1 | Das Bemerkenswerte an Podemos sind weniger die Umfrageergebnisse, die volatile Momentaufnahmen sein können, als die von der Organisation in Gang gesetzte gesellschaftliche Mobilisierung. 900
Podemos-Basisgruppen, so genannte Zirkel, haben sich im ganzen Land gebildet. Am Gründungskongress der Partei im Oktober haben fast 10 000 Menschen teilgenommen. Und auf Stadtteilversammlungen diskutieren Hunderte Nachbarn über Krise, Kapitalismus und »echte Demokratie« – wobei mit Nachbarn auch tatsächlich Nachbarn gemeint sind.
Podemos hat das subkulturelle Milieu verlassen.
Erstaunlich ist dabei auch das Niveau der Debatte, die einerseits von einem auf die Wahlen 2015 gerichteten Pragmatismus, andererseits von einer scharfen Kritik des Neoliberalismus und des bürgerlichem Politikbetriebs bestimmt ist.
2 | Podemos ist Ausdruck einer Repräsentationskrise, wie sie seit den 1990er Jahren zahlreiche Länder des neoliberalen Regimes erfasst hat. D.h.
Podemos ist eben nicht das Produkt eines allmählichen Wachstumsprozesses, sondern scheint in einem politischen Vakuum zu entstehen und dehnt sich explosionsartig aus: Keine bestehenden politischen Strukturen (wie Gewerkschaften, größere NGOs oder Medien) haben das Projekt getragen. Die Partei-AktivistInnen – die meisten von ihnen jünger als 35 – sind Angehörige einer als unpolitisch geltenden Generation. Und auch die immense Popularität in der Bevölkerung lässt sich nicht recht erklären. Noch bis 2011 waren linke Positionen in der spanischen Mehrheitsgesellschaft ausgesprochen marginal.
3 | Trotzdem kommt natürlich auch Podemos nicht aus dem Nichts. Ihre Grundlage sind die neuen antiinstitutionellen Protestbewegungen, die ab 2011 Plätze und Straßen auf der iberischen Halbinsel immer wieder gefüllt haben. Dass
Podemos mehr ist als eine flüchtige Protestpartei wie die »Piraten« in Deutschland, hat v.a. mit der
15M-Bewegung und den
Mareas zu tun.
Die
15M-Bewegung (Platzbesetzungen mit der Forderung »Echte Demokratie jetzt!«), die von vielen Linken zunächst misstrauisch beäugt, mindestens aber für naiv und tendenziell antipolitisch befunden wurde, hat eine neue Generation von AktivistInnen bzw. neue Politikformen hervorgebracht und eine rasante Repolitisierung – nach innen und außen – ermöglicht.
Das Entscheidende an der
15M-Bewegung war, dass sie kapitalismuskritische und demokratische Forderungen intuitiv miteinander verband. Ausgehend von der konkreten europäischen Erfahrung, dass sich die Wirtschafts-und Sozialpolitik von Sozialisten und Konservativen nicht mehr unterscheidet, hat die Bewegung systemische Grenzen der Demokratie im bürgerlichen Staat problematisiert: i) Der demokratische Prozess endet dort, wo die Interessen des großen Kapitals, d.h. zuletzt v.a. der Banken beginnen. Vor Ausbruch der Krise lag die Schuldenquote Spaniens mit 40 Prozent unter dem deutschen Niveau. Erst als Madrid von der EU gezwungen wurde, spanische Privatbanken (und damit auch deutsche Anleger) zu retten, explodierte das Staatsdefizit. Die noch von der PSOE durchgesetzten Kürzungen im Gesundheits-und Sozialbereich zeigten, dass das Regierungspersonal im Ernstfall die Funktion hat, tiefer liegende Machtinteressen zu verwalten. ii) Aber auch die politischen Parteien selbst scheinen der Demokratie zunehmend im Weg zu stehen. Mit der ›politischen Klasse‹, die sich durch Berufspolitikertum und geschlossene Entscheidungskreisläufe auszeichnet, ist eine spezifische gesellschaftliche Gruppe mit eigenen Macht- und Bereicherungsstrategien entstanden. In Spanien sind die politischen Apparate stark vom Immobilienboom der vergangen Jahrzehnte geprägt: Die Vergabe von Baugenehmigungen und -aufträgen sowie die staatliche Aufsicht der (im Zusammenhang mit der Bauwirtschaft florierenden) öffentlichen Sparkassen garantierten der ›politischen Klasse‹ lukrative (meist illegale) Einnahmequellen.
4 | Die 15M-Bewegung hat sich, anders als die mediale Berichterstattung nahelegt, nach dem Abebben der Straßenproteste 2011 keineswegs aufgelöst, sondern ist in der Gesellschaft diffundiert. Auf diese Weise entstanden u.a. die so genannten
Mareas, Protestbewegungen zur Verteidigung des öffentlichen Bildungs-und Gesundheitswesens, bei denen sich die ArbeiterInnen des öffentlichen Dienstes mit Elterninitiativen, PatientInnen- und Flüchtlingsgruppen zusammenschlossen, oder die Bewegung gegen Zwangsräumungen
Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH, vgl. dazu
Ruiz in LuXemburg Online),
einem Bündnis von Basisgruppen, das direkte Aktion, Solidarität und fallorientierte Selbsthilfe auf bemerkenswerte Weise miteinander verbindet. Auch eine Wiederbelegung von Arbeiterorganisationen ist zu beobachten: In Andalusien beispielsweise organisierten AktivistInnen der Basisgewerkschaft SAT die gewaltfrei-militante Umverteilung von aus Supermärkten entwendeten Lebensmitteln. Die Mareas im Gesundheits- und Bildungssektor sind getragen von lokalen Gruppen unterschiedlicher kleiner und großer Gewerkschaften. Und schließlich mobilisierten die
Marchas de la Dignidad, landesweite Protestmärsche nach Madrid, im Frühjahr 2014 erneut eine Million Menschen.
Diese Bewegungen machten deutlich, dass es eine gesellschaftliche Mehrheit jenseits der politischen Apparate gibt. Es zeigte sich aber auch – und das löste wiederum in der antiinstitutionellen Linken Denkprozesse aus –, dass das neoliberale Regime Sozialproteste (ähnlich wie Rot-Grün die HartzIV-Proteste Anfang der 2000er Jahre in Deutschland) problemlos aussitzen kann. Da Gewalt für Bewegungen anders als für die Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts heute nicht mehr in Frage zu kommen scheint, fehlt ein zentrales Druckmittel antagonistischer Politik. Ordentlich angemeldete und den kapitalistischen Geschäftsbetrieb nicht weiter behindernde ›Bürgerproteste‹ tangieren das neoliberale Regime nicht. Eine andere Meinung zu haben, ist nicht verboten, weil letztlich folgenlos.
Vor diesem Hintergrund stellte sich für die sozialen Bewegungen in Spanien die Frage, wie sich die Dauermobilisierungen in eine reale Macht von unten, also in
poder popular, verwandeln lassen könnten. Die
Podemos und die
Guanyem-Initiativen zielen – und das unterscheidet die Phänomene von anderen Organisationen der europäischen Linken – dabei nicht einfach auf die Gründung einer neuer Partei ab, sondern auf die Neubestimmung des politischen Raums. Es geht also nicht einfach um neue politische parlamentarische Mehrheiten, sondern v.a. um eine Transformation des institutionellen Rahmens.
Die Gefahr eines Anpassungsprozesses an die Institutionen (also der Weg der deutschen Grünen, die am Ende weniger die Politik transformierten als sich selbst) wird bislang durch die Geschwindigkeit gebannt. Der antiinstitutionelle Widerstand dringt mit einer solchen Vehemenz in die Institutionen ein, dass diese die Dissidenz nicht einhegen und absorbieren können – zumindest ist das die offenkundige Hoffnung des Projekts.
5 | Dabei lässt sich Podemos durchaus vorwerfen, selbst Ergebnis einer ›entfremdeten‹ Politik zu sein. Der Vergleich mit der
Guanyem-Initiative in Barcelona macht deutlich, was damit gemeint ist: Letztere setzt – ganz in der Logik basisdemokratischer Bewegungen – auf lokale Veränderungsprozesse von unten.
Guanyem Barcelona, die höchstwahrscheinlich mit der Ex-Hausbesetzerin Ada Colau zu den Bürgermeisterwahlen in Barcelona antreten wird (vgl.
Interview mit Ada Colau), ist aus der
Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) entstanden. Erklärtes Ziel von
Guanyem ist, über Stadtteilversammlungen eine kommunalpolitische Basisbewegung in Gang zu setzen, die eine Plattform für eine alternative Stadtregierung erarbeitet. Man versucht also ausdrücklich nicht, linke Gruppen durch Verhandlungen zu einer Koalition zusammenzuschweißen, sondern durch das Entstehen einer Basisbewegung die existierende (fragmentierte) Linke zu unterlaufen und sie zugleich einzubinden. Methodisch wird hier bewusst ein Weg eingeschlagen, der alternativ zu den bestehenden Repräsentationsformen verläuft.
Podemos geht hier ganz anders vor und ist – obwohl es damit im offensichtlichen Widerspruch zu den radikaldemokratischen Postulaten des
15M steht – überaus erfolgreich: Die Gründungsgruppe von
Podemos – Pablo Iglesias, Juan Carlos Monedero, Carolina Bescansa, Luis Alegre und Íñigo Errejón – besteht aus Madrider PolitikwissenschaftlerInnen, von denen die meisten längere Zeit in Venezuela bzw. Bolivien gearbeitet haben. Ihre zentrale Figur ist der 36-jährige Pablo Iglesias, der sich über Radio- und Fernsehtalkshows, einen Namen als Kritiker des neoliberalen Regimes gemacht hat.
Das Entstehen von
Podemos entspricht also nicht unbedingt den basisdemokratischen Kriterien der
15M-Bewegung. Die Initiative wird von einer kleinen Gruppe getragen, die sich zwar der demokratischen Auseinandersetzung stellt, aber doch auch einen klaren Führungsanspruch formuliert. Und sie ist zweifelsohne ein Produkt der Massenmedien: Ohne das Fernsehen wäre
Podemos vermutlich nur eine marginale Erscheinung. Der basisdemokratische Beteiligungsprozess, der sich mit
Podemos entfaltet, wurde also eher vertikal in Gang gesetzt.
6 | Die Gründungsgruppe von Podemos verfolgt eine Strategie, die sich offenkundig auf die lateinamerikanischen Erfahrungen stützt. Das zentrale Anliegen ist, die allgemeine gesellschaftliche Unzufriedenheit in eine alternative politische Hegemonie zu verwandeln und damit eine Mobilisierung in Gang zu setzen, die wiederum über eine klassische Reformpolitik hinausreichende Perspektiven eröffnet. In dem Zusammenhang muss man daran erinnern, dass der Politikwechsel in Venezuela, Ecuador und Bolivien weder das simple Resultat von Wahlsiegen noch das Ergebnis von Revolutionen war, sondern aus einer Verbindung von radikalem Bruch, Kontinuität und Transformation hervorging. Die antineoliberalen Revolten und Massenaufstände haben das neoliberale Regime in den betreffenden Ländern fast ein Jahrzehnt lang blockiert, die Regierungswechsel fanden jedoch innerhalb des bestehenden politischen Systems statt. Dass sich danach eine größere Transformationsperspektive eröffnete, war schließlich v.a. den Verfassunggebenden Prozessen zu verdanken, die den tiefer liegenden konstituierenden Prozessen (dem Entstehen einer alternativen popularen Macht) eine Form gab. Diese Verfassungsprozesse waren davon bestimmt, dass hier mit einer breiten gesellschaftlichen Beteiligung über einen neuen
contrat social diskutiert wurde.
Ein ähnliches Projekt scheint auch
Podemos zu verfolgen: Man formuliert, zumindest implizit, das Problem einer – die bestehenden Institutionen sprengenden – demokratischen Revolution.
7 | Um diese Möglichkeit zu eröffnen, setzt der Podemos-Diskurs v.a. auf zwei Elemente:
i)
Relative Unbestimmtheit: Auch wenn die Kritik des Neoliberalismus eindeutig ausfällt, bleiben die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen unbestimmt. Das gesamte Auftreten von
Podemos scheint von einer solchen Ambivalenz geprägt. Obwohl der Gründungszirkel aus der Kommunistischen Jugend kommt, im Umfeld der
Izquierda Unida bzw. der linkeren
Izquierda Anticapitalista aktiv war oder sich positiv auf den Chavismus in Venezuela bezieht, versucht man
Podemos außerhalb des Links-Rechts-Schema zu positionieren. Immer wieder wird betont, dass
Podemos ›das Neue‹ repräsentiere, das sich in Begriffen ›des Alten‹ nicht beschreiben lasse. Dementsprechend werden die gesellschaftlichen Konflikte auch nicht als Klassenfragen verhandelt, sondern als eine Auseinandersetzung zwischen
los de abajo, denen ›von unten‹ (wozu dann auch explizit jene ominösen ›Mittelschichten‹ gehören, die es in Spanien immer weniger gibt), und der ›politische Kaste‹.
Alle Probleme, die die ›Marke Podemos‹, wie es die Partei-Gründer selbst im neoliberalen Marketing-Neusprech formulieren, beschädigen könnte, werden mit einer derartigen Ambiguität verhandelt. So greift Iglesias beispielsweise den auch in Spanien schwer belasteten Patriotismus-Begriff positiv auf, um ihn zu re-signifizieren: »Patriot sein heißt, das demokratische Selbstbestimmungsrecht auf alle Bereiche auszuweiten und die öffentlichen Dienste zu verteidigen.« Gleichzeitig verteidigt er aber auch das Recht von KatalanInnen und BaskInnen über ihre Zugehörigkeit zu Spanien selbst zu entscheiden, auch wenn er eine Entscheidung für die Unabhängigkeit nicht sinnvoll fände.
ii)
Momentum:
Podemos geht davon aus, dass die Schwäche linker Politik nicht mit fehlender Analyse zusammenhängt, sondern mit dem Fehlen eines erfolgversprechenden Gegenprojekts, und setzt daher entschlossen auf eine zielgerichtete politische Mobilisierung. Die gesamte politische Energie wird darauf gebündelt, das Zweiparteiensystem, sprich ›die Kaste‹, bei den Wahlen 2015 zu stürzen. Dieses Vorhaben wird mit einer Überzeugung kommuniziert, die bisweilen bizarr anmutet: Mittlerweile strebt man, »weil es keine Alternative dazu gibt«, sogar die absolute Mehrheit an.
8 | Vor diesem Hintergrund wird klar, warum es Unsinn ist, Podemos die beschriebene Ambiguität vorzuwerfen. Der Podemos-Diskurs wird ganz bewusst offen gehalten. Man knüpft offenkundig auch hier an den Erfahrungen der konstituierenden Prozesse Lateinamerikas an. Die lateinamerikanische Neo-Linke, v.a. der venezolanische Chavismus, entwickelte in den 1990er und 2000er Jahren – ohne dies theoretisch reflektiert zu haben – hegemoniefähige Diskursfiguren, die Laclau später als »leerer Signifikant« bezeichnet hat. Laclau behauptet, dass hegemoniale Politik notwendigerweise eine relative Unschärfe impliziert, weil gesellschaftliche Verhältnisse heterogen sind und Mehrheitsprojekte dementsprechend diese Heterogenität durch Uneindeutigkeit reflektieren müssen. Zudem öffnet die relative Unbestimmtheit eines Projekts den ›Vielen‹ partizipative und demokratische Gestaltungsspielräume. Eine gesellschaftliche Transformation ist schließlich nur dann wirklich offen, wenn das Ergebnis nicht von vornherein vorherbestimmt ist.
Diese Überlegungen scheint sich auch
Podemos zu eigen gemacht zu haben. Das Hauptanliegen des Projekts ist, den von den realen Entscheidungsprozessen exkludierten gesellschaftlichen Mehrheiten einen politischen Raum zu eröffnen. Wie der Chavismus, der zunächst die korrupte »IV. Republik« danach die
escuálidos, also die US-orientierten Eliten attackierte, als Gegner etablierte, hat aber auch
Podemos einen klar umrissenen, rhetorisch handhabbaren Gegner auserkoren, der das heterogene populare Lager durch einen Ausschluss vereint: ›die Kaste‹.
9 | Die Gefahren dieses radikalen politischen Experiments liegen auf der Hand. Dass sich die Unbestimmtheit des Projekts bislang nicht in Grabenkämpfen äußert, liegt auch daran, dass sich alle Anstrengungen auf den Sturz des Zweiparteiensystems konzentrieren. Sobald man dieses Ziel erreicht hat oder auf dem Weg dahin Rückschläge erleidet, kann die Offenheit jederzeit in eine Krise münden. Immerhin ist die Basis von
Podemos noch heterogener als die der deutschen Piraten: Der Europaabgeordnete Pablo Echenique, der beim Gründungskongress von
Podemos eine alternative, kollektivere Organisationsstruktur vorgeschlagen hat, bekannte in einem – in seiner Selbstkritik durchaus sympathischen – Text unlängst, er sei noch vor wenigen Jahren ein Anhänger der neoliberalen Partei
Ciutadans gewesen und habe den Irak-Krieg befürwortet. Andere waren unpolitisch, Netzaktivisten oder in der kommunistischen Jugend aktiv.
Durchaus real ist auch die Gefahr, dass sich die Gründungsgruppe als elitärer Führungszirkel absetzt. Das neue Organisationsstatut, das auf der
Asamblea de Ciudadanos im Oktober diskutiert und danach in einem Basisentscheid beschlossen wurde, schneidet die Parteistruktur stark auf die Führungsfigur Pablo Iglesias zu. Der alternative, von den Europaabgeordneten Pablo Echenique und Teresa Rodríguez eingebrachte Entwurf
Sumando Podemos hatte eine kollektive Dreierführung vorgeschlagen. Dass sich eine überwältigende Mehrheit für das Konzept von Iglesias entschied, ist sehr plausibel: Gerade weil
Podemos so heterogen ist, benötigt die Organisation eine starke symbolische Identität. Zudem hat sich Pablo Iglesias in den letzten Jahren kohärent und ethisch integer verhalten – und bietet sich daher als Integrationsfigur an.
Andererseits wird damit aber auch eine personalistische Führungsstruktur festgeschrieben, die – wie man im letzten Jahrzehnt in Venezuela, Bolivien und Ecuador beobachten konnte – zwar gesellschaftliche Mobilisierungen fördern kann, aber einem längerfristigen Demokratisierungsprozess im Kern denn eben doch widerspricht. Ausgeprägte Führungsfiguren fördern eine Kultur von Opportunismus und Claqueuren.
10 | Die zentrale Frage ist allerdings eine andere. Sie lautet, ob Podemos überhaupt ein Transformationsprojekt besitzt, das über die Ablösung der PP-Regierung hinausreicht. Ich denke: Ja. Denn, was zu tun wäre, liegt nach den Mobilisierungen seit 2011 und den fortgesetzten Konflikten mit den anderen Nationen im spanischen Staat eigentlich auf der Hand:
i) Die notorische Korruption muss bekämpft werden, indem man beispielsweise Mechanismen der gesellschaftlichen Kontrolle von öffentlichen Projekten und Verwaltung etabliert, Gehaltsobergrenzen für Funktionsträger einführt und radikaldemokratische Beteiligungsformen gesetzlich verankert.
ii) Die Privatisierung der öffentlichen Grundversorgung und die Politik der Zwangsräumungen müssen gestoppt werden. Keine ökonomische Logik kann begründen, warum private Spekulationsverluste sozialisiert und von der Bevölkerung getragen werden sollten.
iii) Die Repressionspolitik gegen soziale und Unabhängigkeitsbewegungen muss beendet und die antidemokratische Ausnahmegesetzgebung abgeschafft werden.
iv) Vor allem aber braucht Spanien einen konstituierenden Prozess, ähnlich wie es ihn in Lateinamerika gegeben hat. Die Verfassung von 1978 ist (einschließlich der damals etablierten Monarchie) das Ergebnis eines Elitenpaktes von frankistischen, regionalistischen, sozialdemokratischen und eurokommunistischen Parteiführungen und damit Ausdruck eines grundlegenden demokratischen Defizits. Dieser Verfassungspakt ermöglichte zwar eine Öffnung Spaniens nach 40 Jahren Diktatur, aber verhinderte einen echten Bruch mit der Macht frankistischer Eliten in Staat und Wirtschaft. Ein konstituierender Prozess – d.h. nicht einfach nur eine Versammlung von Verfassungsjuristen und Politikern , sondern eine grundlegende gesellschaftliche Debatte als Herausbildungsform einer neuen popularen Hegemonie – könnte den unabgeschlossenen Demokratisierungsprozess endlich zu Ende bringen. Dem sowohl von sozialen als auch von Unabhängigkeitsbewegungen verteidigten
derecho a decidir (Recht zu entscheiden) könnte als Instrument zur Re-Demokratisierung
aller gesellschaftlichen Bereiche dabei eine Schlüsselrolle zukommen.
11 | Schließlich stellt sich die Frage, warum die Vereinigte Linke (IU) diese Veränderungswünsche nicht artikulieren konnte, obwohl man doch viele Forderungen von Podemos teilt, manche sogar klarer ausformuliert hat (vgl.
Interview mit Alberto Garzon in LuXemburg Online). Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: Die IU konnte das Aufbegehren gegen das politische System nicht artikulieren, weil sie selbst tragender Bestandteil dieses Systems war – und zwar in mehrerer Hinsicht: Die KP – als wichtigste Partei der IU –trug den Verfassungspakt 1978 aktiv mit und beteiligte sich, vermittelt über die Gewerkschaft
Comisiones Obreras, auch an der von der PSOE etablierten Sozialpartnerschaft mit all ihren korporatistischen Praktiken. Die
Izquierda Unida, als breiteres Wahlbündnis, hat immer wieder Koalitionsregierungen mit der PSOE gebildet und dabei auch die üblichen Korruptionspraktiken reproduziert. Man war – wie im Fall der Sparkasse
Caja Madrid – beispielsweise an der Ausplünderung öffentlicher Finanzeinrichtungen beteiligt.
Doch auch unabhängig von einzelnen Korruptionsfällen stehen die Organisationsstrukturen der IU objektiv im Widerspruch zu den radikaldemokratischen Bestrebungen aus der Gesellschaft. Die politische Praxis von KP und IU war immer von jener klassischen Repräsentationslogik geprägt, bei der die Stärkung der eigenen Organisation und ihre Wahlerfolge Priorität gegenüber dem sozialen (Selbstermächtigungs-) Prozess erlangt. Das Mittel der Veränderung – die politische Organisation – ist Selbstzweck geworden,
Izquierda Unida wie fast alle Parteien der Europäischen Linken ein autoreferenzieller Wahlverein. Auch wenn Tausende von Mitgliedern der Partei in Bewegungen aktiv sind, dominiert die institutionelle Logik. Radikale Reorganisierungsversuche kommen zu spät.
Bei
Podemos ist das – bisher – anders: Die Organisation ist im Augenblick das Instrument eines gesellschaftlichen Prozesses, der zu rasant verläuft, als dass die Partei das Verhältnis zwischen demokratischer Revolte und institutioneller Form umdrehen könnte.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass alles was von und in
Izquierda Unida in den letzten 30 Jahren gemacht wurde, falsch war. Mit vielen Problemen, die IU heute prägen, wird
Podemos wahrscheinlich schon bald konfrontiert sein. Beispielsweise mit der Frage, wie sich eine Balance der entstehenden politischen Strömungen finden lässt, ohne dass die organisationsinternen Erwägungen politikbestimmend werden. Aber möglicherweise ist das auch die zentrale Erkenntnis des politischen Prozesses in Spanien heute: Die Intervention der organisierten Linken war zwar keineswegs bedeutungslos – ohne die Erfahrungen der AktivistInnen wäre die
15M-Bewegung schneller zerfallen, die PAH nie entstanden, und
Podemos vielleicht eine netzpolitisch-liberal-diffuse Partei wie die deutschen Piraten. Doch ein gesellschaftlicher Prozess fegt eben auch die Organisationsformen der Linken beiseite. Im bürokratischen Korsett der IU konnte sich der revolutionär-demokratische Aufbruch, der von einem Teil der spanischen Gesellschaft ersehnt wird, nicht artikulieren. Wie lange
Podemos der geeignete Raum dafür ist, wird sich zeigen müssen. Doch fest steht auch:
Podemos ist heute einer dieser Orte der demokratischen Revolution in Spanien und vermutlich auch der wichtigste.
Zum Weiterlesen:
»Dass wir die absolute Mehrheit anstreben, ist Ausdruck einer Notwendigkeit.« , Interview mit Pablo Iglesias über den Erfolg von Podemos
Mario Candeias u. Eva Völpel, Plätze sichern! Re-Organisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland, VSA, Hamburg 2014; entgeltfreier Download:
www.rosalux.de/publication/40321/plaetze-sichern.html