Die US-amerikanische Gewerkschaftsbewegung ist seit Mitte der 1970er Jahr in einem desolaten Zustand. Zwar gab es vereinzelt kreativen und inspirierenden Widerstand, aber die vorherrschende Geschichte ist eine Chronik des Niedergangs: Der Organisationsgrad im Privatsektor ist niedriger als vor einem Jahrhundert, in den wichtigsten neuen Wirtschaftszweigen ist absolut kein Vorstoß zu verzeichnen, die Verteidigung des Status quo gilt als Verhandlungserfolg und abgesehen von Wahlkampfreden stehen die Interessen der Arbeiter*innenklasse im politischen Abseits.

Die wichtigste ökonomische und politische Herausforderung der US-amerikanischen Linken ist heute die Wiederbelebung der Arbeiter*innenklasse als gesellschaftliche Kraft. Es bleibt abzuwarten, ob nach der Pandemie ein Umdenken einsetzt und Gewerkschaften neuen Kampfgeist entwickeln und ob die jüngste Delegitimierung staatlicher und politischer Institutionen zu einer nachhaltigen Stärkung progressiver Klassenpolitik führt. Es kommt »darauf an«. Und worauf es genau ankommt, wird damit zu tun haben, inwieweit das Organizing am Arbeitsplatz gelingt.

Deshalb ist der Bericht Turning the Tables: Participation and Power in Negotiations (Den Spieß umdrehen: Teilhabe und Macht in Tarifverhandlungen) von Jane McAlevey und Abby Lawlor eine der so rar gesäten guten Nachrichten. Der vom UC Berkeley Labor Center publizierte Report baut auf McAleveys früheren Arbeiten auf und ergänzt sie um neue Fallstudien zum genauen Ablauf von Tarifverhandlungen (die vielen Arbeiter*innen und Arbeitsforscher*innen fremd sind) sowie um Interviews mit Beteiligten. Der Fokus liegt darauf, wie die Erwartungen der Arbeiter*innen geweckt und tatsächlich Siege erzielt werden können.

Turning the Tables ist ein umfassendes Handbuch für das Organizing am Arbeitsplatz, das als »Bericht« über aktuelle Verhandlungserfahrungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Gastgewerbe und Journalismus verfasst wurde. In bewundernswert klarer Sprache illustriert und belegt McAlevey ihre Organizingmethode anhand von informativen Fallstudien. Die Interviews verdeutlichen, wie zunächst durch Streiks und dann dem Verhandlungsprozess einer Tarifvereinbarung die strategischen Fähigkeiten und das Selbstvertrauen der Arbeiter*innen erheblich gestärkt werden.

Vor allem zeigen die Fallstudien den Unterschied zwischen einem Gewerkschaftshandeln nach Schema F und tatsächlichem Organizing auf. Zu viele Gewerkschaften bereiten sich mit allgemein gehaltenen Umfragen nach den Wünschen der Arbeiter*innen auf Verhandlungen vor und wecken damit kaum Interesse. In den vorliegenden Fallstudien werden Umfragen hingegen immer wieder als ein Instrument für grundsätzliche kollektive Diskussionen eingesetzt. Gewerkschaften setzen in ihren Kommunikationsstrategien heute verstärkt auf Social Media. Hier konzentriert man sich auf den aufwendigen persönlichen Kontakt. Eine psychiatrische Krankenpflegerin merkt aber zurecht an: »Facebook ist hilfreich. E-Mails sind hilfreich, SMS sind hilfreich. Aber nichts ist so wirksam wie das persönliche Gespräch.«

Eine Tarifverhandlung für die Mitglieder zu öffnen, bedeutet mehr als nur »Inklusion«, so wichtig sie auch ist. Die Verhandlungserfahrung schärft die Trennlinie zum Management, schafft Vertrauen in die Gewerkschaft und erzeugt Gemeinschaftssinn unter den Beschäftigten. Eine Lehrerin sagt, dass in öffentlichen Verhandlungen »alle hören können, was in den Arbeitswelten der anderen geschieht«. Ein anderer ergänzt, dass die größere Zahl der an Verhandlungen beteiligten Mitglieder »uns als Gemeinschaft zusammenschweißt«. In der ländlichen Kleinstadt Greenfield konnten an den Verhandlungen der Massachusetts Nurses Association (Vereinigung der Krankenpfleger*innen in Massachusetts) sogar Anwohner*innen teilnehmen.

McAlevey hat zwar in den USA und international eine beachtliche Anhängerschaft inspiriert, aber es gibt auch Kritik, etwa an ihren Äußerungen, dass die Organizingbestrebungen im Amazon-Lager in Bessemer, Alabama, nicht der Best Practice entsprächen.

Obwohl ihre Haltung zu den Ereignissen teils als berechtigt galt, wirkte ihre Wortmeldung nach der schmerzhaften Niederlage als Verrat an der Solidarität und als Beitrag zu einer Demoralisierung der Arbeiter*innen. Andere hinterfragten sogar den Begriff von Best Practice selbst. Organizing und Verhandlungsstrategien seien kontextabhängig und müssten je nach dem Hauptanliegen der Beschäftigten, dem betroffenen Sektor, der Art des Betriebes, dem Machtgefälle zwischen Arbeiter*innen und Arbeitgeber*innen etc. angepasst werden.

Indem sie McAlevey für ihre kritischen Äußerungen verurteilt, tut sich die Gewerkschaftsbewegung aber keinen Gefallen. Vielmehr erinnert diese Haltung erschreckend an jene Aufrufe zu »Einheit« und »Solidarität«, mit denen Gewerkschaftsführer*innen ihre Opposition zum Schweigen bringen wollen, statt die notwendigen Risiken einzugehen, um einen Erfolg zu ermöglichen. Wenn Kontroversen nur noch im Privaten geführt werden und nicht in der Öffentlichkeit, bevormundet das die Arbeiter*innen und wirkt kontraproduktiv. Die Niederlage in Bessemer war der richtige Zeitpunkt, um schmerzhafte Fragen zu stellen, denn die Bewegung war genau in dem Moment für Verbesserungsvorschläge empfänglich.

McAleveys Ansatz mag zu kurz greifen. Doch schon den Versuch abzutun, eine Best Practice zum Aufbau von gewerkschaftlicher Macht zu entwickeln, ist keine konstruktive Kritik. McAlevey, deren Wirken in Turning the Tables einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, argumentiert überzeugend, dass strategische Kernprinzipien – als Methode – unabdingbar sind.

Sie stützt sich auf die selbstbestimmten Bedürfnisse der Arbeiter*innen: »Klasse« wird am Arbeitsplatz und auch darüber hinaus erlebt; informelle Führungsfiguren sind Multiplikatoren für die Aktivierung der breiten Mitgliedschaft/Belegschaft; Strukturtests helfen Beschäftigten, ihre Stärke kollektiv zu ermessen; der Grad der Macht der Beschäftigten bei Tarifverhandlungen soll durch ihre direkte Beteiligung erhöht werden (»Big Bargaining«).

Eine stichhaltigere Kritik steht hingegen schon länger im Raum: McAleveys Ansatz sei »funktionärsgesteuert«, werde also nicht von den Arbeiter*innen selbst, sondern von Außenstehenden kontrolliert. Die Vorstellung, dass Arbeiter*innen von sich aus radikal seien, sich aber aufgrund von Funktionär*innen und bürokratischen Persönlichkeiten nicht gänzlich entfalten könnten, ist jedoch äußerst naiv. Sollten wir wirklich glauben, dass Arbeiter*innen eines Tages den Kapitalismus bekämpfen und die Welt verändern werden, gegen ihre gewählten Gewerkschaftsvertreter*innen aber nicht durchkommen? Es sollte allen klar sein, die schon einmal mit arbeitenden Menschen zu tun hatten, dass sie nicht »von Natur aus« eine bestimmte Einstellung haben – Arbeiter*innen können radikal oder konservativ sein. Der Kapitalismus hat aufgrund der ihm inhärenten Strukturen eine Arbeiter*innenklasse geschaffen, die tagtäglich die Abhängigkeit von Arbeitgeber*innen zu spüren bekommt, die aus Notwendigkeit und Pragmatismus kurze Befristungen hinnimmt, vieldimensional gespalten und oft zu erschöpft ist, um sich aktiv zu engagieren.

Die Herausforderung – die Hauptaufgabe für ein erfolgreiches Organizing – besteht darin, bei den Widersprüchen des Kapitalismus anzusetzen, um die Arbeiter*innenklasse zu erneuern. Und das bedeutet, aus den individuellen und kollektiven Potenzialen der Arbeiter*innen eine einheitliche, selbstbewusste und kreative reale soziale Kraft zu machen, die einen Kampf gegen ihre Arbeitgeber*innen und schließlich auch gegen den Kapitalismus selbst führen kann. Ein solches Organizing braucht »Führung«; die Frage ist, wie diese Führung aussieht und welche Beziehungen sie zu den betroffenen Arbeiter*innen unterhält. Trägt die Gesamtstrategie am Arbeitsplatz zur Herausbildung individueller und kollektiver Stärken der Beschäftigten bei, sodass diese auch nach dem Weggang der Organizer*innen bestehen bleiben? 

McAlevey hat das ausschlaggebende Prinzip ihrer Methode während ihrer Tätigkeit bei New England Local 1199 kennengelernt und angepasst, wo wiederum ein Organizingmodell des US-amerikanischen Gewerkschaftsbunds CIO (Congress of Industrial Organizations) aus den 1930er Jahren adaptiert wurde. Ihr Ansatz steht und fällt mit dem basisdemokratischen Prinzip der erweiterten und vertieften Einbeziehung der Beteiligten. Es ist davon auszugehen, dass Beschäftigte sich unterschiedlich stark für ihre Rechte einsetzen. Deshalb sind informelle Führungsfiguren am Arbeitsplatz so wichtig, mehr noch als etwa selbst ernannte oder auch gewählte Vertreter*innen. Ob sie anfangs schon gewerkschaftsfreundlich eingestellt sind oder nicht, spielt keine Rolle – sie sind entscheidend, weil sie sich durch das Vertrauen ihrer Kolleg*innen auszeichnen. Organizer*innen sollen hauptsächlich solche informellen Führungsfiguren aufspüren und gewinnen. Denn diese erreichen und aktivieren den Rest der Belegschaft – nicht die außenstehenden Organizer*innen. Am Ende soll eine große Mehrheit der Beschäftigten selbst zu Organizer*innen werden.

Funktionärsgetriebene Gewerkschaften – die eher bürokratisch und von oben gesteuert sind – machen einen großen Bogen um McAlevey. Sie verstehen sehr wohl die Bedrohung dieses Ansatzes: Er macht ihnen das Leben schwerer, weckt Erwartungen, bindet Beschäftigte stärker in die Verhandlungen ein, bildet selbstbewusste und aktive Mitglieder aus und wirbt neue Führungsköpfe an, die den aktuellen Funktionär*innen Konkurrenz machen.

McAleveys Methode mag gewissen »revolutionären« Ansprüchen nicht genügen, doch die in Turning Points beschriebenen nachweislichen Erfolge, die von Beschäftigten praktisch erzielt wurden, zeigen, dass Arbeiter*innen auch im Kapitalismus wertvolle (Teil-)Siege erstreiten können. Der Ansatz hat in der Tat Grenzen. Er lässt sich zum Beispiel nicht bei feindlich gesinnten Gewerkschaftsführer*innen anwenden – jedenfalls nicht ohne große Abwandlungen. Strategien, um solche Persönlichkeiten innerhalb der Arbeiter*innenbewegung zu ersetzen, decken sich nicht ganz mit denen zur Bekämpfung der Bosse. Weitere Anpassungen braucht es, wenn Gewerkschaften untereinander konkurrieren.

Die Realitäten der kapitalistischen Ökonomie bedeuten nicht nur für McAlevey eine Herausforderung, sondern für alle Gewerkschaftsaktivist*innen und für die Linke insgesamt. Organizing auf Gewerkschaftsebene kann nicht direkt auf politisches Organizing mit dem Ziel einer egalitäreren, demokratischeren und umweltfreundlicheren Gesellschaft übertragen werden. Politisches Organizing ist nochmal etwas Anderes. Doch selbst in diesem Bereich können McAleveys Instrumente dazu beitragen, dass die Arbeiter*innenklasse Visionen, Kompetenzen und ein Selbstbewusstsein entwickelt, um weiter voranzukommen.

Entscheidend dafür sind zwei Elemente ihrer Methode. Das erste mag offensichtlich sein: Organizing am Arbeitsplatz. Es kann nicht stark genug betont werden, wie sehr sich die Gewerkschaftsarbeit in den vergangenen Jahrzehnten vom Arbeitsplatz zurückgezogen hat, wie sehr Gewerkschaften Rechte und Macht am Arbeitsplatz gegen zentralisierte und rein fachliche Tarifverhandlungen ausgetauscht haben. In dieser Hinsicht war die Bürokratisierung tatsächlich ein Hindernis für die Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung. Ebenso problematisch sind Rufe nach einem »Social Unionism« – die Anwerbung neuer Mitglieder aus sozialen Bewegungen für die Gewerkschaft, ohne zu erkennen, dass vor allem die bestehende Basis im Betrieb gebildet, entwickelt und aufrechterhalten werden sollte. Ohne diese Basis werden progressive Absichten intern untergraben.

Ihr zweiter wichtiger Beitrag ist die Forderung nach gesamtbetrieblichen, branchenübergreifenden Tarifverhandlungen, die alle Beschäftigten eines Standorts unabhängig von ihrem Status zusammenbringen. Neben der Öffnung für regionales und sektorenweites Organizing und Verhandeln wird dadurch die praktische Bedeutung eines Klassenbewusstseins gefördert, das auch für die große Politik grundlegend ist. Eine Klassenperspektive soll auch dadurch geschaffen werden, dass aufgezeigt wird, wogegen man agiert und wer potenziell auf der eigenen Seite steht. Die »künstliche Trennung zwischen ›Arbeiter*innen‹ und ›Bevölkerung‹« wird aufgehoben, wenn sie gemeinsam Teil einer Tarifauseinandersetzung sind.

Arbeiter*innen mögen zwar die Demütigungen als Klasse teilen, in ihren Einzelgewerkschaften und Einzelkämpfen bilden sie jedoch keine Klasse in einem sinnvoll ideologischen oder pragmatischen Sinn. Die Formierung als Klasse kann weder vorausgesetzt oder erhofft werden, noch lässt sie sich dadurch heraufbeschwören, dass man gescheiterte Kampagnen abfeiert. Das kann nur durch Kämpfe, Experimente, das Lernen aus Erfahrungen und die Bildung von Institutionen, die diesen Prozess begleiten, gelingen. McAleveys großer Beitrag besteht in ihrer Entschlossenheit, mit offenen Augen in diesen Prozess einzutauchen, in ihrem Vertrauen auf die individuellen und kollektiven Potenziale der arbeitenden Menschen und in dem unermüdlichen Bemühen, Erfahrungen und Lehren systematisch zu bündeln.


Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in © The Nation. Aus dem Englischen von André Hansen und Camilla Elle. 
Im Rahmen ihres globalen »Organizing for Power« (O4P)-Programms plant die RLS 2022 einen internationalen Lesekreis zu » Turning the Tables: Participation and Power in Negotiations« und wird dafür Auszüge aus dem Text ins Deutsche übersetzen.