Das Ergebnis der Wahlen für das Europaparlament war für Die Linke ein Desaster, das man zwar durchaus erwartet hatte, doch nicht unbedingt in diesem Ausmaß. Die Zahl der Stimmen hat sich halbiert. Rund eine Million Stimmen wanderten zu SPD und zum BSW. Dagegen gewann man nur wenig Stimmen von SPD und Grünen, worauf man gezielt hatte. Die noch vor Kurzem getroffene Annahme, dass sich das Stimmenpotenzial von Die Linke und BSW kaum überschneiden, hat sich als völlig falsch herausgestellt. Während auf der einen Seite die zahlreichen Eintritte zu Recht enthusiastisch begrüßt wurden, wurde auf der anderen Seite der Aderlass hin zum BSW unterschätzt. Die bevorstehenden Landtagswahlen im Osten der Republik werden das Desaster noch vertiefen. Es steht zu erwarten, dass das BSW Die Linke weit hinter sich lassen wird. Die zum Teil durchaus beachtlichen Ergebnisse auf kommunaler Ebene stellen zwar einen Hoffnungsschimmer dar, aber eben nur einen Schimmer.
Die Lage ist ernst. Sie muss in ihrem ganzen Ausmaß begriffen und selbstkritisch aufgearbeitet werden. Äußerungen, wonach man doch eigentlich alles richtiggemacht habe und man einfach mehr Zeit brauche, um das ramponierte Image wiederaufzupolieren, sowie Versuche, die Schuld vor allem Sahra Wagenknecht zuzuschieben, werden dem nicht gerecht. Das Ergebnis der Europawahl ebenso wie schon das der Bundestagswahl und die verlorenen Landtagswahlen verweisen auf grundlegende Probleme in der strategischen Ausrichtung und organisatorischen Verfassung der Partei. Bei der Europawahl hat sich gezeigt, dass das Abheben allein auf soziale Gerechtigkeit, so wichtig diese auch ist, nicht ausreicht, vor allem, wenn strittige Fragen wie die Friedensfrage nahezu ausgeklammert werden. Mit der Friedenfrage, die von Teilen Der Linken als Verliererfrage charakterisiert wird, hat das BSW Punkte gemacht. Die Aufstellung eines prominenten Spitzenteams hat längst nicht das gebracht, was sich die Parteiführung davon versprochen hatte. Hinzu kommt, dass es wichtig gewesen wäre, bei einem auf die soziale Frage fokussierten Wahlkampf gerade Gerhard Trabert stärker ins Zentrum zu rücken. Das ist nicht geschehen.
Vielfach wird die Forderung erhoben, dass Die Linke sich auch in programmatischer Hinsicht erneuern müsse. Es ist jedoch nicht nötig, das Erfurter Programm umzuschreiben. Es stellt m. E. immer noch eine gute Grundlage für ein linke, sozialistisch ausgerichtete Politik dar. Allerdings ist es nötig, die strategisch-politische Ausrichtung angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse neu zu bestimmen. Dies ist in den letzten vier Jahren versäumt worden. Nach der Strategiekonferenz in Kassel im Februar 2020 hat keine organisierte strategische Diskussion der Partei stattgefunden. Das rächt sich heute. Bevor man sich Gedanken darüber macht, was denn die Gewinnerthemen für zu definierende Wählergruppen sind, bedarf es einer Bestimmung dessen, was eine sozialistische Partei ausmacht, also des Profils der Partei Die Linke.
Linke Politik hat ihren Ausgangspunkt in den Widersprüchen der gesellschaftlichen Entwicklung, zu deren Überwindung sie beitragen will. Deshalb ist Voraussetzung jeder linken Politik die Analyse der realen Verhältnisse. Aus eben den gesellschaftlichen Widersprüchen leiten sich die politischen Eingriffspunkte ab. Im Grunde sind es zwei große Transformationsprozesse, die die Entwicklung bestimmen. Zum einen handelt es sich um die Transformation von Wirtschaft und Industrie vor dem Hintergrund der existenziellen ökologischen Herausforderungen, die zu einer grundlegenden Neubestimmung unserer Produktionsweise zwingen. Zum anderen handelt es sich um weitreichende geopolitische Veränderungen, wie sie insbesondere in den zunehmenden militärischen Konflikten und Kriegen in vielen Teilen der Welt zum Ausdruck kommen. Der Krieg in der Ukraine, der ohne jeden Zweifel in völkerrechtswidriger Weise von Russland begonnen wurde, und die militärische Auseinandersetzung im Gazastreifen, ausgelöst durch den barbarischen Überfall der Hamas, stehen im Vordergrund, doch darf man darüber die Kriege in anderen Teilen der Welt wie etwa im Jemen nicht vergessen. Es geht um den Kampf um globale Hegemonie. Die Welt ist vielfältiger geworden. Der globale Süden ist nicht länger bereit, die Dominanz des globalen Nordens zu akzeptieren. Damit bedarf es auch eines multipolaren Ansatzes in der Weltpolitik. Dafür sprechen sich auch immer mehr Länder aus, was etwa in der Erweiterung des Kreises der BRICS-Staaten zum Ausdruck kommt. Doch dies wird konterkariert durch eine zunehmende Blockkonfrontation, bei der die USA ihre bröckelnde Hegemonie gegenüber dem aufstrebenden China zu verteidigen suchen. Dazu bedienen sie sich der NATO. Und auch die Europäische Union unterwirft sich diesem Hegemoniestreben, anstatt eine eigenständige Position zu beziehen, die auf Kooperation und Entspannung ausgerichtet sein sollte. Es ist für eine linke sozialistisch ausgerichtete Partei geradezu von existenzieller Bedeutung, hier klare Positionen zu beziehen.
Der Friedensfrage kann man nicht ausweichen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, deren folgende Aussage auch heute noch Gültigkeit hat: „Der Militarismus, der für die Gesellschaft im ganzen eine ökonomisch völlig absurde Vergeudung ungeheurer Produktivkräfte darstellt, der für die Arbeiterklasse eine Herabsetzung ihres wirtschaftlichen Lebensmaßstabs zum Zwecke ihrer sozialen Versklavung bedeutet, bildet für die Kapitalistenklasse ökonomisch die glänzendste, unersetzliche Anlageart, wie gesellschaftlich und politisch die beste Stütze ihrer Klassenherrschaft.“ Das Hintanstellen der Friedensfrage hat sich als schwerer strategischer Fehler erwiesen. Dies wird damit begründet, dass die Partei und auch die Wählerschaft gespalten sei. Dies ist sicherlich zutreffend, doch rechtfertigt dies nicht die Vernachlässigung dieser Frage. Vielmehr wäre es notwendig gewesen, sich damit gründlich auseinanderzusetzen und zu versuchen, zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Einigkeit besteht sicherlich im Eintreten für Abrüstung. Das allerdings reicht nicht. Es muss auch darum gehen, von linker Seite deutlich die Ursachen und die wirtschafts- sowie gesellschaftspolitischen Zusammenhänge und Gründe für Aufrüstung, Militarisierung und Kriege deutlich zu machen. Und Einigkeit sollte auch darin bestehen, dass Kriege wie der in der Ukraine nicht militärisch, sondern nur auf dem Wege von Verhandlungen beendet werden können. Wir erleben gegenwärtig einen Militarismus, der die ganze Gesellschaft auch in kultureller Hinsicht durchzieht. Dem muss sich Die Linke entgegenstellen.