sagen wir es direkt: Die Zunahme der rechten nationalistischen und profaschistischen Organisationen in der Ukraine wie auch in den Ländern des Baltikums ist die direkte Schuld nicht nur der Machtorgane dieser Länder, sondern auch – was ich besonders hervorheben möchte – der regierenden Strukturen der Europäischen Union. Die Liberaldemokraten Europas haben schon einmal versucht, die faschistische Karte für ihre eigenen Zwecke zu ziehen (erinnern wir uns des Münchner Komplotts von 1938 u.v.m.), und sie haben dadurch erschreckende Folgen hervorgerufen. Die jetzige  Ausnutzung der Nationalisten und Faschisten als eine der entscheidenden Kräfte des Majdan ist dem Wesen nach ein eben solches Verbrechen seitens der ukrainischen „Oppositionellen“ und der EU – wenn auch bis jetzt ein in seinen Ausmaßen noch unvergleichlich geringeres.   Drittens: Diese von marxistischem Standpunkt aus vorgenommene – wenn auch nur kurze – Analyse der Situation in der Ukraine zeigt eindeutig: Wir alle und besonders die Ukraine müssen den geschlossenen Kreis gleichermaßen auswegsloser Alternativen verlassen, bei denen von zwei Übeln das weniger schlechte genommen werden muss. Wir müssen und können eine normale, perpendikulare Antwort finden. Diese liegt jedoch in erster Linie auf dem Wege einer Lösung der sozial-ökonomischen, politischen und kulturellen Probleme, sie liegt nicht auf der Ebene pragmatischer Geopolitik (nach dem Prinzip, wie man jetzt zu sagen pflegt: „an wen soll man sich verkaufen…“), sondern auf der Ebene realer radikaler ökonomischer und politischer Reformen (zumindest) in der Ukraine selbst. Und hierbei können und sollten sowohl die Erfahrungen des Kampfes der europäischen demokratischen Linken als auch unsere gemeinsamen äußerst widersprüchlichen, aber prinzipiell wichtigen Erfahrungen sowjetischer Umgestaltungen kritisch genutzt werden. Das Wichtigste darf aber nicht vergessen werden: Linke Politik, die ihrem Wesen nach Klassenpolitik ist, kann und darf das Vorhandensein der Interessen des gesamten Volkes der Ukraine als konkret-allgemeine (und daher widerspruchsvolle) Einheit ihrer Völker, ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihres Territoriums nicht ignorieren. Diese Interessen sind mehrdimensional widerspruchsvoll. Doch sie existie­ren. Und die von ihnen bedingte Strategie der Entwicklung der Ukraine kann nur von den Völkern dieses Landes selbst bestimmt werden und nicht von politischen Entscheidungsträgern („policymaker“) in Russland oder Europa. Daher möchte ich nochmals unterstreichen, dass ich keine Bestimmung dieser Strategie im Namen der Bürger der Ukraine vornehmen kann und werde. Doch als marxistischer Wissenschaftler und als ein Mensch, der im Dialog (nicht nur) unserer Völker und Kulturen aufgewachsen ist, kann und werde ich kein gleichgültiger unbeteiligter Zaungast sein. Und daher möchte ich uns allen in Erinnerung rufen: Das höchste Kriterium des Fortschritts aller Völker ist und bleibt – entgegen allen postmodernistischen Regeln für „Dekonstruktion großer Narrationen“ – die freie allseitige Entwicklung der Persönlichkeit, das heißt - nicht nur ökonomisches Wachstum, sondern auch die Weiterentwicklung der menschlichen Qualitäten, die Lösung der sozialen, ökonomischen und humanitären Probleme. Eine solche Alternative für die Völker sowohl Russlands als auch der Ukraine und jedes anderen Landes realisiert sich – wie ich schon mehrfach betont habe – nicht dadurch, dass irgendein „Imperium des Vertrauens“ (aus  Nordamerika oder aus der EU) zur Peripherie wird, oder dass eine Union von Oligarchen und Bürokraten halbperipherer Länder entsteht. Eine solche Lösung setzt voraus, dass im Großen und Ganzen auf die „Wahl des kleineren Übels“ verzichtet wird und nach einer normalen, „perpendikularen“ Antwort gesucht wird. Eine solche Antwort kann nur das Fortschreiten auf dem Weg der Demokratie und des Sozialismus sein. Nur ein solcher Weg wird auch zur Integration in die Weltgemeinschaft (eine Gemeinschaft der Völker und Kulturen), zum Fortschritt der nationalen Kultur führen (denn wirkliche Kultur ist immer sowohl Weltkultur als auch nationale Kultur). Und dies ist kein abstrakter Rat: Dieser Weg kann schon heute begonnen werden – sowohl von den Ländern, die nicht zu den am weitesten entwickelten und auch nicht zu den größten Ländern der Welt zählen. Das beweist gegenwärtig eine ganze Reihe lateinamerikanischer Staaten, deren Völker sich von der „Bevormundung“ der USA losgesagt und begonnen haben, ein sozial orientiertes demokratisches Modell der Entwicklung zu verwirklichen, bei dem sie nicht geopolitische Spiele in den Vordergrund stellen, sondern eine sozial-ökonomische und politisch-ideologische Strategie als Alternative zur Hegemonie des globalen Kapitals. Übersetzung: Ruth Stoljarowa, Dez. 2013