Wir können uns „nicht auf der vermeintlichen Gewissheit ausruhen, dass unser Modell einer […] liberalen und sozialen Marktwirtschaft gegenüber dem chinesischen System langfristig gesamtwirtschaftliche Vorteile mit sich bringt“. Diese bemerkenswerten Zweifel am Wirtschaftssystem der BRD äußerte nicht irgendwer, sondern der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), der größte und mächtigste Unternehmensverband der Bundesrepublik, in einem Strategiepapier zu China Anfang 2019.Diese bemerkenswerten Zweifel am Wirtschaftssystem der BRD äußerte nicht irgendwer, sondern der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), der größte und mächtigste Unternehmensverband der Bundesrepublik, in einem Strategiepapier zu China Anfang 2019. Nur wenige Wochen später präsentierte das Bundeswirtschaftsministerium eine „Nationale Industriestrategie 2030“ (im Folgenden NIS 2030), die Wirtschaftsminister Peter Altmaier – wohlgemerkt ein Minister jener CDU, die ansonsten weniger für ihre sozialistischen Ambitionen bekannt ist – den Ruf einbrachte, eine besondere Vorliebe für „Planwirtschaft“ zu hegen. In deutlichem Gegensatz zu bisherigen deutschen Industriestrategien, die vornehmlich auf die „unsichtbare Hand“ und den „Markt als Entdeckungsverfahren“ setzten, sieht die NIS 2030 die gezielte staatliche Förderung von strategischen Schlüsseltechnologien, Industriekonsortien und ausgewählten deutschen und europäischen Großkonzerne (‚Champions‘) in der Weltmarktkonkurrenz vor. Ausländische Übernahmen, die die „Technologie- und Innovationsführerschaft“ bedrohen, sollen durch einen Staatsfonds und insgesamt eine Ausweitung der strategischen Investitionskontrolle abgewendet werden.
Mit dieser Orientierung stellt die NIS 2030 einen Paradigmenwechsel in der deutschen Industriepolitik dar (Bofinger 2019), mithin gar einen Bruch der ordoliberalen wirtschaftspolitischen und liberalen außenhandelspolitischen Tradition der BRD. Entsprechend heftige Auseinandersetzungen löste ihre Veröffentlichung im deutschen Machtblock aus. Medial wurde gar ein „Wirtschaftsaufstand gegen Altmaier“ beschworen. Tatsächlich ist die NIS 2030 eher Ausdruck zunehmender Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Fraktionen des deutschen Kapitals angesichts zunehmender Krisentendenzen der exportorientierten deutschen Entwicklungsweise vor dem Hintergrund weitreichender geopolitischer Umbrüche. Aus den damit verbundenen Verschiebungen in der Interessenkonstellation im deutschen Machtblock und in der deutschen Industrie- und Außenwirtschaftspolitik ergeben sich aber auch neue strategische Handlungsbedingungen für eine progressive, sozial-ökologisch transformative Industriepolitik.
Ordoliberalismus – zwischen Mythos und Realität
Der Ordoliberalismus gilt als zentraler Prinzipiengeber der Wirtschaftsordnung der BRD: Ein starker Staat setzt einen wirtschaftlichen Ordnungsrahmen und verhindert die Konzentration von Markmacht, greift im Sinne einer ‚freien Marktordnung‘ aber nicht in den Wettbewerb ein. Die industriepolitische Realität hat diesem Leitbild nie voll entsprochen (Gerlach/Ziegler 2015): Der Steinkohlebergbau, die Atom- und Luftfahrindustrie, nicht zuletzt die Autoindustrie – Stichwort ‚Abwrackprämie‘ – wurden immer wieder großzügig. Dennoch war die deutsche Industriepolitik grundlegend „horizontal“ und „technologieoffen“ ausgerichtet, d.h. sie förderte Grundlagenforschung und sah, anders als in Frankreich, von der gezielten, aktiv industriepolitischen Förderung einzelner Branchen oder Technologien weitgehend ab. Schließlich könne der Staat nicht wissen, welche Unternehmen und Technologien sich am Ende durchsetzen – so die viel bemühte neoklassische Keule gegen aktive Industriepolitik. Flankiert wurde diese industriepolitische Orientierung durch das restriktive, stark von der neoliberalen Chicagoer Schule geprägten EU-Wettbewerbspolitik. Leon Brittan, enger Vertrauter von Margaret Thatcher und EU-Wettbewerbskommissar Anfang der 1990er Jahre, rühmte sich etwa damit, die Unterstützer einer aktiven Industriepolitik mit der unter ihm verhandelten Ausgestaltung der EU-Fusionskontrolle „effektiv zurückgeschlagen“ zu haben (zitiert nach Käseberg/Van Laer 2013: 188).
Die Renaissance der Industriepolitik
Doch mit der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff. stieg Industriepolitik wie ein Phönix aus der Asche. In der Krisenpolitik wurden staatliche Eingriffe nicht nur zur neuen Normalität, auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion wurde Industriepolitik zunehmend rehabilitiert (Rodrik 2008). Re-Industrialisierungsziele wurden ausgegeben – schließlich hatten Volkswirtschaften mit starker industrieller Basis die Krise zumeist weitaus besser überstanden als die stark finanzialisierten Ökonomien. Die Suche nach neuen, ‚grünen‘ Wachstumsfeldern und die Debatte über ‚Industrie 4.0‘ tat ihr Übriges. Auf europäischer Ebene schlug sich diese Renaissance in einer kaum noch überschaubaren Anzahl an allgemeinen und sektorspezifischen Industriestrategien nieder. Tatsächlich aber blieb die Industriepolitik nach wie vor weitgehend horizontal ausgerichtet. Aller diskursiver Konjunktur von Industriepolitik zum Trotz legte das EU-Wettbewerbsrecht aktiver Industriepolitik nach wie vor enge Grenzen auf. Während Frankreich auf eine Lockerung drängte, blockte die deutsche Bundesregierung bis vor wenigen Jahren konsequent ab.
Der Paradigmenbruch in Deutschland – Triebkräfte und Interessenkonstellation
Doch seit Ende der 2010er Jahre bröckelt diese Blockadehaltung. In relevanten Teilen des deutschen Machtblocks setztsich zunehmend die Diagnose durch, dass das exportorientierte Entwicklungsmodell in ernsthaften Schwierigkeiten steckt. Dabei wirken mehrere Krisentendenzen ineinander. Schon seit Längerem brechen ganze Branchen des deutschen Produktionssystems unwiderruflich weg – zunächst die Unterhaltungselektronik, später die Computertechnologie. Eine Folge davon ist, dass das deutsche Produktionssystem zunehmend den Anschluss an die Entwicklung neuer technologischer Paradigmen, vor allem im Rahmen von Big Data und künstlicher Intelligenz, verliert. Dies ist für das weltmarktorientierte Kapital insofern existenzbedrohend, als sich diese Technologien zunehmend als so genannte Basistechnologien erweisen, also Technologien, die die Voraussetzung für wichtige technologische Durchbrüche auch in den Kernbranchen des deutschen Produktionssystems bilden – schlagendes Beispiel: autonomes Fahren. Hinzu kommt ein womöglich noch gravierenderes Problem: Angesichts dieses Verlusts technologischer Fähigkeiten und der zunehmenden geopolitisch motivierten technologischen Entkopplung von den USA und China laufen Deutschland und die EU Gefahr, sich einer dieser beiden Technologiesphären unterordnen zu müssen – so es ihnen nicht gelingt, eine eigene Technologiesphäre im Sinne „strategischer Autonomie“ zu behaupten. Mit dieser technologischen Entkopplung stößt wiederum die Re-Orientierung des deutschen Außenhandels – weg von der krisengebeutelten und austeritätsgeplagten Eurozone, hin zu den wachstumsstarken emerging markets, allen voran China – zunehmend an Grenzen. So zielt die chinesische Industriestrategie primär darauf ab, die technologische Abhängigkeit vom Westen durch Substitution mit eigenen Technologien zu reduzieren.
Die NIS 2030 muss als Versuch verstanden werden, auf diese Entwicklungen mit einer protektionistischen, defensiv-geoökonomischen Wende Antworten zu finden. Anstelle des ordoliberalen Prinzips einer ordnungspolitischen Rahmensetzung bringt die NIS 2030 ein „neue[s] volkswirtschaftliche[s] Verhältnismäßigkeitsprinzip“ ins Spiel: je größer „die volkswirtschaftliche Bedeutung eines Vorgangs“ ist, desto stärker müsse der Staat aktiv industriepolitisch eingreifen – bis hin zur „zeitlich befristeten Übernahme von Anteilen“ an Unternehmen durch den Staat. Dabei geht es insbesondere um den staatlich organisierten und finanzierten Aufbau und Schutz von nationalen und europäischen Großkonzernen (‚Champions‘) und Industriekonsortien sowie den Erhalt geschlossener Wertschöpfungsketten als zentrale Grundlage für die industrielle und technologische Souveränität Deutschlands und der EU. In einem „französisch-deutschen Manifest für Industriepolitik“ forderten der französische und der deutsche Wirtschaftsminister nur wenige Wochen nach Veröffentlichung der NIS 2030 umfassende Anpassungen und Lockerungen des EU-Wettbewerbs- und Beihilfenrechts, um die Spielräume für eine solche aktive Industriepolitik zu schaffen. Zugleich erwägt die NIS 2030, mit einem Staatsfonds („nationale Beteiligungsfazilität“) ausländische Übernahme von Unternehmen abzuwenden, sofern dies erforderlich ist, um die deutsche „Technologie- und Innovationsführerschaft“ zu sichern. Darüber hinaus drängte das Bundeswirtschaftsministerium mit einer Reihe von Novellen der Außenwirtschaftsverordnung und einer Reform des Außenwirtschaftsgesetzes darauf, die Möglichkeiten zur Kontrolle und Untersagung ausländischer Direktinvestitionen zu erweitern.
Wenig überraschend stieß die NIS 2030 auf erbitterten Widerstand. Die entfachten Auseinandersetzungen legen zentrale Konfliktlinien und konkurrierende Interessenlagen im deutschen Machtblock wie unter einem Brennglas offen. Der BDI, seit jeher dominiert vom großen, exportorientierten deutschen Industriekapital (Heine/Sablowski 2013), distanzierte sich zwar von einigen Kernelementen der NIS 2030 – vor allem die Beteiligungsfazilität und eine Verschärfung der Investitionskontrolle –, unterstützte ansonsten aber die allgemeine industrie- und wettbewerbspolitische Stoßrichtung der NIS 2030. Tatsächlich dürfte der Verband mit seinem kurz zuvor erschienen und viel beachteten Strategiepapier zu China sogar ein zentraler Ideengeber für die NIS 2030 gewesen sein. Dagegen formierte sich eine breite Akteurskonstellation, die sich in ihrer Ablehnung einer aktiv-strategischen Industriepolitik und dem Versuch, den wettbewerbspolitischen Status quo zu verteidigen oder sogar zu vertiefen, wohl am ehesten als ‚ordoliberal-defensiv‘ charakterisieren lässt. Dazu zählen die so genannten ‚mittelständischen‘ Unternehmensverbände (Die Familienunternehmer, Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft), die American Chamber of Commerce in Germany, wichtige Wirtschaftsforschungsinstitute (ifo, IfW Kiel), der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die FDP und relevante Teile von CDU/CSU sowie interessanterweise auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagebaus (VDMA), einer der wichtigsten Mitgliedsverbände des BDI. Gewerkschaften und SPD wiederum kritisierten zwar einzelne angebotspolitischen Elemente, gingen in ihrer grundsätzlichen Unterstützung der industrie- und wettbewerbspolitischen Stoßrichtung der NIS 2030 noch weiter als der BDI, vor allem mit Blick auf das Ziel, geschlossene Wertschöpfungsketten sowie die industrielle und technologische Souveränität zu erhalten.
Von dieser Akteurskonstellation lässt sich auf zwei wesentliche Fraktionierungslinien des Kapitals schließen. Einerseits hängt die Positionierung von der Stellung im Konkurrenzverhältnis im europäischen Binnenmarkt ab. Die Fraktion des oligopolistischen, weltmarktorientierten Kapitals erhofft sich von einer aktiv-strategischen Industriepolitik eine stärkere öffentliche Förderung und die Möglichkeit, ihre marktbeherrschende Stellung im europäischen Binnenmarkt auszubauen, um ihre Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt gegenüber US-amerikanischen und chinesischen Konkurrenten zu verteidigen (Schneider 2020). Demgegenüber sieht sich die Fraktion des nicht-oligopolistischen, häufig (aber nicht nur!) auf den Binnenmarkt orientierten Kapitals dadurch in Bedrängnis. Eine zweite Fraktionierungslinie ergibt sich aus den Internationalisierungsmustern und der Stellung auf dem Weltmarkt. Wie Julian Germann zeigt, tragen etwa jene Branchen wie die chemische oder elektrotechnische Industrie, die in den letzten Jahren gegenüber China stark an Weltmarktanteilen verloren, die protektionistische Wende überwiegend mit. Branchen wie die Automobilindustrie und der Maschinenbau, die nach wie vor über eine dominante Position am Weltmarkt verfügen, viel nach China exportieren und dort auch umfangreiche Direktinvestitionen getätigt haben, fürchten dagegen eine ‚Abschottungsspirale‘.
Asymmetrischer Kompromiss und Durschlag auf die europäische Ebene
Schließlich verdichteten sich die Auseinandersetzungen im deutschen Machtblock in einem asymmetrischen Kompromiss: Einer zweiten Version der NIS 2030 („Industriestrategie 2030“), flankiert von einer „Mittelstandsstrategie“, die die Kernforderungen der ‚mittelständischen‘ Unternehmensverbände aufgreift, und dem Projekt „Wettbewerbsrecht 4.0“, das große Digital- und Plattformkonzerne einer strengeren wettbewerbspolitischen Regulierung unterwirft. Die Industriestrategie 2030 selbst lässt besonders kontroverse Initiativen und Formulierungen wie das neue volkswirtschaftliche Verhältnismäßigkeitsprinzip oder die nationale Beteiligungsfazilität fallen und umgarnt sprachlich die ordoliberal-defensive Akteursgruppe. In der Substanz hält sie aber an den zentralen industrie- und wettbewerbspolitischen Forderungen fest. Auch die strategische Investitionskontrolle wurde – mit einigen Zugeständnissen – sukzessive ausgeweitet.
Hiervon ausgehend brach sich der deutsche Kurswechsel auch auf europäischer Ebene Bahn. Unter deutsch-französischem Druck leitete die Kommission eine Reform der Fusionskontrolle ein. Durch immer weitere Important Projects of Common European Interest (IPCEIs), die umfangreiche Subventionen in Schlüsseltechnologiebereichen wie Batteriezellen, Mikroelektronik, Wasserstoff oder Cloud-Technologien erlauben, wird das europäische Beihilfenrecht unterhöhlt. Die EU-Industriestrategien von 2020 und 2021 zielen explizit die Rückverlagerung industrieller Produktion in bestimmten strategischen Bereichen ab. Mit dem European Green Deal als „neue Wachstumsstrategie“ und NextGenEU erhält die EU-Industriepolitik nicht nur einen grünen Anstrich, sondern auch eine neue finanzielle Schlagkraft. Zugleich verteidigt die Kommission ihre wettbewerbspolitische Stellung aber auch mit Initiativen zur Stärkung des Wettbewerbsrechts – auch mit deutscher Unterstützung. So wurde das Beihilfenrecht auf die Kontrolle drittstaatlicher (read: chinesischer) Beihilfen an europäische Unternehmen ausgeweitet, und das Wettbewerbsrecht gegenüber großen, marktbeherrschenden (read: US-amerikanischen) Digital- und Plattformkonzernen geschärft. Letztlich geht es also um eine umkämpfte Doppeltendenz von Schwächung und Stärkung des EU-Wettbewerbsrechts unter zunehmend geoökonomischen Vorzeichen.
Strategische Konsequenzen
Die Umprogrammierung neoliberaler Kernelemente der europäischen Wirtschaftsintegration ist also im vollen Gange. Aus progressiver Sicht gibt es dennoch wenig Anlass zur Euphorie. Denn letztlich handelt es sich um eine Fortsetzung der Logik des “globalen Kampfes um Standort- und Wettbewerbsvorteile“ (Fisahn 2019), wenn auch mit anderen Mitteln – also kein Bruch mit, sondern lediglich innerhalb der wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise der EU. Die Aufweichung des Beihilfenrechts erweitert nicht nur die Spielräume für Industriepolitik, sondern birgt auch die Gefahr, dass sich die Polarisierung zwischen Zentrum und Peripherie in Europa vertieft – vor allem, weil im Rahmen der IPCEIs in erster Linie Unternehmen an der Technologiegrenze gefördert werden, die überwiegend auf die europäischen Zentrumsökonomien konzentriert sind. Nicht unwichtig ist auch das Risiko eines ‚Corporate Capture‘: industriepolitische Förderungen aus öffentlichen Geldern werden überwiegend von einigen einflussreichen Großkonzernen vereinnahmt – und die Gewinne privatisiert. So steuerte etwa die EU einen großen Teil der Finanzierungskosten für eine Wasserstoff-Elektrolyseanlage von Shell bei Köln bei. Die industriepolitische Investitionsoffensive wie der European Green Deal insgesamt könnten sich in diesem Sinne als „passive Revolution“ erweisen: Einige progressive Forderungen werden aufgegriffen, um die aktuelle Machtkonstellation zu stabilisieren – und eine grundlegende Transformation abzuwenden. Die ökologische Krise wird selektiv bearbeitet, letztlich aber lediglich in Raum und Zeit verschoben.
Umso wichtiger ist es herauszustellen, wie eine genuin sozial-ökologisch transformative Industriepolitik mit den dominanten Ansätzen eines ‚Greening‘ bricht und über diese hinausgeht. Zunächst einmal grundsätzlich: Es bedarf gezielter industriepolitischer Eingriffe. Emissionshandel und CO2-Bepreisung allein fördern aufgrund gradueller Preisanstiege oftmals eher inkrementelle Effizienzsteigerung und Optimierung als disruptivem Wandel, also den Umstieg auf komplett neue Technologien, Verfahren und Produkte. Entgegen dem Phantasma ‚grüner Wachstumsstrategien‘ muss sich eine transformative Industriepolitik zweitens an absoluten, gesellschaftlich ausgehandelten Grenzwerten orientieren – sowohl mit Blick auf Treibhausgasemissionen als auch den Durchsatz endlicher Ressourcen. Eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum einerseits und Emissionen sowie Ressourcennutzung andererseits ist erwiesenermaßen – wenn überhaupt – nur relativ, nicht aber absolut möglich. Drittens muss transformative Industriepolitik über Klimaneutralitäts- oder Netto-Null-Ziele hinausgehen, zu welchen sich inzwischen nicht nur viele Staaten und die EU, sondern auch Konzerne wie Microsoft oder selbst VW bekennen. Denn diese ermöglichen es, nur teilweise zu dekarbonisieren und mit Blick auf verbleibende ‚Restemissionen‘ auf das zweifelhafte Zukunftsversprechen von Negativ-Emissionstechnologien zu setzen. Sollte sich dieses Versprechen als falsch erweisen – worauf vieles hindeutet –, könnten sich die Klimaneutralitäts- und Netto-Null-Ziele rückblickend nicht als ‚ambitioniert‘, sondern als auf fatale Weise transformationsverzögernd erweisen.
Viertens und letztens werden Investitionen und Innovationen alleine nicht reichen. Es braucht auch das Gegenteil – ‚Exnovation‘, also das gezielte Beenden bzw. Auslaufen lassen von Technologien, Produkten und gesamten Branchen (Pichler et al. 2021). Diese Prozesse müssen umfassend regional- und sozialpolitisch abgefedert und wo immer möglich bzw. sinnvoll mit Strategien industrieller Konversion verbunden werden. Zunächst setzt dies aber ein Aufbrechen etablierter Akteurskoalitionen, insbesondere „korporative Blockbildungen“ (Dörre 2019), und ein neues Rollenverständnis der Gewerkschaften als Trade Unions for Future, als wichtige Triebkräfte der sozial-ökologischen Transformation voraus (Brand 2019). Das würde auch neue Bündnisse zwischen Gewerkschaften und Umweltbewegungen ermöglichen. Ein verbindendes Einstiegsprojekt könnte ein industrieller Transformationsfonds sein, der öffentliche Beteiligungen in zentralen Industriebereichen ausweitet, bündelt und koordiniert – mit dem strategischen Horizont, Fragen von Produktion und Investition, von denen unser menschliches Überleben wie niemals zuvor abhängt, nicht einer kleinen Minderheit an Anteilseigner*innen zu überlassen, sondern einem kollektiven, wirtschaftsdemokratischen Entscheidungsprozess zu unterwerfen.