Helmut war ein großartiger Netzwerker, hatte ein enzyklopädisches und sehr zuverlässiges Gedächtnis und kannte unzählige Leute, mit und zwischen denen er die Fäden spann. Seine kollegiale Neugier war zugleich leise Mahnung. Immer sollte man an etwas arbeiten, die kostbare Lebenszeit durfte nicht ungenutzt verstreichen, erst recht, wenn man nicht mehr von einem gültigen Arbeitsvertrag und einem fordernden Vorgesetzten auf Trab gehalten wurde, sondern nur noch vom fehlbaren eigenen Gewissen. Einen äußeren Anstoß, aktiv zu werden, brauchte er nicht. Die Freizeit, die ihm unverhofft zuwuchs, als das vereinigte Deutschland meinte, in seiner wissenschaftlichen Arbeitswelt auf ihn verzichten zu können, verstand er nicht als Lizenz zum Müßiggang, sondern als Muße, die er zu intensiver selbstbestimmter Arbeit nutzte. In seiner Publikationsliste gibt es keinen »Wendeknick«. Jahr um Jahr hat er sie um eine beträchtliche Zahl von Titeln erweitert. Anfang 2006 hatte er, als Eigenbeitrag zu seinem Siebzigsten, eine Bibliographie aller seiner bis zum Ende des Vorjahres erschienenen Arbeiten zusammengestellt: 42 selbstverfasste, herausgegebene oder mitedierte Bücher, 216 wissenschaftliche Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden, 240 populäre Artikel, Rezensionen und Berichte, 22 unveröffentlichte Manuskripte. Einiges ist seither noch hinzugekommen. Bis ganz zuletzt hat er mit seiner unerbittlich fortschreitenden Erkrankung um schmerzfreie Stunden am Schreibtisch gerungen, die er mit klarem Kopf seiner Arbeit widmen konnte. Gemessen am Vorhandenen, ist sein Lebenswerk imponierend, gemessen an seinen Plänen, ist es Fragment geblieben. Es gehört zur herben Last des Alters, dass reiche, mit Leben bis zum Rand gefüllte Jahrzehnte im Rückblick zu einem infinitesimalen Nichts schrumpfen. Gestern, vor gerade erst einem halben Jahrhundert, steht ein schlanker junger Helmut Steiner etwas linkisch im Senatssaal der Humboldt-Universität. Die Braut an seiner Seite strahlt ihn an, Magnifizenz Kurt Schröder – die Unterschrift dieses Rektors wird drei Jahre später unter der Urkunde für Steiners summa-cum-laude-Promotion stehen – überreicht dem Paar ein Bukett, im Hintergrund lächelt väterlich der Parteisekretär Hans Singer. Sie alle, gemeinsam mit einem zweiten frischvermählten Paar, posieren auf dem Titelblatt eines vergilbten Exemplars der Zeitung »Humboldt-Universität« vom Sommer 1959, es ist die erste sozialistische Hochzeit in den Räumen der Alma Mater. Nur ein Augenblick der Ewigkeit vergeht, dann gibt es keine sozialistischen Hochzeiten mehr und nicht einmal mehr eine DDR, und die gerade noch ausgelassen feiernd auf eine grenzenlose Zukunft anstießen, versammeln sich nun, alt geworden, im Spätwinter 2009 auf dem Friedhof an der Ackerstraße in Berlin und trinken zu Helmut Steiners Gedenken unter den hohen Bäumen ein Glas roten Wein an seinem Grab. Helmut hat es sich so gewünscht, und bekräftigend liegt schon ein unbestimmter Hauch von Frühling in der Luft. Verse aus Pablo Nerudas Canto General geleiten ihn aus dem Leben: Nicht verloren ging das Leben, hirtenhafte Brüder. Aber einer wilden Rose gleich fiel ein roter Tropfen ins Dickicht, und eine Erdenlampe erlosch. Soziologie, da mit allen erdenklichen Feldern sozialen Handelns zumindest im Prinzip verbunden, ist ohne die Kunst der Vernetzung nicht zu haben, Interdisziplinarität ist ihr in die Wiege gelegt. Doppelt vielseitig müssen Soziologen sein, wenn ihr Metier noch um wissenschaftliche und soziale Anerkennung ringt, schwach institutionalisiert ist und sich nur unter dem schützenden Schirm – oder in der Umklammerung, je nachdem – anderer, bereits etablierter Gebiete entwickeln kann. In dieser fragilen Position befindet sich die Soziologie in der DDR für längere Zeit. Hinzu kommt, dass die Führung der SED nur mäßig daran interessiert ist, über die sozialen Strukturen und Wandlungen in der von ihr beherrschten Gesellschaft seriöse, mit wissenschaftlichen Methoden gewonnene Erkenntnis zu erhalten. Sie vertraut eher ihren eigenen, außerwissenschaftlichen Informationskanälen. Entsprechend dürftig ist es um die Förderung der Soziologie bestellt. Aber das politische Interesse an soziologischer Kompetenz ist auch nicht gleich Null; so lässt sich – mühsam, trickreich, unter Hinnahme temporärer Rückschläge – dennoch akademisches Terrain erobern. Zu Euphorie gibt die Lage keinen Anlass, doch für Steiners persönliche Entwicklung ist sie günstig. Die Zeit, in der die ostdeutsche Soziologie ihre wissenschaftliche Emanzipation einzufordern beginnt, fällt mit seinen formativen Jahren zusammen, in denen er seinen Weg sucht und findet. An der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität, an der er Politische Ökonomie studiert, wirkt der Kreis um den Kuczynski-Schüler Kurt Braunreuther, die wohl wichtigste Keimzelle der Soziologie in der DDR. An diese »Forschungsgemeinschaft Soziologie und Gesellschaft« findet er Anschluss, Braunreuther wird sein wichtigster Lehrer, an den er sich sein Leben lang dankbar erinnert. Gegenüber der noch weithin verbreiteten Meinung, die soziologische Thematik sei Bestandteil des Historischen Materialismus und gehöre in die Zuständigkeit der Philosophie, in der empirische Untersuchungen gar keinen oder allenfalls einen sehr eingeschränkten Platz haben, empfinden sich die Mitglieder des Braunreuther-Kreises als Innovatoren. Steiner nimmt diesen Pioniergeist in sich auf und fördert ihn nach Kräften. Das mit seinem Lehrer verabredete Dissertationsthema verrät seine Brisanz erst auf den zweiten Blick. Methodisch liegt es durchaus im Rahmen der klassischen marxistischen Sozialstrukturanalyse, doch in Steiners Hand verwandelt sich dieses Instrument, das längst die Patina eines schwerfälligen Dogmas angesetzt hat, wieder zurück in das heuristische Florett, das es bei Marx gewesen ist. Für Steiner ist es keine ewige Wahrheit mehr, dass der Anteil der Arbeiterklasse an der Gesamtpopulation moderner Gesellschaften unablässig (»gesetzmäßig«) zunehmen muss. Er befragt die soziale Wirklichkeit und registriert eine expansive Ausdehnung des Stratums der Angestellten, zunächst – anhand westdeutschen statistischen Materials – für die Bundesrepublik, später auch für die DDR. Das Feld der Sozialstrukturforschung lässt ihn nicht wieder los – er zeigt, dass Diagnosen gesellschaftlicher Strukturen und ihrer Transformationen, die einem sozialökonomischen Paradigma folgen, weitaus komplexere Ergebnisse zeitigen als die Verwendung eindimensionaler Sonden wie der Schichtung von Populationen nach durchschnittlichen Einkommensniveaus. Noch in seinen späten Jahren initiiert und leitet er in der Leibniz-Sozietät eine Arbeitsgruppe Klassen- und Gesellschaftsanalyse. Aus der Dissertation wird das 1967 veröffentlichte Buch Soziale Strukturveränderungen im modernen Kapitalismus. Auch in der Bundesrepublik wird diese Arbeit bekannt, sie erfährt mehrere nichtlizenzierte Nachdrucke. Das um 1968 im Westen sprunghaft gestiegene Interesse an marxistischen Forschungen fördert seine Rezeption. Namhafte Soziologen wie Jürgen Kocka oder Reinhard Kreckel verwenden es für ihre Untersuchungen. Worin eigentlich besteht Steiners Identität als Soziologe, die das Zentrum seiner mannigfachen Aktivitäten bildet? Das ist nicht leicht zu sagen. Jedem, der ihm begegnet, fällt zuerst seine Vielseitigkeit, seine exorbitante Belesenheit auf. Vielseitig muss er sein, weil sich sein Fach in der DDR in einer unsicheren Position befindet und er sich in der Pflicht sieht, für das Ganze des Gebietes Verantwortung zu übernehmen; Spezialistentum wäre dafür kontraproduktiv. Diese Vielseitigkeit hat jedoch eine klare Struktur, die sie zusammenhält und seiner Persönlichkeit ein prägnantes, stark reflexives wissenschaftliches Profil verleiht. Die eine Dimension dieser Struktur ist die rekursive Verknüpfung zwischen der Erforschung der sozialen Realität und der Evolution des Begriffs- und Methodenrepertoires der Soziologie. Steiner ist nicht nur Sozialstrukturforscher, sondern zugleich und damit verbunden Historiker der Soziologie. Die Entwicklung des sozialwissenschaftlichen Denkens in der DDR ist ihm ein jederzeit wichtiger Gegenstand. Dabei ist er mit den Jahren zunehmend bemüht, sie in die Gesamtgeschichte der Soziologie in Deutschland einzubetten und von hier aus auch westdeutsche Entwicklungen zu bewerten. Auch über die russische Soziologie in der sowjetischen wie in der postsowjetischen Periode urteilt er mit Kennerschaft. Die zweite Dimension ist die Verbindung zwischen der Untersuchung von Massenprozessen und unpersönlichen Strukturen auf der einen und der individualisierten Analyse personalen Handelns auf der anderen Seite. In Steiners Werk finden wir beides: auf statistische Daten gegründete Untersuchungen sozialer Massenphänomene ebenso wie einfühlsame, auf reichhaltiges Material gegründete Persönlichkeitsanalysen. Dabei beanspruchen sozialistische Intellektuelle, die Schwierigkeiten mit der Macht hatten und nichtsdestoweniger dem sozialistischen Projekt verbunden blieben, seine besondere Aufmerksamkeit: Fritz Behrens, Gunther Kohlmey, Jürgen Kuczynski, Wolfgang Steinitz und andere. Strukturforschungen und Persönlichkeitsanalysen sind aber für ihn nicht einfach alternative Betätigungsweisen, denen er sich abwechselnd zuwendet, sondern Forschungsrichtungen, die einander bedingen und befruchten. Erst im Wirken konkreter Persönlichkeiten offenbaren sich die Potenziale und die Blockaden, die bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse verkörpern, und umgekehrt ist keine Gesellschaft hinreichend charakterisiert, wenn ihre Beschreibung anonym bleibt und nicht auch auf Persönlichkeiten Bezug nimmt, deren Handeln ihre Strukturen modifiziert und gestaltet. Es mag wohl sein, dass Helmut Steiner in dieser Eigenart seines intellektuellen Profils unter den deutschen Soziologen eine unikale Erscheinung ist. »Warum haben Sie nicht nach 1990 einen Lehrstuhl in Halle, Leipzig oder Rostock oder Jena bekommen?« Diese Frage stellt Wolfgang Zapf dem siebzigjährigen Steiner. Als ehemaliger FDJ-Funktionär, wie es Steiner anno 1959 war, kann man im vereinigten Deutschland alles werden, auch Minister oder Bundeskanzlerin, warum dann nicht Lehrstuhlinhaber? Zapf fragt nur rhetorisch, er kennt die Antwort, hat er doch während seiner Präsidentschaft schon dem damals 54jährigen Steiner die Chance geboten, für zwei Monate als Gast am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu arbeiten, und hat diese Offerte später noch mehrfach wiederholt. Die Evaluation der Akademieinstitute durch Arbeitsgruppen des Wissenschaftsrates, die 1990/91 deren ersatzloser Auflösung vorangeht, verläuft für Steiner günstig. Die Beurteilung seiner Arbeiten fällt so gut aus, dass eine Weiterbeschäftigung empfohlen wird. In seinem Förderantrag nennt Steiner in der dafür vorgesehenen Rubrik korrekt seine politischen Funktionen, neben der des FDJ-Sekretärs auch jene eines Sekretärs der Kreisleitung der SED an der Akademie für eine Wahlperiode. Im Mai 1992 erhält er seinen Förderbescheid; Zapf lädt ihn ein, für die Dauer dieser Förderung am WZB zu arbeiten. Lange kann er sich der Genugtuung, im Wissenschaftsgefüge der Bundesrepublik Deutschland zumindest provisorisch angekommen zu sein, indes nicht erfreuen. Schon im Oktober erfährt er die von der inzwischen eingerichteten »Integritätskommission« ausgesprochene Empfehlung, »wegen mangelnder persönlicher Eignung für eine künftige Hochschuleingliederung auf Grund zu enger Verstrickung in das politische Unrechtssystem der früheren DDR Ihre Förderung nicht fortzusetzen«, und erhält zugleich seine fristlose Kündigung. Die Formulierung ist die Standardfloskel, die Mühe einer individuellen Begründung gibt man sich nicht. Ein substanzieller, sein Verhalten betreffender Vorwurf kann ihm nicht gemacht werden, das von Steiner in seinem Förderantrag selbst angegebene Faktum der zeitweiligen Ausübung politischer Funktionen genügt. Steiners Klage beim Arbeitsgericht Berlin wird abgewiesen. Es gelingt ihm nicht wieder, eine reguläre Anstellung als Wissenschaftler zu erhalten. Mit Vollendung des sechzigsten Lebensjahres wird er in den Rentnerstatus überführt. Ihm bleibt das Ehrenamt. So erzählt, ist in dieser Geschichte wenig Trost. Glücklicherweise aber ist dies weniger als die Hälfte der Wahrheit. Steiner erfährt nicht allein Ausgrenzung, sondern zugleich Zuspruch und Solidarität. Das WZB ermöglicht ihm befristete Gastaufenthalte. Oskar Negt verschafft ihm Lehraufträge als Gastdozent am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover: »Offen gestanden, mir war es eher peinlich, Dich darum zu bitten, Lehrveranstaltungen abzuhalten, ohne dafür anständig bezahlt zu werden. Hätte ich nicht das Gefühl gehabt, dass es für Dich doch wichtig war, in Hannover trotz minimaler Ausstattung Lehrveranstaltungen zu machen, hätte ich mich nicht getraut, die Lehraufträge fortwährend zu verlängern.« Negt hat recht: Das Gefühl, gebraucht zu werden, ist allemal wichtiger als ein nobles Honorar. Viele geben Steiner dieses Gefühl. In seiner Familie hat er einen unerschütterlichen Rückhalt. Seine Frau Roswitha März ist wissenschaftlich nicht weniger engagiert als er, kennt den Moloch Wissenschaft aus eigener Erfahrung und weiß, dass der ständig danach trachtet, den ganzen Menschen zu verschlingen. Als Professorin für angewandte Mathematik an der Humboldt-Universität bearbeitet sie freilich ein ganz anderes Gebiet, so dass gegenseitiges Verständnis für die Strapazen eines Wissenschaftlerdaseins mit fachlicher Nichteinmischung einhergeht – eine ideale Symbiose. Die Leibniz-Sozietät wählt ihn zu ihrem Mitglied. Gemeinsam mit russischen, polnischen, tschechischen und bulgarischen Soziologen steigt er in die vergleichende Analyse der Transformationsprozesse in den osteuropäischen Gesellschaften nach dem Ende des »Realsozialismus« ein. Er begründet die Buchreihe Social Studies on Eastern Europe und gibt drei Bände dieser Serie heraus. Seine guten Beziehungen zu russischen Kollegen ermöglichen ihm eine erfolgreiche Spurensuche zum Leben von Alexandra Kollontai, deren Tagebücher er ediert. Im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung greift er seine Forschungen über John Desmond Bernal wieder auf. Sie sind ein Erbteil der Periode von 1970 bis 1974, in der er als Soziologe an der Etablierung einer weiteren interdisziplinären Forschungsrichtung – der Wissenschaftsforschung oder Wissenschaftswissenschaft – teilnimmt. Vielen Fachleuten gilt die 1939 erschienene Monographie The Social Function of Science von John Desmond Bernal als die eigentliche Geburtsurkunde dieses Gebietes. 1986 sorgt Steiner für eine deutsche Ausgabe des Klassikers, die Hansgünter Meyer seine »sicher glanzvollste Edition« nennt. 1989 bringt er einen faszinierenden Sammelband zum 50. Geburtstag des Werkes heraus, mit Originalbeiträgen in vier Sprachen und einem illustren Autorenensemble, das wie ein Kompendium der Weltwissenschaft anmutet und eine ganze Reihe von Nobelpreisträgern einschließt, von Bernals Schülerin Dorothy Hodgkin bis zu Nikolai Bassov, Joshua Lederberg, Linus Pauling und Abdus Salam. Traurige Ironie der Geschichte – 1989 nimmt die Öffentlichkeit die unspektakuläre Stimme der Wissenschaftsforschung ebenso wenig wahr, wie sie es 1939 getan hat. Sie ist anderweitig beschäftigt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung aber dankt den Bemühungen Steiners ihren alljährlichen John-Desmond-Bernal-Tag. Georg Thurn, damals Forschungskoordinator des WZB, ediert zu Steiners Siebzigstem einen Band mit Gratulationen und Dokumenten – eine Quelle von hohem zeitgeschichtlichen Wert, in der das ausgedehnte Ost-West-Netzwerk sichtbar wird, das sich der Jubilar im Laufe seines Lebens aufgebaut hat. Das Bild wird komplettiert durch einen Band wissenschaftlicher Arbeiten, den Genov und Kreckel gemeinsam herausgeben und dessen Autorenkreis an vielen Orten zwischen Yale und Moskau zu Hause ist. Das Konzert ist polyphon, doch nicht disharmonisch. Die theoretischen und politischen Differenzen der Gratulanten verschwinden nicht hinter einer intellektuellen Wohlfühlkulisse – und erst vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass es in der Wissenschaft einen übergreifenden Respekt vor Kompetenz und Solidität gibt, der die Differenzen nicht ausblendet, sondern von ihnen lebt. Ganz am Ende der DDR gründet Steiner auch noch eine Zeitschrift, wie es sie in der gesamten Lebenszeit des ostdeutschen Staates nicht gegeben hat und nicht geben konnte. Das erste Heft erscheint im September 1990 unter dem Titel UTOPIE konkret; nachdem das Hamburger Magazin konkret, das Verwechselungen befürchtet, Einspruch erhoben hat, trägt das Journal fortan den Titel UTOPIE kreativ. Diskussion sozialistischer Alternativen. Zuerst und vor allem gibt die Zeitschrift den Linken aus der DDR, die vor einem Trümmerhaufen stehen und nach Orientierung suchen, ein Diskussionsforum – zudem eines, das sich nicht provinziell abschließt, sondern sich von Anfang an gesamtdeutsch und europäisch weitet. Ins Weite geht es vor allem geistig, nicht nur geographisch. Pluralität und Toleranz statt bornierter Rechthaberei sind Arbeitsprinzipen der Zeitschrift. Als ehrenamtlicher Chefredakteur gewinnt Steiner Sozialdemokraten und Grüne, Vertreter unterschiedlicher Strömungen der Bürgerbewegung, Christen, linksorientierte Denker jenseits des Parteienspektrums und Mitglieder der sich formierenden PDS zur Mitarbeit. Die Zeitschrift gibt Totgeschwiegenen und Diskriminierten posthum eine Stimme, die Untaten des Stalinismus auch und gerade gegen Sozialisten werden mit historischer Prägnanz benannt. Besonders stolz ist Steiner, dass ihm Persönlichkeiten, die in der DDR Pressionen erlitten haben, das Vertrauen ihrer Mitwirkung als Autoren schenken. Keineswegs überall begegnet die Zeitschrift wohlwollender Aufnahme und freimütiger Unterstützung. Sie bleibt auch von den gegenseitigen Animositäten nicht verschont, zu denen Linke nur zu oft neigen. Bis zum Doppelheft 39/40 im Januar/Februar 1994 reicht seine Geduld, dann gibt er das Amt des Chefredakteurs ab. In seinem letzten Editorial lässt er die Hintergründe durchblicken: »Schwierigkeiten unterschiedlicher Art habe ich erwartet. Art und Ausmaß haben jedoch alle Erwartungen übertroffen. Nahezu alle Spielarten institutioneller und finanzieller, Treuhand-bestimmter und selbst verschuldeter Nackenschläge und Fußangeln haben wir in dieser Zeit erfahren. Nicht alles davon war zu Beginn der Vorbereitungsarbeiten im Frühjahr 1990 absehbar, wohl aber schon, dass eine Mitarbeit an dieser Zeitschrift eine berufliche Karriere im vereinigten Deutschland nicht befördert.« Diese Zeilen schreibt er zu einem Zeitpunkt, als sein Ausschluss aus dem normalen wissenschaftlichen Beschäftigungsgefüge bereits definitiv ist. Den weiteren Weg der Zeitschrift verfolgt er mit kritischer Sympathie, auch wenn er in ihr kaum noch als Autor in Erscheinung tritt. Zwei Monate vor seinem Tod erfährt er, dass seine Gründung mit dem Heft 218 im Dezember 2008 ohne direkte Nachfolge das Erscheinen einstellt. Die Nachricht verdüstert seine letzten Lebenswochen. UTOPIE kreativ ist nun ein abgeschlossener Vorgang, aber zugleich eine Schatzkammer kluger Gedanken, eine bleibende Mitgift für die deutsche und europäische Linke. In Steiners Kalkül war die Zeitschrift ein Instrument neben vielen anderen, die alle einem größeren Zweck dienen sollten: der Neubelebung des Geistes und der Praxis kritischer Sozialwissenschaft in Deutschland, nicht als einer gerade noch geduldeten Enklave an den Rändern des offiziellen Wissenschaftssystems, sondern als einer von diesen Rändern ausgehenden Bewegung, die dem sozialwissenschaftlichen Denken eine neue gesellschaftskritische und gesellschaftsverändernde Vitalität verleiht. Nirgends hat er dieses Anliegen kompakter zum Ausdruck gebracht als in seinem 1998 geschriebenen Plädoyer für eine kritische Sozialwissenschaft, das über seinen Tod hinaus unvermindert aktuell ist: Nutzen wir die gegebenen Chancen! Tatsächliche und vermeintliche Opportunismen und Anpassungen der Etablierten einerseits sowie tatsächliche und vermeintliche Verbitterungen und fortwährende Dogmatismen der Ausgegrenzten andererseits sowie unterschiedliche wissenschaftliche und praktische Ost-West-Sozialisationen dürfen sich dabei nicht weiter wechselseitig behindern oder gar blockieren. Formieren wir uns gemeinsam als kritische SozialwissenschaftlerInnen, um unseren spezifischen Beitrag für eine kritische Öffentlichkeit in dieser Gesellschaft zu leisten.