Kurze Geschichte eines langen Kampfes

Die Arbeitszeit ist – neben Entgelt und Verfügungsgewalt – entscheidendes Feld im Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Zu Beginn der Industrialisierung gab es ungeregelte Arbeitszeiten, nur durch Tag- und Nachtrhythmus bestimmt. In England wurde der 10-Stunden-Tag vor 150 Jahren eingeführt (Engels, MEW 1, 135ff). 1886 riefen die nordamerikanischen Gewerkschaften zum Generalstreik für den 8-Stunden-Tag, dieser eskalierte in Chicago, als die Polizei zwei Demonstranten erschoss. Im Jahr 1900 wurden zehn Stunden Arbeitszeit an sechs Tagen pro Woche durchgesetzt. Seit der Novemberrevolution 1918 ist der 8-Stunden-Tag Gesetz. Im Ergebnis der Aktionen der Arbeiter- und Soldatenräte gelten seither die Tage von Montag bis Samstag als Werktage. Im Zeichen der Systemkonkurrenz begann 1955 der Kampf um die 5-Tage- und 40-Stunden-Woche, die ca. zehn Jahre später zum tariflichen, allerdings nie zum gesetzlichen Standard wurde. Wieder 20 Jahre später wurde die 35-Stunden-Woche von den Gewerkschaften auf die Tagesordnung gesetzt und im Verlaufe weiterer zehn Jahre und massiver Kämpfe in der Metall-, Elektro- und Druckindustrie durchgesetzt, aber weder zum allgemeinen noch zum gesetzlichen Standard. Die Streiks dafür dauerten bis zu zwölf Wochen. Die Verkürzung von Arbeitszeit bedeutet eine Verkürzung der Zeit, in der die Arbeitenden Anweisungen folgen müssen – auch wenn Beschäftigte den Eindruck haben, Arbeitszeitverkürzung sei verantwortlich für Lohnkürzung und Leistungsverdichtung. Auch bei Arbeitszeitverlängerung werden in der Krise Löhne gekürzt und Leistung verdichtet. 1960 haben 26 Mio. Erwerbstätige in der alten BRD 56 Mrd. Arbeitsstunden geleistet; 2006 haben 39 Mio. Erwerbstätige in Deutschland (davon nur 27 Mio. in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen) ebenfalls 56 Mrd. Stunden gearbeitet. In den letzten Jahrzehnten ist die Produktivität der Arbeit enorm gestiegen. Und immer mehr Menschen in Deutschland haben gearbeitet. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen und Jahr ist stetig gesunken. 1970 arbeitete ein Erwerbstätiger in der BRD durchschnittlich noch 1966 Stunden pro Jahr. 1991 waren es nur noch 1559 Stunden. Die durchschnittliche Stundenzahl sank weiter und hat sich seit 2003 stabilisiert. Im Jahr 2006 arbeitete ein Erwerbstätiger durchschnittlich 1436 Stunden. Während in Industrie und Handwerk oft deutlich über 40 Stunden gearbeitet wird, sind dies im Versorgungs- und Dienstleistungsbereich oft nur 15 bis 20 Stunden, manchmal sogar nur 5 bis 10 Stunden mit entsprechend geringen Einkommen. Rund 9 Mio. Menschen waren im Juni 2010 in Deutschland unterbeschäftigt.1 Die tatsächliche durchschnittliche Arbeitszeit beträgt ca. 30 Stunden – für die meisten Menschen die Wunscharbeitszeit. Wenn geringes Wachstum und weitere Produktivitätssteigerungen vorausgesetzt werden, sind nur noch 20 Stunden pro Woche mit sinkender Tendenz erforderlich, um das Wohlstandniveau zu halten. Der Arbeitsbegriff muss weiter gefasst werden als bisher. Fordismus und unbegrenztes Wachstum sind erodiert, es geht um eine Umfairteilung aller Arbeit. Die bisher bezahlte »produktive« Erwerbsarbeit wird reduziert durch Produktivitätssteigerungen, Nachfragerückgang und erschöpfte Energie- und Rohstoffquellen. Es wachsen die oft unbezahlten, aber gesellschaftlich und individuell erforderlichen Tätigkeiten wie Beziehungsarbeit, Eigenarbeit, ehrenamtliche und politische Arbeit, Hausarbeit, Erziehungsarbeit, Kulturarbeit, Bildungsarbeit oder Pflegearbeit. Mit Profitlogik ist Erziehung, Pflege, Kultur aber nicht zu bemessen.

»Das nenne ich leben« – eine Geschichte über Arbeitszeit

Das Erleben der 4-Tage-Woche bzw. des 6-Stunden-Tages (28,8-Stunden-Woche in den Werken der VW-AG zwischen 1994 und 2006) verdeutlicht die kulturellen Veränderungen im Leben und Bewusstsein der Arbeitenden, ihrer Familien und ihres sozialen Umfeldes. Das Recht, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, war immer ein Begründungszusammenhang für Arbeitszeitverkürzung – selten konnte empirisch ermittelt werden, wie die betroffenen Menschen von diesem Recht Besitz ergriffen haben. Die Vier-Tage-Woche bei Volkswagen in Wolfsburg war eine kulturelle Revolution: Über 40 Jahre gab es einen Rhythmus, der von Früh- und Spätschicht geprägt war, die Stadt, die Kneipen, die Geschäfte, die Vereine atmeten im Rhythmus der Fabrik. In der Frühschicht klingelte morgens um 4 Uhr der Wecker, mit Bus oder Fahrgemeinschaft zur Arbeit, Arbeiten von 5.30 Uhr bis 14 Uhr, um 15 Uhr zu Hause müde und kaputt von zu wenig Schlaf und 8 Stunden Arbeit, Hausarbeit, etwas Familienzeit und ab ins Bett, bevor der Wecker wieder um 4 Uhr klingelt. In der Spätschicht frühes Aufstehen mit den Kindern, etwas Hausarbeit, Einkaufen, Kochen und Essen und um 13 Uhr zur Arbeit. Von 14 Uhr bis 22.30 Uhr 8 Stunden am Fließband, dann Duschen, Umziehen und gegen 23.30 wieder zu Hause – alles schläft, keiner wacht. In diesem Rhythmus war kaum Platz für Familienleben, für aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ab März 1994 ein ganz anderer Rhythmus: 4-Tage-Woche und 6-Stunden-Tag! »Du kommst Donnerstagabend nach Hause, du weißt, du hast Wochenende. Freitag, Samstag, Sonntag freie Zeit, nicht fremdbestimmt. … Das nenne ich leben.« (Hildebrandt/Hielscher 1999, 104f). Beim 6-Stunden-Tag beginnt die Frühschicht nach ausreichendem Schlaf um 7 Uhr und endet um 13 Uhr mit viel Zeit für Aktivitäten, die Spätschicht beginnt um 13 Uhr und endet vor der Tagesschau oder dem Sporttreff um 19 Uhr. Die Arbeitszeitverkürzung führt 1 | zu einer »Entdichtung der Alltagsabläufe durch ein ›Einsickern‹ der Arbeitszeitverkürzung in den Alltag« (Hildebrandt/Hielscher, 107). 2 | Die Arbeitszeitverkürzung stellt ein »Potenzial dar für eine verbesserte Koordination von Beruf und privatem Leben, insbesondere dem Familienleben«. Dieser Effekt kann noch verstärkt werden durch Verbindung mit einer »Ausweitung von persönlicher Arbeitszeitoptionalität, etwa durch Gleitzeit«. »Eine wesentliche Voraussetzung für erweiterte Möglichkeiten der Lebensgestaltung durch Arbeitszeitverkürzung ist die Stabilität und Verlässlichkeit von betrieblichen Vorgaben für individuelle Arbeitszeiten und Freizeitblöcke.« Durch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten wurden die Vorteile der Arbeitszeitverkürzung bei Volkswagen wieder vernichtet, durch zusätzliche Entgeltverluste in ihr Gegenteil verkehrt und schließlich im Jahr 2006 durch eine tariflich vereinbarte unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit vollständig aufgehoben. Dieses auch, weil dem »Modell Volkswagen« keine anderen Betriebe folgten. Der Umbau der Automobilindustrie ist im vollen Gange. Kapazitäten werden um- und abgebaut, verbunden mit Standortverlagerungen, Arbeitszeitverlängerungen, Arbeitsintensivierung und Produktivitätssteigerungen. Wesentliche Punkte für die Erneuerung der Arbeitszeitdebatte im linken politischen und gewerkschaftlichen Diskurs sind: 1 | Die Prekarisierung der Arbeit durch Teilzeitarbeit, Kurzarbeit und Lohnkürzung wirkt massiv auf ›Normalarbeitsverhältnisse‹, die kaum noch Norm sind. Die Angst vor dem Absturz in Hartz IV führt zu Zugeständnissen seitens der Gewerkschaften und der Beschäftigten, die vor wenigen Jahren nicht möglich waren. Der Prekarisierung entgegenzuwirken, stützt also im wohlverstandenen eigenen Interesse auch diejenigen, die in tariflich gesicherten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. 2 | In der Krise und bei der Transformation der Branche geht es um die Verteidigung dessen, was in Jahrzehnten errungen wurde; dies ist mit dem Festhalten an Verträgen und Strukturen allein nicht möglich; sie sind mit offensiven Forderungen nach Mitbestimmung bei Planung und Produktion zu verbinden und in den Belegschaften zu verankern. 3 | Arbeitszeitverkürzung ist nicht als ein ökonomisches Projekt zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit anzugehen, sondern gleichwertig und gleichzeitig als emanzipatorisches, kulturelles und demokratisches Projekt. Der maßlosen Vernutzung der Arbeitskraft wird der Anspruch auf Partizipation entgegengesetzt. 4 | Es geht weder um Arbeit noch um Produktion an sich. Es geht um gute Arbeit und nützliche und nachhaltige Produkte. Zeitreichtum und Zeitsouveränität mit einer sozialen Grundsicherung sind Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Lebensführung neuer Art: Weniger Konsum von dem, was uns ohnehin nicht glücklich macht – stattdessen mehr Zeit zum Leben, Lieben und Lachen! 5 | Die Durchsetzung bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses, der nicht allein durch linke, gewerkschaftliche Strömungen zu erreichen ist. Wie bei früheren Etappen der Arbeitszeitverkürzung ist an Bündnissen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zielstrebig zu arbeiten (vgl. Für ein linkes Mosaik, Luxemburg 1/2010). Voraussetzung ist programmatische Klarheit über den Umbau der Industrie, die Grenzen des Produktions- und Konsumtionsmodells und den Anspruch auf gesellschaftliche Planung. Was tun, wenn die »Freiheit« zu fahren und zu reisen, so viel und so schnell mensch will, an versiegten Ressourcen, hohen Preisen, vergiftetem Klima oder verstopften Straßen endet? Beginnt dann die Bereitschaft, über Veränderungen nachzudenken, endet das irrationale Verhältnis, das wir zum Auto und den Produktionsbedingungen haben. Ein Branchenrat, zunächst wohl ohne Unternehmensvorstände und bürgerliche Regierungen, aber mit vielen kritischen Wissenschaftler/innen, mit Ingenieur/innen, mit Beschäftigten und Interessenvertreter/innen, mit Verkehrspolitiker/innen, mit Umweltschützer/innen, mit Internationalist/innen und Künstler/innen könnte ein Anfang sein, um viel Zeit zum Leben zu gewinnen.  

Literatur

Hildebrandt, Eckart, und Volker Hielscher, 1999: Zeit für Lebensqualität, Berlin Krull, Stefan, Mohssen Massarrat und Margareta Steinrücke, 2009: Schritte aus der Krise, Hamburg

 Anmerkung

1      www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Navigation/Publikationen/STATmagazin/2010/Arbeitsmarkt2010__06,templateId=renderPrint.psml__nnn=true
  Erschienen in LuXemburg 3/2010, 94ff.