Im Frühling 1886 wurde Clara krank. Mehrere Wochen schleppte sie sich zu ihren Unterrichtsstunden, zu den Versammlungen und zum Einkaufen, obwohl sie sich so schwach fühlte, dass sie sich an jeder Straßenecke am liebsten einfach auf den Boden gelegt hätte. Sie hustete. Nachts wachte sie oft schweißgebadet von ihrem eigenen Husten auf. Ossip überredete sie, im Bett zu bleiben, und holte eine befreundete russische Ärztin. Es war eine beginnende Tuberkulose. Die Ärztin musterte die feuchten, schimmligen Wände des Schlafzimmers und riet zu einem Aufenthalt in besseren Luftverhältnissen.

Seit Clara sich für die Sozialdemokratie entschieden hatte, hatte sie so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Umso erstaunter war sie, als plötzlich ein Brief von ihrem Bruder Arthur ankam. Er sagte, er habe von Bekannten aus Leipzig erfahren, dass sie krank sei, und schickte ihr Geld von der Familie, damit sie nach Hause komme und sich erhole. Sie setzte sich mit dem zweijährigen Kostja und dem vierjährigen Maxim in den Zug und fuhr nach Leipzig.

Mosermann war nicht zu Hause und auch nicht in seiner Werkstatt. Es war schon nach 18 Uhr, er hatte sicher schon Feierabend gemacht. Clara fand ihn in seinem Schrebergarten.

»Clara!«, rief er, warf die drahtigen, steifen Arme auseinander und drückte sie, sodass sie Angst um ihre Rippen hatte. »Pssst!«

Über seine staubige Schulter hinweg sah Clara noch zwei andere Männer auf der Bank vor der kleinen Hütte sitzen, jeder mit einem Bier in der Hand. Deutschland stand noch immer unter dem Sozialistengesetz, und je weniger Leute wussten, dass sie hier war, desto besser.

»Ich bin Leslie, ja?«, flüsterte sie. Mosermann ließ seine Hand auf ihrer Schulter liegen, während er sie ein Stück von sich schob, um sie besser betrachten zu können – so als wollte er sichergehen, dass ihr in Paris auch keines ihrer Gliedmaßen abhandengekommen sei. Der linke Fuß war zum Glück gut verheilt. »Leslie. Natürlich.« Immer noch mit seiner Hand auf ihrer Schulter ging er auf seine Freunde auf der Bank zu. »Das ist Genossin Leslie, ich kenne sie noch von früher, sie lebt jetzt in Paris!«

»Oho. Hört, hört!«

»Sind Sie dort auch schon Kämpfern aus der Pariser Kommune begegnet?« Clara begann zu erzählen. Von der französischen Arbeiter*innenbewegung, von dem Konflikt zwischen Marxist*innen und Possibilist*innen, von Jules Guesde und Laura und Paul Lafargue, von der Kommunardin Louise Michel, von der russischen und deutschen Arbeiter*innenbewegung im Exil, von den Kämpfen an der Kommune-Mauer auf dem Friedhof Père-Lachaise, von dem geplanten Tunnel unter dem Ärmelkanal. In Deutschland hatten die Sozialdemokrat*innen wenig Zugang zu all diesen Informationen, ihre Presse wurde noch immer zensiert. Die drei Handwerker sogen jedes von Claras Worten auf und stellten schneller neue Fragen, als sie mit den Antworten hinterherkam.

Am nächsten Tag klopfte es bei den Eißners an der Tür. Claras Mutter öffnete. Draußen standen drei fremde Männer. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Clara hörte den erschrockenen Tonfall ihrer Mutter und kam schnell an die Tür. Über ihre Schulter hinweg erkannte sie einen von Mosermanns Freunden, der am Tag zuvor mit auf der Bank im Schrebergarten gesessen hatte.

»Clara, kennst du diese Männer?« Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. »Sie wollen eine junge Frau namens Leslie sprechen. Ich kenne keine Leslie.« Clara musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Der Tonfall ihrer Mutter war derselbe wie früher, wenn sie mit ihr geschimpft hatte, weil sie sich »in schlechter Gesellschaft herumtrieb«, und das, obwohl sie seit Jahren in dieser angeblich schlechten Gesellschaft lebte, arbeitete und mit einem der Schlechtesten unter ihnen zwei Kinder hatte.

»Ich rede mit ihnen«, sagte Clara und schob ihre Mutter sachte zur Seite.

Die Männer wollten sie auf eine illegale Versammlung einladen – als Rednerin. Clara ging es langsam besser, seit sie in Leipzig war, doch in dieser Nacht wachte sie mehrmals schweißgebadet auf. Konnte sie es verantworten, eine Rede über die französische Arbeiter*innenbewegung zu halten? Es gab so viel, was sie selbst nicht verstand! Was, wenn sie etwas Falsches erzählte? Andererseits: Die Sozialdemokrat*innen hierzulande kamen kaum an Informationen, und die internationale Vernetzung war so wichtig … Konnte sie es denn verantworten, zurück nach Paris zu kommen und zu sagen, sie habe ihre Verbindungen zur deutschen Sozialdemokratie nicht wiederaufgenommen, habe keine Informationen ausgetauscht? Drei Tage später erklärte Clara ihrer Mutter, sie wolle eine Freundin auf dem Lande besuchen.

In der Zeit der Sozialistengesetze hatte Clara das Lügen lernen müssen. Solange es zum Schutz der Bewegung war, gingen ihr die Worte erstaunlich leicht über die Lippen. Ob ihre Mutter es glaubte oder nicht – Hauptsache, sie hatte etwas, das sie sagen konnte, wenn jemand nach Clara fragte. Die Kinder zu Hause bei ihrer Mutter zu lassen, wäre auffällig gewesen, also nahm sie sie mit. An der Ecke wartete Karl Pinkau, so hieß der Genosse, den Clara in Mosermanns Schrebergarten kennengelernt hatte.

Bis zum Versammlungsort war es weit. Die Genossen hatten für die »Geburtstagsfeier« eine kleine Waldschenke außerhalb der Stadt ausgewählt, in der normalerweise Spaziergänger*innen sonntags zu Mittag aßen. Für Clara war es, als würden sie auf einen Abgrund zuwandern, den sie hinunterzuspringen hatte. Seit drei Tagen dachte sie an nichts anderes als den Vortrag. Sie hatte kaum geschlafen, die Nächte damit verbracht, sich detaillierte Notizen zu machen und sie dann wieder zu verwerfen.

Die Kinder konnten kaum noch die Augen offen halten, als sie ankamen, und Clara war speiübel. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, schob in einem Nebenraum zwei Sitzbänke zusammen und wickelte Maxim und Kostja in alle Jacken und Schals, die sie auftreiben konnte. Dann wurde es leise im Speisesaal der Waldschenke. Etwa zwanzig Genossen, alles Männer, saßen auf Holzbänken und blickten Clara gespannt an. Sie saß vorne an einem Tisch und rückte ihre vielen Notizblätter vor ihr zurecht, um Zeit zu gewinnen. Ihre Finger zitterten dabei leicht und deshalb zitterten auch die Notizblätter, sicher konnten es die Leute in der ersten Reihe sehen. Ihr Herz klopfte so laut, dass es ihr in den Ohren dröhnte. Trotzdem drang ein »Bravo, Frau Leslie!« aus den hinteren Reihen zu ihr durch.

Clara wusste, dass sie jetzt anfangen musste. Zum Sprechen ist nur leider Atem unverzichtbar, und der bebte in so kurzen, flachen Zügen in ihrer Lunge, dass sie sicher war, sie würde keinen Ton herausbringen. Sie brachte einen heraus – wenn auch einen hässlichen. Ihre Begrüßung klang krächzend, wie eine verstimmte Geige in der ersten Unterrichtsstunde. Der Husten stieg wieder aus ihrer Lunge hoch. Jemand rief »Lauter!«, Clara versuchte, etwas lauter zu sprechen, und kam sich dabei vor, als würde sie schreien. Sie sprach über die Frauenfrage, über ihre Versuche, die Arbeiter*innen in den Fabriken zu organisieren, und darüber, warum die Revolution nicht auf die Frauen verzichten konnte. Nicht alle ihrer Zuhörer hatten »Die Frau und der Sozialismus« von Bebel gelesen, aber alle sprachen davon und hörten nun Clara umso gespannter zu. Spätestens als sie bei Laura Lafargue und den anderen Kommune-Kämpfer*innen angekommen war, die sie persönlich kannte, flossen die Worte von alleine. Die Übelkeit war verflogen.

Dann stellte sie auf einmal fest, dass sie keine Ahnung hatte, wie viel Zeit vergangen war, dass sie wahrscheinlich schon viel zu viel geredet hatte. Ihr Publikum langweilte sich bestimmt, und plötzlich strömte nichts mehr aus ihrem Mund, als hätte jemand den Hahn abgedreht. Sie starrte hilfesuchend ihre Notizen an, doch die bestanden nur noch aus zusammenhanglosen Buchstaben, die zurückstarrten und ihr nicht einmal verraten wollten, auf welcher Seite, bei welchem Thema sie gerade gewesen war. Die Stille drückte laut auf Claras Ohren, jede Sekunde, die verging, füllte den Raum wie giftiges Gas, bald würde es keine Luft zum Atmen mehr geben, der Raum würde explodieren und Clara mit ihm, aber das war in jedem Fall besser, als hier zu sitzen vor all diesen erwartungsvollen Augenpaaren. Dann fing jemand an zu klatschen.

Wieder hörte sie: »Bravo, Leslie!« und »Es lebe die Kommune!« Die Kommune … Der rote Faden fiel zurück in Claras zitternde Hände, sie hielt sich daran fest und war gerettet.

Nachdem sie geendet hatte, regnete es Applaus, Fragen, Einladungen zu anderen Versammlungen. Die Wärme kehrte in Claras Körper zurück und sie fühlte sich, als würde sie schweben oder als hätte sie zwei Gläser Champagner getrunken. (Nicht, dass sie schon einmal echten Champagner gekostet hätte, aber so stellte sie es sich vor.) Sie schwebte noch immer, als sie und Karl Pinkau über die dunklen Felder nach Hause wanderten, jeder ein schlafendes Kind auf dem Arm, und dabei für mögliche Spitzel aussehen mussten wie eine harmlose Bauernfamilie.

An einem Vormittag im April 1887 klingelte es an der Tür der Rue Flatters Nr. 10. Clara war gerade dabei, die Kinder zu baden. Ossip öffnete die Tür und Clara hörte aus dem Flur die Worte: »Polizei. Die Wohnung ist gepfändet.« Vor drei Tagen wäre die Miete für April fällig gewesen und sie hatten für März und Februar noch nicht bezahlt. Clara spülte Maxim den letzten Schaum aus den Haaren und zog die beiden so schnell an, wie es möglich war, ohne hektisch zu werden. Sie wollte die Kinder nicht unnötig verängstigen. Das war nicht einfach, während um sie herum die Polizisten das Besteck an sich nahmen, den Füllfederhalter, die Öllampe und das Geld in der Küchenschublade, das Clara gestern beim Deutschunterricht verdient hatte.

Sie hatte gerade erst Kostja die kleinen Schuhe angezogen, als sie sah, wie ein Polizist mit einer behandschuhten Hand durch ihre Papiere auf dem Schreibtisch raschelte und sie dann alle einsteckte. »Halt! Sie können doch nicht …!« Er konnte. Die Notizen für die Porträts der Führungspersönlichkeiten der französischen Arbeiter*innenbewegung, der angefangene Text über die Agrarfrage, die Briefe von Karl Kautsky und Wilhelm Liebknecht – alles verschwand in einer großen, schwarzen Ledertasche. Sie hatten umgehend die Wohnung zu verlassen.

Eine halbe Stunde nach dem Klopfen an der Tür standen Clara und Ossip an der kühlen Frühlingsluft auf der Straße, mit zwei kleinen Kindern auf dem Arm und ihrer Bettdecke über den Schultern. Sie gingen einfach los und hielten sich gegenseitig an der Hand, um sich Mut zu machen. Sie fragten bei einigen Herbergen und Hotels in der Nähe nach einem Zimmer, aber offensichtlich gab es keine Zimmer für eine obdachlose Immigrantenfamilie ohne Bargeld. Es wurde dunkel und sie hatten noch immer keine Bleibe gefunden. Gegen neun Uhr abends begegneten sie einer russischen Bekannten aus dem Viertel, die oft zu Claras Salons gekommen war. Sie war gerade auf dem Nachhauseweg von ihrer Schicht. Sie nahm die vier mit, schickte ihren jüngeren Sohn zum Krämer, um noch etwas mehr Brot zu kaufen, und ordnete dem Ältesten an, die kleine Kammer herzurichten, in der er selbst normalerweise schlief. Er würde in den nächsten Tagen auf der Küchenbank schlafen und die Familie Zetkin in dem schmalen Bett in der Kammer, neben Putzutensilien, Wintermänteln und Sonntagsanzügen. In dieser Nacht wand sich Ossip noch lange und ächzte leise, sein Gesicht war verzerrt. Vielleicht ein Albtraum, dachte Clara. Der Himmel vor dem kleinen Fenster ging schon von schwarz zu grau über, als sie einschlief.

Nach mehreren Wochen bei verschiedenen Freund*innen und Bekannten in der russischen Kolonie fanden die Zetkins eine Wohnung in der Rue de la Glacière im 13. Arrondissement. Sie war kleiner, die Fenster noch undichter und die Wände noch schimmliger als in der Rue Flatters, doch sie war nicht weit von ihrer früheren Nachbarschaft entfernt und der Vermieter war ein Bekannter des Cousins eines Freundes aus der russischen Kolonie.

Immer öfter hatte Ossip Schmerzen, in den Beinen, der Hüfte, dem unteren Rücken. Vielleicht war es von der Anstrengung, ihre wenigen Habseligkeiten alle paar Tage von einer Wohnung zur nächsten zu tragen. Wenn sie sich erst einmal eingerichtet hatten, würde er sich sicher bald erholen, beruhigte ihn Clara. Sie hatten gerade einige der Mauselöcher im Fußboden gestopft, den Herd repariert und ein Sofa vom Sperrmüll in die Wohnung getragen, als Ossip eines Morgens nicht mehr aufstehen konnte. Seine Beine taten nicht, was er von ihnen verlangte. Erst sprachen die Ärzte von Rheuma, doch bald war klar, dass es das nicht sein konnte. Vermutlich war es eine Erkrankung des Rückenmarks.

Ossips gesamte untere Körperhälfte war bereits gelähmt. Clara ließ einen Arzt nach dem anderen kommen und musste bald feststellen, dass auch sie nicht weiterwussten. Sie kaufte all die teuren Medikamente, die sie Ossip verschrieben, doch sie linderten seine Schmerzen kaum. Clara übernahm Ossips Aufträge, seine Pflichten im sozialdemokratischen Verein, sie pflegte ihn, so gut sie konnte, kümmerte sich um die Kinder und versuchte gleichzeitig, noch mehr zu arbeiten, um die Familie ernähren zu können und genug Geld für all die Arztbesuche und Medikamente zu verdienen. Es ging nicht lange gut. Clara blieb nichts anderes übrig, als ihre Freunde um Unterstützung zu bitten.