Der Parteitag der Konservativen Partei Anfang Oktober in Manchester kommt einer billigen Komödie gleich. Der Saal war halb leer. Mays Eingangsrede wurde von einem Hustenanfall torpediert, und irgendein Witzbold überreichte ihr eine Entlassungserklärung. Dann fiel das Banner mit dem faden Slogan der Tories, „Ein Land aufbauen, das für jeden funktioniert“ auf die Bühne. Und einige von Mays Kabinettsmitgliedern brachten sich offen als Ersatz für die Premierministerin und Parteivorsitzende ins Spiel.
Im Gegensatz dazu war die Konferenz der Labour-Partei in Brighton eine Woche zuvor zum Bersten voll mit jungen Aktivist*innen, die eifrig Positionspapiere schrieben. Und Corbyn hielt eine mitreißende Rede für die Rücknahme der Kürzungspolitik, für Investitionen in Bildung, Gesundheitsversorgung und Technologie, finanziert durch höhere Steuern für die Wohlhabenden.
Über diesen Geschehnissen tut sich dräuend der März 2019 auf, das Datum, zu dem all die komplexen Fragen der Scheidung Britanniens von der EU gelöst sein müssen. Die Zeitmarge ist eigentlich sogar kürzer, denn das Europäische Parlament und die 28 Mitglieder der EU werden zur Ratifizierung irgendeines Abkommens mindestens sechs Monate brauchen.
Diese komplexe Gemengelage erfordert beträchtliche Kompetenzen – etwas, wovon May und die Konservativen nichts erkennen lassen.
Eine chaotische Scheidung
Die Schlüsselfragen, die es zu lösen gilt, drehen sich um Menschen und Geld. Menschen aus Mitgliedsstaaten der EU genießen Bewegungsfreiheit, das Recht, überall innerhalb der Länder des Binnenmarktes zu reisen und zu arbeiten. Ebenso haben sie Zugang zu Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, wenn auch mit einigen Einschränkungen. Millionen nicht-britischer EU-Bürger*innen leben derzeit im Vereinigten Königreich. Was geschieht mit diesen Menschen, wenn der Brexit vollzogen wird? Und was ist mit den zwei Millionen Brit*innen, die in anderen EU-Ländern leben?
Die Einwanderung zu kontrollieren, war ein Hauptargument jener, die sich für den Austritt aus der EU einsetzten, wenn dieses Argument in der Bedeutung auch überschätzt wurde. Viele Brexit-Wähler*innen wollten einfach ihre Wut über die Mainstream-Parteien – Labour und Tories gleichermaßen - zum Ausdruck bringen. Diese hatten in mehr oder weniger großem Ausmaß Politiken Vorschub geleistet, die die Wohlhabenden bevorzugten und ökonomische Ungleichheit verschärften. Und für viele war die Mitgliedschaft in der EU einfach darauf ausgerichtet, die Arbeitskosten zu senken, um die Exporte zu steigern. Entsprechend übte der deutsche Kanzler Helmut Kohl (1982 bis 1998) Druck auf die EU aus, zentral- und osteuropäische Länder aufzunehmen, weil sie ein Reservoir an billiger Arbeitskraft boten, das dazu genutzt werden konnte, die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften generell zu schwächen. Darin erfuhr er damals starke britische Unterstützung. Die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder in Britannien sank von über 13 Millionen im Jahr 1979 auf gegenwärtig lediglich etwas über 6 Millionen.
Die Konservativen wollen Einwanderung erschweren, dabei jedoch vollen Zugang zum Handelsblock erhalten, eine Strategie, die als „den Kuchen essen und behalten“ bekannt wurde. Bislang war dieser Ansatz erfolglos. Umfragen zeigen, dass nur 30 Prozent der Menschen in EU-Mitgliedsstaaten meinen, dass Britannien einen günstigen Deal angeboten bekommen sollte. In Frankreich waren sogar nur 19 Prozent dafür.
Die Konservativen selbst sind gespalten. Eine Fraktion dringt auf einen ‚harten Brexit‘, nach dem Einwanderung streng kontrolliert wird, der gemeinsame Markt und die Zollunion sowie jegliche Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes abgeschafft werden. Die rivalisierende Fraktion des ‚weichen Brexit‘ würde EU-Gesetze und den Gerichtshof akzeptieren, weil sie befürchtet, dass ein Ausstieg aus dem gemeinsamen Markt der britischen Wirtschaft schaden könne. In Anbetracht dessen, dass Länder wie Japan, China und die USA wenig willens sind, unabhängige Abkommen mit dem Vereinigten Königreich abzuschließen, ist dies wahrscheinlich eine zutreffende Einschätzung.
Während die Tories streiten, hat sich die Labour-Partei von dieser Frage ferngehalten, was auf eine stillschweigende Unterstützung eines weichen Ausstiegs hinausläuft. Labour redet lieber über die Themen, die viele der Brexit-Wähler*innen vor allem bewegt: Wohnungskrise, Gesundheitsversorgung, die steigenden Kosten für Bildung und die wachsende Ungleichheit. Diese Strategie zeigte bei den vorgezogenen Neuwahlen im Juni 2017 Wirkung, als die Konservativen ihre parlamentarische Mehrheit verloren und Labour 32 Sitze dazu gewann.
Scheidungen sind nicht nur chaotisch, sie sind zudem auch teuer. Im zurückliegenden September bot May an, der EU 20 Milliarden Euro zu zahlen, um Britannien aus dem Block zu lösen, doch die EU-Mitglieder verlangen mindestens 60 Milliarden – einige gar bis zu 100 Milliarden – und lehnen ab, über den Zugang Britanniens zum Binnenmarkt zu sprechen, bevor die Höhe der Summe geklärt ist. Alles Reden vom ‚Kuchen‘ ist dahin.
Der Status Nordirlands
Und dann ist da noch Irland. Die Insel ist wohl kaum ein großer Player in der EU – das Bruttoinlandsprodukt der Republik steht im Gesamtblock an 15ter Stelle. Aber das Land teilt sich eine Grenze mit Nordirland. Wenn sich der Norden auch während der Wahl für einen Verbleib in der EU aussprach – als Teil des Vereinigten Königreichs wird er die Union verlassen müssen, wenn Britannien dies tut. Was mit der Grenze des Landes geschieht, ist ein Politikum. Bezirke mit protestantischer Mehrheit wurden 1921 Teil von Ulster, während jene mit katholischer Mehrheit in der südlichen Republik verblieben. Während der „Unruhen“ zwischen den späten 1960er Jahre bis in die späten 1990er Jahre hinein war die Grenze stark militarisiert und von Tausenden britischer Truppen bewacht. Niemand, ob aus dem Norden oder dem Süden, wünscht sich Mauern und Wachttürme zurück. Doch wird der Handel zwischen der Republik und Ulster beaufsichtigt werden müssen, um sicherzustellen, dass Steuern bezahlt, Umweltgesetze befolgt und die Unzahl von EU-Vorschriften eingehalten werden.
Jenseits des Handels gibt es da noch die Ergebnisse des Karfreitagsabkommen von 1998, das die Kämpfe zwischen Katholik*innen und Protestant*innen beendete. Während es einerseits eine Route zur Beilegung der Differenzen durch Teilung der Macht beschrieb, bestimmte es andererseits auch die Substanz der Hoheitsgewalt neu. Im Wesentlichen verständigten sich die Irische Republik und Britannien darauf, dass keines der beiden Länder einen Anspruch auf Ulster erheben könne, und dass Einwohner Nordirlands als „Irisch, Britisch oder beides, wenn sie sich so entscheiden“, anzuerkennen seien.
Eine derart fluide Definition von Staatshoheit ist nunmehr durch den Brexit bedroht. Die Bedrohung ergibt sich v.a. daraus, dass May und die Konservativen sich – für den Preis von zwei Milliarden Euro an Bestechungsgeldern – in eine Allianz mit der extrem rechten und sektiererischen protestantischen
Democratic Unionist Party begeben hat, um Gesetzesinitiativen durchzubringen. Der Pakt zwischen diesen beiden kann nicht als formales Bündnis gelten, nichtsdestotrotz untergräbt er die Idee, dass die britische Regierung ein ‚neutraler und ehrlicher Vermittler‘ in Nordirland sei. In ihrer Rede im September erwähnte May die Frage der irischen Grenze nicht einmal, obwohl die EU zuvor klargemacht hatte, dass dieses Thema zu klären ist.
Zeit politischer Konsequenzen
Die Gespräche zwischen Britannien und der EU gehen nur zentimeterweise voran, teils weil die Konservativen tief gespalten sind, teils weil sich die EU nicht sicher ist, ob May liefern kann oder die derzeitige Regierung bis zur nächsten Wahl im Jahr 2022 am Ruder bleiben wird. Angesichts des Aufstiegs von Labour, einer Premierministerin, die sich auf eine extremistische Partei stützt, um an der Macht zu bleiben, und der Position von Ländern wie Frankreich, das begierig darauf wartet, die Finanzinstitutionen abzuwerben, die gegenwärtig in London arbeiten, haben die EU-Staaten keine Eile damit, die Dinge zu regeln. Mays Blatt ist schwach, und Brüssel weiß das.
Womöglich wird es die Labour-Partei mehr mit dem Brexit zu tun bekommen als derzeit – doch vermutlich hat Corbyn Recht mit seiner Einschätzung, dass der größte Spuk, von dem Europa heute verfolgt wird, nicht Britanniens Ausstieg ist, sondern vielmehr der Zorn über wachsende Ungleichheit und Jobunsicherheit, eine Wohnungskrise und EU-Regularien, die die Entwicklung wirtschaftlicher Strategien an nichtgewählte Bürokrat*innen und Banken übergeben haben.
„Die neoliberale Agenda der letzten vier Dekaden mag gut für das eine Prozent gewesen sein“, so Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, „nicht jedoch für den Rest.“ Jene politischen Maßnahmen mussten „politische Konsequenzen“ zeitigen, fährt er fort, „und diese Tage sind jetzt angebrochen.“
Der Artikel erschien im Englischen unter dem Titel „Britain Faces a Brave New World After Brexit“ auf portside.com. Übersetzung von Corinna Trogisch