Parteien sind für viele längst keine attraktiven Orte mehr für politisches Engagement. Viel eher wird ein zivilgesellschaftliches Engagement in Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder losen (sozialen) Netzwerken gesucht. Doch mit Gramsci gesprochen, sind wir alle „Partei“ – niemand ist „parteilos“. Selbst wenn ich mich nicht für Politik im landläufigen Sinne interessiere, ergreife ich in der Praxis (wenn auch nicht im Bewusstsein) stumm Partei für die bestehenden Verhältnisse, wenn ich nichts am Bestehenden verändere.
Gramsci erweitert das Verständnis von Partei so, dass Parteien als gesellschaftliche Kraft eine spezifische Form der Kämpfe um Hegemonie sind. Eben nicht bloß „technische Organisationen“, wie er schreibt, sondern ein „aktiver gesellschaftlicher Block“. Block? Diesen hat man sich nicht als etwas fest Umrissenes und Starres vorzustellen, sondern als ein Zusammenhang unterschiedlicher Kräfte in der Gesellschaft, die gemeinsame Erfahrungen, Interessen und Identitäten, eine bestimmte Lebensweise teilen. Eine Partei im weiten Sinne ist bestrebt, übergreifende Gemeinsamkeiten innerhalb des Blocks herzustellen, da seine ideologische Einheit immer von Gegensätzen entlang von Klasse, Geschlecht, Ethnie oder Religion durchzogen ist und auseinanderzufallen droht. Politische Parteien im engen Sinne sind formelle Organisationen, die bei regelmäßigen Wahlen um Wählerstimmen konkurrieren. Gramsci betrachtet sie als Bestandteil solcher Blockbildungen. Demnach sind Parteien zugleich Apparate innerhalb des Staates und aktive Kraft in der Zivilgesellschaft. Offensichtlich geht es ihm ähnlich wie beim Begriff der Intellektuellen (vgl. Stichwort Intellektuelle) vor allem um die organisierenden Funktionen, die Parteien in der bürgerlichen Gesellschaft haben. Diese Funktionen werden auch von Zeitungen, TV-Shows, Debattierclubs, Universitäten, Stiftungen, NGOs, Thinktanks, politischen Vereinigungen usw. ausgeübt. Führende Kräfte aus diesen zivilgesellschaftlichen Organisationen und den politischen Parteien formieren sich zu dem, was Gramsci die „gesellschaftliche Partei“ (oder Block) nennt. In diesem Sinne sind Parteien Teil der Zivilgesellschaft, in der sie Bündnisse eingehen, Debatten vorantreiben, Meinung machen, Akzente setzen, Vermittlungsarbeit leisten, Organisierung stärken, Alltagspraxen mitgestalten usw. – kurz: bestimmte Gruppen und Interessen verbinden. Mit anderen Worten: Ein Bündnis gesellschaftlicher Kräfte ringt als Partei darum, seine Führung in der Gesellschaft auszubauen, die Zustimmung breiter Teile der Bevölkerung zu gewinnen und deren (mehr oder weniger) freiwillige Unterstellung unter seine Herrschaft abzusichern. Zur Eroberung der Macht reicht es nicht, Wahlen zu gewinnen, die Regierung zu stellen und die Staatsapparate mit Personal zu bestücken. Gramsci betont: Eine Partei muss sich im umfassenden Sinne zu Staat und Weltauffassung entwickeln, das heißt auch den Kampf um die Köpfe und Herzen der Beherrschten für sich entscheiden. Das bedeutet aber auch, sich ständig selbst zu erneuern und an entscheidenden Punkten über Verbündete und Gleichgesinnte hinaus andere gesellschaftliche Gruppen einzubeziehen, das heißt auch Kompromisse mit gegnerischen Kräften einzugehen. Das läuft natürlich nicht reibungslos ab. Hiermit verbundene Konflikte spiegeln sich in innerparteilichen Auseinandersetzungen bis hin zu Parteispaltungen wider. Außerdem findet diese gesellschaftliche Aushandlung nicht auf Augenhöhe statt, weil das Terrain der Aushandlung kein neutrales ist, sondern auf Klassenverhältnissen basiert. In der bürgerlichen Gesellschaft sind Parteien die Form der Austragung politischer Kämpfe. Zwar braucht die Bourgeoisie (= die besitzenden Klassen) hierfür keine eigene, ihr unmittelbar zugehörige und von ihr eingesetzte Partei. Es kommt ihren Interessen sogar entgegen, wenn es einen politischen Ausgleich durch unterschiedliche Parteien (auf Basis struktureller Macht der Bourgeoisie) gibt. Mit Gramsci lässt sich also zeigen: Vorstellungen von Parteien als verlängerter Arm des Kapitals oder als exklusives Instrument in den Händen der Herrschenden greifen zu kurz. Sind Parteien umgekehrt vielleicht ein Instrument, das unter der Kontrolle der Beherrschten für deren Befreiung dienlich sein kann? Eine Möglichkeit, sich organisiert gegen die herrschenden Zumutungen zur Wehr zu setzen? Die Frage, wie sich die Subalternen zur eigenen Führungsfähigkeit erziehen können, trieb Gramsci immer wieder um. Damit geht es um die politisch-strategische Frage der Organisation einer sozialistischen Transformation und um die Rolle einer revolutionären Partei in diesem Prozess. Auch verweist sein Begriff über die bürgerliche Idee von Parteien, die Teile der Bevölkerung und ihre Anhänger politisch repräsentieren, hinaus. Als Mitbegründer der kommunistischen Partei in Italien hatte sich Gramsci immer wieder für ein Verständnis von Partei stark gemacht, in dem sich die unterworfenen Klassen und Gruppen kollektiv (selbst-)organisieren und auf unterschiedlichen Feldern gemeinsam aktiv werden. Das meint nicht nur Parteipolitik im engen Sinne, sondern geschieht nur, wenn die Partei der Subalternen („der moderne Fürst“) zu einem lebendigen Organismus von Organisationsfeldern und Lernprozessen wird. Damit rückt kollektive (Selbst-)Bildung in den Vordergrund ebenso wie die Herausforderung, unterschiedliche Ebenen innerhalb einer Partei in ihrer jeweiligen Bedeutung für das Ganze zu erkennen: Basis-Aktive, mittlere Kader und Leitungspersonal. Gramsci beschäftigt dabei vor allem die Frage, wie sich das Verhältnis gestaltet zwischen denen, die eine solche gesellschaftliche Kraft vertreten, also repräsentieren, und denen, die repräsentiert werden – also zwischen Führenden und Geführten in der Partei. Die Perspektive ist entscheidend: Will man, dass es „immer Regierte und Regierende“ gibt oder will man Bedingungen schaffen, die diesen Gegensatz zum Verschwinden bringen? Auch die Frage der berühmten Parteidisziplin wollte er immer als eine von hinterfragbaren Führungsverhältnissen verstanden wissen. Eine zum bürokratischen Apparat versteinerte Partei – die Gefahr war ihm bewusst – war für Gramsci ein von ihrer gesellschaftlichen Basis losgelöster Anachronismus.
Verbindende Partei
Seit der Zeit Gramscis hat sich vieles verändert. Insbesondere kann keine Partei mehr unmittelbar den Anspruch auf Führung der Linken erheben, der Bezug auf die Arbeiterbewegung bzw. die Arbeiterklasse ist nicht mehr ungebrochen etc. pp. Der Begriff der verbindenden Partei versucht, an Gramscis Überlegungen anknüpfend, einen für die heutige Zeit adäquaten Begriff von Partei zu formulieren. Denn kein Teil der pluralen Linken, keine Partei, keine Gewerkschaft, keine linke Avantgarde kann mehr eine Führungsrolle beanspruchen. Zugleich aber sollte vermieden werden, dass Pluralität in Spaltung umschlägt. Dies ist auch die Idee hinter Mimmo Porcaros Begriff der partito connettivo (verbindende Partei): Sie "sollte die Vorstellung der klassischen Massenpartei überwinden" (Porcaro 2010, 72). Die verbindende Partei ist "die Vereinigung der unterschiedlichen (politischen) Subjekte in Formen, die die bestehenden Unterschiede nicht beseitigen wollen" (ebd., 73), sondern sie vielmehr in einer gesellschaftlichen Partei (Gramsci) neuen Typs verbinden. Ein loses Netzwerk der "Bewegung der Bewegungen" ist nicht ausreichend. Die Vorstellung, "die gesellschaftliche Veränderung bestehe in fortschreitendem und linearem Anwachsen einer Bewegung, die nach und nach dem Staat (und dem Kapital) Ressourcen entzieht und sie der Gesellschaft zuführt" (Porcaro 2011, 73), hat sich als falsch erwiesen. "Die Herstellung einer gegenhegemonialen Bewegung kann nicht als additiver Prozess gelingen" (Kaindl/Rilling 2011, 26) oder durch Kooperation von in sich vermeintlich abgeschlossenen Organisationen von Fall zu Fall (Candeias 2012). Es bedarf der Führung, um qualitative Sprünge und effektive Brüche zu erzeugen, andernfalls verpufft Initiative oder droht sektiererisch oder reaktionär abzudriften. Es gibt jedoch keinen privilegierten Ort der Führung mehr, geschweige denn einen "Anführer/Leader". Immer droht auch die autoritäre Verselbständigung von Führung. Es geht daher um eine Art "verteilte Führung", die "keinen zuvor etablierten Führungs- oder Advantgardestatus voraussetzt" (Nunes 2013, 64), sondern Einzelnen oder Gruppen ermöglicht, temporär eine Führungsfunktion zu übernehmen, um Dinge voranzubringen und Aktivitäten auf einen vorläufigen Fokus zu konzentrieren. Eine solche Führungsfunktion ist dabei nur vorübergehend und bedarf der immer wieder erneuten Legitimierung durch die Praxis. Die "Unterstellung" unter eine solche Führung ist dann kein Ergebnis zwangsförmiger hierarchischer Unterordnung, sondern freiwillig und revidierbar, selbstgewählte Disziplin aus Überzeugung, nicht abstrakt ideologischer, sondern konkreter praktischer Überzeugung. Je nach politischer Konjunktur und strategischer Notwendigkeit geht die Führung des Gesamtsubjekts von einem Teil auf einen anderen über, von einem Teil der Bewegung oder Gewerkschaft auf einen anderen, auf eine Partei oder auf eine Linksregierung, von der Regierung zurück zur Bewegung etc. Jeder Übergang der Führungsfunktion von einem Teil des Gesamtsubjekts auf einen anderen verdeutlicht einen neuen Verdichtungspunkt, einen Strategiewechsel und eine Neuausrichtung der Mobilisierung. Dabei reicht "Pluralismus allein nicht aus": Die Ergebnisse pluralistischer Debatten müssen durch intellektuelle und politische Gruppen weiter verarbeitet werden (Porcaro 2011, 34), zu jedem Zeitpunkt an der Realität überprüft und aktiv verbunden und verallgemeinert, zu einer gemeinsamen, aber flexiblen politischen Linie verdichtet werden. Dies ist die Funktion der jeweils führenden Gruppe als kollektivem Vermittlungsintellektuellen (vgl. Stichwort zu Intellektuellen). In diesem Prozess der verteilten und wechselnden Führung muss sich die verbindende gesellschaftliche Partei auch zur strategischen Partei entwickeln und dabei unterschiedliche Zeitrhythmen integrieren. Die horizontale, basisdemokratische Arbeit in den Versammlungen, die Arbeit der Vermittlung und Verallgemeinerung – auch der Verallgemeinerung von Führungsfähigkeit – braucht Zeit. Zugleich bedarf es aber in kritischen Situationen schneller gemeinsamer Entscheidungen. Ein zentraler Aspekt der Führungsfunktion ist es, im richtigen Moment "die Stärke der Bewegungen auf entscheidende Punkte der politischen Konjunktur zu lenken – Punkte, die sich ja ständig verändern" (Porcaro 2013, 143). Eine politische Organisation ist dabei nicht hinreichend. Zugleich müssen soziale und kulturelle Räume ausgebildet werden. Ganz entscheidend ist es etwa, "mit größerer Sorgfalt demokratische Verbände genossenschaftlicher Art auf den Weg zu bringen, die in der Lage sind, die unmittelbaren Bedürfnisse der Masse von Benachteiligten zu befriedigen" (Porcaro 2010, 74) – keine "rein altruistischen", sondern "mutualistische, also auf gegenseitiger Hilfe basierende Vereinigungen" (Porcaro 2011, 33). Deren "Elementarteile sind lokale Einheiten, in denen Mitglieder nicht einfach nur über Politik diskutieren" (ebd.), sondern darüber hinaus sich bei der Verhinderung von Zwangsräumungen unterstützen, finanzielle wie psychosoziale Unterstützung leisten, gemeinsame Feste und Aktionen organisieren, aber auch kollektive Kinderbetreuung, sich in der Bewältigung des Alltags helfen, gemeinsam einkaufen gehen oder geldlos Leistungen tauschen. Zivilgesellschaftliche Solidarstrukturen dürfen sich dabei nicht darauf beschränken, einfach Hilfe anzubieten, ob in der Gesundheitsversorgung, in Form von Lebensmitteln oder einem Obdach, sondern müssen selbst zu Orten politischer Aktion, Organisierung und Schulung werden – die Verbindung ist entscheidend. "Solidaritätsinitiativen können wichtige Ausgangspunkte für Kämpfe sein." (Wainwright 2012, 122) Eine verbindende Partei kann die Initiativen aus unterschiedlichen Bereichen aktiv bündeln, Kampagnen verstärken, eine politische Infrastruktur bieten. In der Verbindung der unterschiedlichen Elemente als organisatorischen Knoten kann "das Selbstbild der Menschen von dem, was sie erreichen können", verändert, "mit ihnen zusammen das Verständnis ihrer eigenen Fähigkeit zur Macht" entfaltet werden (ebd.). So können die "Voraussetzungen für einen möglichen (und gezielten, d.A.) gesellschaftlichen Konflikt" geschaffen werden (Porcaro 2010, 75). Die verbindende Partei muss als Bewegung und Institution, als zivilgesellschaftliche und parlamentarische, als lokale und übergreifende Kraft und als Klassenpartei mit universellem Anspruch selbst wieder in all ihren Teilelementen zu einer organisierenden Kraft werden.
Teil 1 zu gesellschaftlicher Partei von Lia Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann und Anne Steckner; Teil 2 zu verbindender Partei von Mario Candeias
Literatur
Gramsci, Antonio, 1991ff: Gefängnishefte, 10 Bde., hrsg. v. Wolfgang Fritz Haug u.a., Berlin/Hamburg Becker, Lia/Niggemann, Janek/Candeias, Mario/Steckner, Anne, 2013: Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängsnishefte, Berlin/Hamburg, Candeias, Mario/Völpel, Eva, 2014: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise, Hamburg, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Candeias-Voelpel_Plaetze-sichern.pdf Candeias, Mario, 2012: An der Problematik vorbei, in: analyse & kritik online, 21.9.2012, www.akweb.de/ak_s/ak575/44.htm Ders., 2015: Die verbindende Partei im Praxis-Test, in: PROKLA 182, 46. Jg., 153-166, Kaindl, Christina/Rilling, Rainer, 2011: Eine neue "gesellschaftliche Partei"? Linke Organisation und Organisierung, in: LuXemburg 4/2011, 16–27, www.zeitschrift-luxemburg.de/eine-neue-gesellschaftliche-partei/ Nunes, Rodrigo, 2013: Drei Thesen zur Organisationsfrage, in: LuXemburg 3-4/2013, 58–65, www.zeitschrift-luxemburg.de/drei-thesen-zur-organisierungsfrage/ Porcaro, Mimo, 2010: Partei in der Krise. Chancen für eine Rifondazione?, in: LuXemburg 1/2010, 71–75, www.zeitschrift-luxemburg.de/partei-in-der-krise/ Ders., 2011: Linke Parteien in der fragmentierten Gesellschaft. Partei neuen Typs – die »verbindende Partei«, in: Luxemburg, H. 4, 28-35, www.zeitschrift-luxemburg.de/linke-parteien-in-der-fragmentierten-gesellschaft/ Ders., 2013: Kunststücke. Was eine Partei alles können muss, in: LuXemburg 2/2013, 142–145, www.zeitschrift-luxemburg.de/occupy-lenin-debatte-kunststuecke/ Wainwright, Hilary, 2012: Griechenland: Syriza weckt Hoffnungen, in: LuXemburg 3/2012, 118–125, www.zeitschrift-luxemburg.de/griechenland-syriza-weckt-hoffnungen/