Alle reden gegenwärtig über Marx. Der junge Marx, der Philosoph, ist zum »Lieblingsautor der evangelischen Akademien« avanciert (Eiden-Offe 2017, 66). Koryphäen des Neoliberalismus konstatieren anerkennend, Marx habe »viele interessante Gedanken geäußert, die nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung und den Erkenntnisprozess der Volkswirtschaftslehre und der anderen Sozialwissenschaften hatten« (Sinn 2017, 73). Und in den Feuilletons der sogenannten Qualitätszeitungen ist Marx geradezu Stammgast. Sind wir heute also alle Marxist*innen (um ein Diktum Ralf Dahrendorfs zu variieren, mit dem er die Verallgemeinerung sozialdemokratischer Ideen am Ende des 20. Jahrhunderts auf den rhetorischen Punkt bringen wollte)?

Wohl kaum. Die Gewerkschaften des Gegenwartskapitalismus, die deutschen allzumal, sind es jedenfalls nicht. Sie behandeln den radikalen Kapitalismustheoretiker als jenen »toten Hund«, als den Marx selbst einst seinen philosophischen Lehrmeister Hegel durch das »Epigonentum« seiner Zeit behandelt sah. Jedenfalls endet die Recherche nach angemessenen gewerkschaftlichen Publikationen oder Veranstaltungen zum 150. Geburtstag des (ersten Bandes des) »Kapital« oder zum 200. Geburtstag des Autors weitestgehend ohne Befund.

Die Marx-Vergessenheit könnte Folge einer Verschiebung im Orientierungsgerüst der Gewerkschaften sein. Eine solche wurde jüngst der Sozialdemokratie, dem einst privilegierten Partner der Gewerkschaften, ausgerechnet von Jürgen Kaube (2015), dem Mitherausgeber der FAZ, attestiert.

»Die Sozialdemokratie […] schleppt ihre Grundsätze als schlechtes Gewissen mit. […] Eine aggressive Idee ist ihr, ach, abhandengekommen. […] Der Oppositionsgeist der Sozialdemokratie hat sich komplett ins Normative verschoben. Man hält Werte hoch (Gerechtigkeit, Solidarität, Aufstieg für alle), anstatt an empirisch tragfähige Analysen anzuschließen. Dem sogenannten Neoliberalismus etwa, den man angeblich bekämpft, antwortet keine ökonomische Gegenthese, sondern nur Empörung, begleitet von Mitmachen.«

Marx-Consulting: günstig, aber ertragreich

Schlechtes Gewissen statt tragfähiger Analysen, Werte statt ökonomischer Gegenthesen? Diesen Schuh werden sich die Gewerkschaften nicht anziehen wollen. Doch die Neigung, normativ begründeten Appellen den Vorzug vor politökonomischen Kapitalismusanalysen zu geben, ist auch bei ihnen nicht zu übersehen. Nicht, dass eine kapitalismuskritische Interessenpolitik auf normative Grundlagen verzichten sollte. Werte wie Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Solidarität sind als regulative Ideen unverzichtbar. Aber wenn eine noch so ambitionierte Wertepolitik nicht an die systemischen Zwänge des Gegenwartskapitalismus rückgekoppelt wird, bleibt sie schnell im Appellativen hängen; und wenn die kapitalistischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht als das Hindernis für eine Realisierung der hochgehaltenen Werte angegangen werden, wächst die Gefahr einer Praxis, in der willentliche Empörung und unwillentliches Mitmachen koexistieren.

Die Gewerkschaften werden das nicht wollen, so ist zu hoffen. Gefordert wäre dann eine wertebasierte Politik, die regulative Interventionen in die kapitalistischen Eigentums-, Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht ersetzt, sondern Orientierung gibt. Doch wie dazu kommen? Heute neigen die Gewerkschaften mitunter dazu, hippe Image- und Kampagnenagenturen zurate zu ziehen. Für eine Politik, die gesellschaftliche Verhältnisse zulasten der abhängigen Arbeit beklagt, um sie sodann zu transformieren, lohnt vielleicht eher der Blick in die »Blauen Bände«. Auch wenn Marx sicherlich ein Kind des 19. Jahrhunderts war, so haben seine Analysen erstaunlich Aktuelles zu den gewerkschaftlichen Strategiedebatten beizusteuern. Und im Gegensatz zu den kommerziellen Agenturen sind die Empfehlungen von »Marx-Consulting« durch ein Studium seiner Schriften und damit relativ preisgünstig zu haben.

Marx, der Ökonom

Das gilt etwa für die Hinweise des Ökonomen Marx. Er war Theoretiker der Akkumulation des Kapitals, der Ausbeutung der Arbeitskraft, der Bedeutung des Klassenkampfes und der historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise. Dabei sah er das »Geheimnis der Plusmacherei« (Marx 1867, 189) in der Besonderheit der Ware Arbeitskraft. Denn sie vermag ein höheres Wertprodukt zu erzeugen, als ihre Reproduktion kostet. Und dieses Mehrprodukt eignet sich der Kapitalist, getrieben durch das Zwangsgesetz der Konkurrenz, an, um es immerfort als Kapital zu akkumulieren. Marx konstatierte: Die »Größe der Akkumulation ist die unabhängige Variable, die Lohngröße die abhängige, nicht umgekehrt« (ebd., 648). Damit machte er deutlich, dass der Wertanteil, den der gewerkschaftliche Lohnkampf für die Arbeitskraft sichern kann, nicht willkürlich festzulegen, sondern an den Stand der Akkumulation gebunden ist. Er hat sich im Kontinuum zwischen den Reproduktionskosten der Arbeitskraft und den notwendigen Mindestprofiten des Kapitals zu bewegen. Jedenfalls solange die Zwänge des Lohnsystems akzeptiert werden.

Doch eine Bescheidung der gewerkschaftlichen Forderungen auf Verteilungsneutralität war damit nicht empfohlen. Nicht ohne normativen Elan erinnerte Marx daran, dass der Lohn sich aus dem zu begründen hat, was der Träger der lebendigen Arbeitskraft zum Leben braucht; und er diagnostizierte, dass die Wertbestimmung der Arbeitskraft auch ein »historisches und moralisches Element« (ebd., 185) enthält, dass also der Arbeitslohn eine Lebensweise auf der jeweiligen »Kulturstufe eines Landes« zu sichern hat. Die Reproduktionskosten der physischen Existenz und das historisch-moralische Element, das durch das Kräfteverhältnis der Kämpfenden selbst bestimmt wird, markieren somit jenen ökonomischen Raum, der durch den Lohnkampf offensiv ausgeschöpft, ja ausgedehnt werden kann – und sollte.

Ein zeitgemäßer Hinweis, in doppelter Hinsicht. Marx verweist zunächst darauf, dass der Ursprung der gesellschaftlichen Reichtumsverteilung in den Produktions- und damit in den kapitalistischen Besitzverhältnissen zu suchen ist und dass die obszöne Ungleichverteilung von Entgelten, Vermögen und Lebenschancen im Finanzmarktkapitalismus letztlich Folge dieser Verhältnisse und ihrer Verfügungs- und Aneignungsrechte ist. Wer sich der Norm der Verteilungsgerechtigkeit verpflichtet weiß, so »Marx-Consulting«, sollte sich erst empören, dann durch eine entsprechende Lohn- und Steuerpolitik umverteilen und schließlich in die Besitz- und Aneignungsverhältnisse intervenieren, um das Übel an der Wurzel zu packen.

Auch die Entgeltpolitik könnte sich inspirieren lassen. Gegenwärtig schöpft die Lohnentwicklung vielfach nicht einmal den verteilungsneutralen Spielraum aus Preis- und Produktivitätsentwicklung aus. Von einer kontinuierlichen Umverteilung ganz zu schweigen. Das bremst Kaufkraft und Binnenkonjunktur, verspielt Wachstumspotenziale und erhöht die Spannungen im Euroraum. Wäre es da nicht sinnvoll, einen zentralen Marx’schen Gedanken zu rehabilitieren: dass der Lohn im Kapitalismus seine Begründung nicht aus Wettbewerbsrücksichtnahmen bezieht, sondern aus dem Recht der Arbeitenden, ein Leben auf der Kulturstufe des Landes und des ökonomisch Möglichen zu führen? Zu fordern wäre demnach nicht, was verteilungsneutral ist, sondern was die Menschen für ein gutes Leben brauchen und wollen. Auch diese subjektivierten Forderungen würden letztlich durch die objektiven Spielräume der Akkumulation limitiert. Aber eine stärker bedürfnisorientierte Begründung der Entgeltpolitik könnte die normative Basis einer offensiveren Intervention in die Verteilungsverhältnisse des Gegenwartskapitalismus liefern.

Marx, der Ökologe

Heute sollte eine gewerkschaftliche Interessenpolitik, die sich auf der Höhe der kritischen Gegenwartsdiskurse befindet, auch die Defizite rein materieller Verteilungskämpfe um das Wertprodukt mitdenken. Zweifelsohne bleibt ein »gutes«, ein »gelingendes Leben« im Kapitalismus auf eine zureichende und zuverlässige Revenue angewiesen. Doch heute gewinnen Aspekte der Lebensqualität, etwa persönlichkeitsproduktive und »resonante« (H. Rosa) Sozialbeziehungen, an Bedeutung. Zugleich können die Naturgrenzen des kapitalistischen Wachstumsmodells nur noch um den Preis eines anachronistischen Strukturkonservatismus ignoriert werden.

Auch hier hat »Marx-Consulting« einiges zu bieten. Nach Marx gehen Individuen und Gesellschaften in ihrer Reproduktion immer zwei Verhältnisse zugleich ein: ein gesellschaftliches Produktions- und ein ebensolches Naturverhältnis. Ökonomie- und Naturkreisläufe sind notwendig ineinander verwoben (Altvater 2012, 53ff). So wie die lebendige Arbeit dem Druck der reellen Subsumtion unter das Kapital ausgesetzt ist, so ist es auch die Natur. Getrieben durch die pathologische Akkumulationsdynamik wächst der Kapitalismus, so die berühmte Formulierung, »indem er zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (Marx 1867, 530).

In der aktuellen Kapitalismustheorie ist diese Dynamik im Anschluss an Rosa Luxemburg und David Harvey als »kapitalistische Landnahme« interpretiert worden, die den Gegenwartskapitalismus in eine »ökonomisch-ökologische Doppelkrise« (K. Dörre) getrieben habe. Wer diese Landnahme als Quelle sozialer Deprivation und ökologischer Destruktion erkennt, sollte vor einem Rückfall in ein vorkritisches Wachstumsverständnis geschützt sein. Das hat (nicht nur) für die Gewerkschaften weitreichende Folgen. Traditionell sind Gewerkschaften Wachstumsfans. Aus nachvollziehbaren Gründen. Die Steigerung der ökonomischen Wertschöpfung ging lange mit einem Abbau von Arbeitslosigkeit einher und stärkte die eigene Verhandlungsmacht. Zugleich konnte das Mehrprodukt relativ erfolgreich durch Lohn- und Arbeitszeitpolitik zugunsten der lebendigen Arbeit umverteilt werden. Heute scheinen jedoch die Beschäftigungsschwelle des Wachstums und die Prekarität neuer Arbeitsplätze zu steigen und der Anteil der Lohnabhängigen am Sozialprodukt, etwa gemessen durch die Lohnquote, zu fallen. Doch vor allem entwerten die ökologischen Folgeschäden des kapitalistischen Wachstums die gesellschaftlichen Wohlfahrtsgewinne.

Diese Konstellation erfordert auch seitens der Gewerkschaften eine radikale Wachstumskritik (vgl. Artus/Weyand in diesem Heft). Diese muss keineswegs in neoromantischen Phantasien stationärer Ökonomien landen. Aber die Akteure materieller Umverteilung müssen sich ebenso vor der trügerischen Hoffnung auf die Rückkehr zum Wachstumskapitalismus der fordistischen Ära hüten. Wie ein Modell eines demokratisch regulierten sowie sozial und ökologisch nachhaltigen, eines selektiven und qualitativen Wachstums aussehen könnte und welche Konsequenzen für eine zeitgemäße Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Verteilungspolitik der Gewerkschaften zu ziehen wären, ist längst noch nicht erkundet. Dabei dürfte an einer Vergesellschaftung zentraler Investitions- und Entwicklungsentscheidungen und wirtschaftsdemokratischen Interventionen in die Eigentumsverhältnisse kein Weg vorbeiführen.

Marx, der Arbeitsschützer

»Marx-Consulting« hält auch Anregungen für die Rolle der Arbeitskraft in einem zukunftsfähigen Entwicklungsmodell bereit. Die Marx’sche Analyse thematisiert die destruktiven Folgen der kapitalistischen Akkumulationsdynamik auch anhand der physischen und psychischen Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft. Das kapitalistische Streben nach »rationeller und sparsamer Anwendung seiner Arbeitsbedingungen« (Marx 1894, 96) führe zur »Unterdrückung aller Vorsichtsmaßregeln zur Sicherheit, Bequemlichkeit und Gesundheit« (ebd., 99). »Das Kapital«, so Marx weiter, »ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird« (ders., 1867, 285).

Angesichts dieser Tendenz zur »Verschwendung von Leben und Gesundheit der Arbeiter« (ders., 1894, 99) verwundert es kaum, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz neben den Lohnkämpfen am Beginn gewerkschaftlicher Interessenvertretung stand. Aktuell wird versucht, das Feld einer gewerkschaftlichen »Arbeitsökologie-Politik« neu zu erschließen (Urban 2018). Die Verausgabung und Wiederherstellung des menschlichen Arbeitsvermögens wird dabei als ganzheitlicher Reproduktionsprozess gefasst und macht den Blick auf eine Ökologie der Arbeitskraft frei, die ökonomische, soziale und ökologische Dimensionen einschließt.

Was bedeutet das für eine gewerkschaftliche Interessenpolitik, der ein nachhaltiger Umgang mit der Arbeitskraft, der Gesellschaft und der Natur gleichwertige Ziele sind? Zweifelsohne gehören die historisch erfolgreichen Anstrengungen dazu, durch ein umfassendes Regime sozialer Sicherheit und betriebliche Partizipationskanäle den Warencharakter der Arbeitskraft zu reduzieren und die Einwirkungsmöglichkeiten der organisierten Arbeit auf den Arbeitsprozess auszubauen. Ebenso spricht alles dafür, im Zeitalter der Vermarktlichung der betrieblichen Sozialbeziehungen und der indirekten Personalsteuerung den präventiven Schutz der physischen wie der psychischen Gesundheit als Einheit zu fassen und die Beschäftigten durch die Eröffnung von Autonomiespielräumen in der Arbeit und von Souveränitätsrechten in der Zeitpolitik zu stärken. Auch der Schutz vor den Giftstoffen einer zunehmend chemisierten Produktion darf nicht fehlen.

Doch den aktuellsten Rat könnte »Marx-Consulting« mit Blick auf die Digitalisierung von Arbeit und Gesellschaft bereithalten. Aus kapitalismustheoretisch informierter Perspektive kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Digitalisierung vor allem Ausdruck eines erneuten Ökonomisierungs- und Rationalisierungsschubs ist. Sollen gegenüber dieser Dynamik die auch vorhandenen Humanisierungspotenziale der aktuellen Entwicklung eine Chance haben, dürften sich organisierte Widerstands- und Einwirkungsmacht und nicht kooperative Gestaltungs- und Technikeuphorie als Schlüsselressource erweisen (Urban 2016).

Empörung begleitet von Transformationen

Die hier vorgeschlagene Lesart der Marx’schen Empfehlungen an die Gewerkschaften ist kein Plädoyer für einen Verzicht auf eine wertebasierte Interessenpolitik. Aber auch die normativ gehaltvolle Idee, auf sich allein gestellt, »blamierte sich immer, soweit sie von dem ›Interesse‹ unterschieden war« (Marx/Engels 1844, 85). Und die Interessen von Kapital und Arbeit materialisieren sich in der kapitalistischen Eigentums- und Aneignungsordnung. Diese Struktur stellt eine Dynamik auf Dauer, die den Reproduktionsinteressen der Arbeit (sowie der Gesellschaft und Natur) entgegensteht und erzielte Erfolge stets zum Gegenstand neuer Kämpfe werden lässt. Sollen die Ideen von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Solidarität und Humanität nicht an dieser Struktur zerschellen, muss sie selbst früher oder später zum Objekt normativ orientierter Transformationen werden. Und in diesem Transformationsprozess sind nicht zuletzt die Gewerkschaften gefordert.

Doch der Hinweis auf die Anregungspotenziale der Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus schließt keineswegs die Behauptung ein, »Marx-Consulting« sei stets bequem oder umsetzungsreif. Die Gewerkschaften, so bilanziert Marx, »tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals«, doch sie »verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern« (Marx 1865, 152). Diese Aufforderung zur »endgültigen Abschaffung des Lohnsystems« (ebd.) scheppert heute gewaltig in den Ohren. Aber mal anders gefragt: Ist es wirklich auf Dauer der bessere Rat, sich auf den alltäglichen Kleinkrieg innerhalb des Systems zu beschränken, ohne die Ambition wachzuhalten, ihn zu beenden?