Der jüngste Bericht des Weltklimarates IPCC lässt keine Zweifel. Etwa die Hälfte der Menschheit leidet bereits unter den Folgen des anthropogenen Klimawandels (IPCC 2022). UN-Generalsekretär Guterres erkennt darin kriminelles Versagen beim Klimaschutz. Obwohl sich das Zeitfenster für wirksame Gegenmaßnahmen schließt, steht bereits fest, dass die Hürden für eine Nachhaltigkeitsrevolution künftig noch höher werden. Hauptgrund ist der Krieg. Am 24. Februar 2022 hat die Russische Föderation mit einem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine begonnen. Städte unter Raketenbeschuss, Millionen Geflüchtete, Gefechte an Atomkraftwerken, Zerstörung überlebenswichtiger Infrastruktur sowie tausende Tote und Verletzte auch unter Zivilisten – das ist die Schreckensbilanz der ersten Kriegswochen. 

Seit dem Überfall steht im Westen Versorgungssicherheit politisch wieder vor Klimaschutz. Ein rascher Ausstieg aus der Kohleverstromung ist fraglich geworden, selbst verlängerte Laufzeiten für Atomkraftwerke sind wieder eine Option. Vorrang vor einer friedlichen, inklusiven Gesellschaft (SDG 16) hat nun auch in Deutschland die Aufrüstung. Laut Bundesregierung soll das Zwei-Prozent-Ziel der NATO bei den Rüstungsausgaben noch übertroffen und dem Militär zusätzlich ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro verfügbar gemacht werden. Kanzler Scholz hat diese Entscheidung von oben verfügt. Dennoch scheint Aufrüstung als Antwort auf die Aggression des Putin-Regimes mehrheitlich akzeptiert und politisch alternativlos zu sein. Derweil wird die Grenze zwischen Krieg und Frieden unscharf. Auch in Deutschland ist der Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, außer Kraft gesetzt. Wann die Schwelle überschritten ist, an der waffenliefernde Staaten zur Kriegspartei werden und der Bündnisfall eintritt, entscheidet im Grunde der Aggressor. Geradezu schlafwandlerisch könnte die internationale Staatengemeinschaft in einen dritten Weltkrieg, ja in eine nukleare Auseinandersetzung hineinschlittern. Macht es angesichts solcher Bedrohungen noch Sinn, einer »Utopie des Sozialismus« das Wort zu reden? »Nun herrscht also wieder Krieg in Europa. Die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen wird dadurch ja aber nur noch wichtiger«, schreibt mir Pascal Zwicky, Koordinator des Schweizer Think-Tanks Denknetz, anlässlich eines Videos zu meinem Sozialismus-Buch. Trotz Zustimmung möchte ich andeuten, was künftig dennoch neu zu durchdenken und analytisch präziser zu fassen ist. 

Russland in der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise 

Meine erste Überlegung betrifft die ökonomisch-ökologische Zangenkrise und die imperialen Rivalitäten, die zum Ukraine-Krieg geführt haben. Bemühungen, sich in Putins Kopf zu versetzen, übersehen zumeist eine zentrale Ursache der Eskalation. Die Russische Föderation ist ein Staatengebilde mit nur noch semiperipherem Status. Auf den »Festungssozialismus« ( Derlugian 2014)  der Sowjetunion folgte nach einem Übergangsstadium mit Offenheit für unterschiedliche Entwicklungswege ein oligarchischer Festungskapitalismus, dessen ökonomische Leistungsfähigkeit hauptsächlich auf dem Export fossiler Energieträger beruht. Bis zu 43 Prozent seiner Einnahmen verdankt Russland dem Erdöl und dem Erdgas. Diese Abhängigkeit von seinen Naturressourcen impliziert, dass die Russische Föderation ohne radikalen wirtschaftlichen Strukturwandel unweigerlich zu den Verlierern einer Nachhaltigkeitswende in den Abnehmerstaaten gehören würde. Je rascher dort die Abkehr von fossiler Energie gelingt, desto wertloser werden russische Öl- und Gasvorkommen. Das dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass die Zukunftsszenarien jenes Machtzirkels, mit dem sich der Autokrat Putin umgibt, ausgesprochen düster ausfallen. Die besondere Aggressivität dieses Regimes hat hier eine ihrer wesentlichen Ursachen, denn das Zeitfenster zur Überwindung des semiperipheren Status Russlands schließt sich ebenfalls. Militär und Bereitschaft zu brutalem Angriffs-Krieg sind die verbleibende Machtressource, die sich halbwegs erfolgreich jedoch nur anwenden lässt, solange der Gegner von russischem Gas und Erdöl abhängig ist. 

Der »Würgehalsband-Effekt«

Mit der Aggression gegen die Ukraine forciert das Putin-Regime deshalb zweitens eine Entwicklung, die ich im Buch im Anschluss an James Galbraith als »Würgehalsband-Effekt« bezeichnet habe. In unsicheren Zeiten machen hohe Fixkosten für Gas und Öl die besondere Verwundbarkeit einer auf steigendem Ressourcenverbrauch basierenden Wirtschaftsweise aus. Wie das Würgehalsband bei einem Hund verhindert wirtschaftliche und politische Instabilität nicht unbedingt jegliches Wirtschaftswachstum, doch die Preise steigen schnell an und die Profitabilität fällt, die Investitionsbereitschaft der Unternehmen sinkt rapide und Verteilungskämpfe gewinnen an Intensität. Der Putinismus verfolgt eine aggressive Hochrisikostrategie, um sich diesen Effekt zunutze zu machen und schadet damit letztendlich sich selbst. Schließlich ist die EU Russlands wichtigster Handelspartner. Durch Sanktionen forciert, werden Krieg und steigende Preise mit destruktiver Wucht auf die Ökonomie auch der Russischen Föderation zurückschlagen. Das könnte dem Expansionismus Putins allmählich die Massenloyalität entziehen, doch der Westen wird ebenfalls Schaden nehmen. Chinas Nominalkommunisten, die sich mit eigenen Machtambitionen als Makler zwischen eigener Bevölkerung und ausländischen Kapitalinteressen betätigen, möchten die lachenden Dritten sein. 

Putins exterministischer Autoritarismus

Damit stellt sich drittens die Frage, wie das Putin-Regime analytisch einzuordnen ist. Um es zugespitzt zu formulieren: Die Gründe für den praktizierten Angriffskrieg lassen sich weder auf ökonomische Ursachen reduzieren noch alleine in der zweifelsohne hoch problematischen Ost-Ausdehnung der NATO finden. Der expansive Charakter des Putinismus beruht auf einem Willen zur Akkumulation politischer Macht, dem derzeit weder eine demokratische Zivilgesellschaft noch das politische System Grenzen setzt. Das unterscheidet den Putinismus vom Trumpismus, der – zumindest vorläufig – in einer demokratischen Wahl unterlegen ist. Der Putinismus entfaltet sich frei von solchen Möglichkeiten zu politischer Selbstkorrektur. Wie im Buch in Anlehnung an Hannah Arendt gezeigt, kann sich das imperiale Streben nach Ausdehnung des eigenen Herrschaftsbereichs gegenüber ökonomischen Interessen verselbstständigen oder diesen Interessen gar vorauseilen. Allerdings handelt es sich beim Putin.Regime keineswegs um klassischen Imperialismus und schon gar nicht um eine Renaissance des Sowjetkommunismus. Putin personifiziert einen exterministischen Autoritarismus, der unter den Bedingungen der Zangenkrise auf den Niedergang der einstigen Supermacht Sowjetunion reagiert. Exterminismus, eine Wortschöpfung des marxistischen Historikers E. P. Thompson, bezeichnet diejenigen Mechanismen von Volkswirtschaften, politischen Ordnungen und Ideologien, die »als Schubkraft in eine Richtung wirken, deren Resultat die Auslöschung großer Menschenmassen sein muss« (Albrecht 1997). Der Exterminismus Putins mischt Versatzstücke zaristischen Großmachtstrebens mit panslawistisch-völkischem Nationalismus, Sowjetnostalgie und einem Weltbild, das dem Freund-Feind-Schema eines Carl Schmitt entspricht. Diese zusammengebastelte Ideologie soll expansive Absichten legitimieren, doch sie besitzt nichts Attraktives und verfügt über keinen Gesellschaftsentwurf, der positiv ausstrahlen könnte. Ihre Massentauglichkeit beruht auf Repression, kombiniert mit Führerverehrung, Gefolgschaft qua Unwissen und verbreiteter Leidensfähigkeit der Bevölkerung. Als nackter Kern des Putinismus bleibt sein Streben nach Ausweitung von Einflusssphären, gepaart mit dem Wunsch nach Totalisierung politischer Macht. Es ist dieses Streben, das Madeleine Albright, wie im Buch zitiert, als Hauptmerkmal eines neuen Faschismus bezeichnet. Eines Faschismus, der, das sei hinzugefügt, die Bereitschaft zum eigenen Untergang als Option in seine machtpolitischen Kalkulationen stets einbezieht. 

Für einen Nachhaltigkeits-Kompass 

Die zerstörerischen Kräfte eines exterministischen Autoritarismus vor Augen, werden Auseinandersetzungen um einen Nachhaltigkeits-Kompass umso dringlicher. Deshalb freut es mich, dass mein Buch zu einer nur scheinbar unzeitgemäßen Sozialismus-Debatte beigetragen hat. Wie nicht anders zu erwarten, wird diese Diskussion äußerst kontrovers geführt.1 Da es an dieser Stelle unmöglich ist, die zahlreichen Kommentare, Kritiken und weiterführenden Vorschläge zu würdigen, belasse ich es bei einer Schlussbemerkung. Gleich wie sich Krieg und Konfrontation entwickeln, sie werden das Ende des Marktradikalismus beschleunigen. Nicht einmal Aufrüstung und Kriegswirtschaft lassen sich ohne Planung betreiben. Der britische Kriegskapitalismus, der den Zweiten Weltkrieg überdauerte, bietet eine historische Folie für das, was an Staatsinterventionismus auch innerhalb der EU vermutlich kommen wird. An diesem Staatsinterventionismus können, ja müssen demokratische Gegenkräfte ansetzen. Ein Beispiel: Trotz russischer Aggression gibt es für gigantische Aufrüstungsprogramme keinen Grund. Schon jetzt übersteigen die Rüstungsetats der NATO­Staaten das entsprechende Budget der Russischen Föderation um ein Vielfaches.2 Waffensysteme, die erst noch entwickelt werden sollen, werden der Ukraine in ihrem Überlebenskampf kaum nützen. Streitkräfte mit strikt defensiven Aufgaben, aber stark genug, exterministischen Regimen die Stirn zu bieten, ließen sich selbst mit reduzierten Wehretats gut finanzieren. Doch weshalb gibt es kein Sondervermögen für einen nachhaltigen Klimaschutz? Stellt man die Frage so, führt das zu Ansatzpunkten für einen nachhaltigen Infrastruktursozialismus (vgl. Dörre 2021), der mit Investitionen in die Ökonomie des Alltagslebens und die Daseinsvorsorge unmittelbar praktisch werden kann. Selbstverständlich gibt es keine Gewähr dafür, dass entsprechende Weichenstellungen tatsächlich gelingen. Die Geschichte ist offen, sie kennt kein Ziel; einen Determinismus, der zum Sozialismus führt, gibt es nicht. Ein konditionierter Voluntarismus sei dennoch erlaubt. Offenbar ist die profitzentrierte Basisregel kapitalistischer Systeme derart unterkomplex, dass sie den Stabilitätsanforderungen ausdifferenzierter Gesellschaften immer weniger zu genügen vermag. Denn auch das zeigt der Ukraine-Krieg: Die hohen Energiepreise, mit denen wegen des Konflikts an den internationalen Börsen gehandelt wírd, sind für den privaten Verbrauch schlicht unbezahlbar. Hält die inflationäre Entwicklung länger an, wird sie die Residualeinkommen – Geld, das nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und Fixkosten für Miete, Heizung etc. übrigbleibt, – dramatisch senken. Einmal mehr wird sich dann zeigen, dass kapitalistischer Besitz als expansives dynamisches Prinzip zur Evolution immer aufwendige­ rer Schutzmechanismen zwingt. Nachhaltigkeit bedeutet letztendlich, dieses Besitzprinzip außer Kraft zu setzen – durch kollektive Eigentumsformen, die Selbstverantwortung stärken, mit einer auf die Wirtschaft ausgeweiteten Demokratie sowie durch solidarische Rückverteilung des gemeinsam erzeugten Reichtums, partizipative Planung und einen Übergang zu nachhaltigen Produktions­ und Lebensweisen. In den Klimabewegungen, in Gewerkschaften, Umweltverbänden, politischen Parteien und der scientific community werden solche Alternativen mittlerweile ernsthaft diskutiert. Das signalisiert den Gebrauchswert konkreter Utopien, über den Oscar Wilde schreibt: »Eine Weltkarte, in der Utopia nicht verzeichnet ist, ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit ewig landen wird.« Weiter heißt es: »Ungehorsam ist für jeden Geschichtskundigen die eigentliche Tugend des Menschen. Durch Ungehorsam entstand der Fortschritt, durch Ungehorsam und Aufsässigkeit.« (Wilde 2014)


Klaus Dörre, Jena, 8. März 2022 


Wir veröffentlichen hier das Nachwort zur zweiten Auflage von »Die Utopie des Sozialismus«, das in Kürze bei Matthes&Seitz erscheint.