Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sind politisch eine Katastrophe. Sie zeugen von einem Rechtsruck, von einem in Teilen der Gesellschaft tief verankerten Autoritarismus, der mehr als nur eine Stimmung ist. Das Blatt in Ostdeutschland wieder zu wenden ist bei derart starken AfD-Ergebnissen, aber auch bei den hohen Zustimmungen zur Politik der CDU, eine Herkulesaufgabe. Insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund, Queers, Linke oder Gewerkschafter*innen wird das Leben in Sachsen schwerer.
Auch für die Partei Die Linke sind die Ergebnisse fürchterlich. Ihr Absturz ist kaum in Worte zu fassen. Für viele Menschen spielt sie keine Rolle mehr. Denn es gelingt ihr offenbar nicht, einen Anker der Hoffnung gegen die Verelendungspolitik der CDU und gegen den Faschismus der AfD zu bilden. Das Vertrauen, dass eine starke Linke die Verhältnisse grundlegend ändern könnte, ist verloren. Wollen wir das Blatt wenden, muss sich zuerst Die Linke verändern.
Das haben wir in den letzten Monaten in Leipzig Mitte-Ost versucht. Das Herzstück unserer Arbeit war ein partizipativer Wahlkampf auf der Grundlage systematischer Haustürgespräche. Dass wir damit Erfolg haben können, zeigt der Gewinn des Direktmandats mit fast 40 Prozent der Erststimmen. Zusammen mit dem von Juliane Nagel konnten wir so den Wiedereinzug Der Linken in den sächsischen Landtag sichern. Wir denken, dass sich aus den Erfahrungen, die wir in unserer Kampagne gesammelt haben, Lehren für die Zukunft unserer Partei ableiten lassen. Allerdings müssen wir uns eher früher als später dafür entscheiden, den Weg fortzusetzen, den wir eingeschlagen haben. Denn wollen wir bis zur Bundestagswahl als Partei wieder erstarken, drängt die Zeit – nicht nur im Osten.
Sicherlich unterscheidet sich die Ausgangslage in Leipzig von anderen Gebieten im Osten – insbesondere im ländlichen Raum und kleineren Städten – und in der gesamten Partei. Dennoch sind wir davon überzeugt, dass unsere Strategie auch über Leipzig hinaus anwendbar ist.
Politik grundsätzlich anders machen als alle anderen und an der Frustration und Ohnmacht der Menschen ansetzen
Wir sind angetreten mit der Überzeugung, dass wir Politik grundsätzlich ändern müssen. Die Linke hat nur Potenzial, wenn sie eine wirkliche Alternative zur herrschenden Politik und zum bestehenden System bietet. Wenn sie an der Ohnmacht und Frustration der Menschen ansetzen kann, die berechtigterweise das Gefühl haben, dass Politik nicht nur weit weg von ihnen stattfindet, sondern an vielen Stellen auch gegen sie gerichtet ist. Und wenn sie diese Ohnmacht und Frustration in produktive Wut und Aktivität verwandeln kann, die in der Lage ist, wirklich Veränderung zu bewirken.
Zu diesem Schluss kann man auf verschiedenen Wegen gelangen: Sei es über soziologische Forschung oder einfach, indem man – wie wir – mit sehr, sehr vielen Menschen persönlich spricht. 2022 stimmten in Sachsen 80,9 % der Menschen der Aussage zu: „Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“ (Decker u.a. 2023, 20). Fast jeder Dritte fühlt sich als „Mensch zweiter Klasse“ – abgehängt und stigmatisiert (ebd., 23). Dieses Gefühl ist kein Hirngespinst, sondern wurzelt in der ostdeutschen Geschichte und den Biografien der Menschen. Es hat reale Ursachen.
Setzt man das voraus, wird ein wesentliches Problem Der Linken in Sachsen – und im Osten – augenfällig: Die Linke hat nicht mehr den Charakter einer Anti-Establishment-Partei – obwohl sie hier immer in der Opposition war. Sie wird als Teil des Systems wahrgenommen, das sich der Logik der Sachzwänge und Verwaltung unterordnet, statt sich den realen Problemen der Menschen zu widmen. Demnach ist sie im Alltag vieler Menschen keine Ansprechpartnerin für die Wut, die Abgegessenheit, aber auch die Sehnsucht nach Veränderung. Obwohl doch genau das der Motor unserer Politik sein müsste.
Anders als alle anderen sein zu müssen (und zu wollen!), erwächst aber nicht nur aus der Krise unserer Partei. Es erwächst auch aus der Notwendigkeit, Wirtschaft und Gesellschaft grundsätzlich anders zu organisieren, um eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten zu ermöglichen, und aus der Tatsache, dass sich das nicht durch kluge Vorschläge allein, sondern vor allem durch massive gesellschaftliche Bewegung erreichen lässt. Diese Perspektive erfordert eine entsprechende Strategie: Wir wollen kein Teil des politischen Betriebs sein, wie er gerade ist. Im Gegenteil.
Daraus haben wir drei Kernpunkte für unsere Kampagne abgeleitet: Erstens die breite Verankerung in der Gesellschaft; zweitens Glaubwürdigkeit, mit der wir Vertrauen zurückgewinnen können; und drittens ein Angebot der Selbstwirksamkeit, das die Ohnmacht kontern kann.
Die Linke hat nur dann eine Chance, wenn sie eine systematische Verankerung in der Gesellschaft aufbaut
Wir müssen uns in der Art, wie wir handeln, viel weniger nach innen richten und nicht zum politischen Establishment sprechen – und stattdessen konsequent nach außen, zur Gesellschaft. Das gilt nicht nur für die Frage, wie wir im Parlament auftreten. Sondern es beginnt damit, uns systematisch eine Basis unter den arbeitenden Menschen aufzubauen und unsere Politik mit den tatsächlichen Anliegen der Menschen abzugleichen. Dazu müssen wir die Menschen aufsuchen und mit ihnen auf Augenhöhe reden. Das ist der erste Schritt, um uns zu verankern.
In unserer Kampagne haben wir uns deshalb zum Ziel gesetzt, mit möglichst allen Bewohner*innen unseres Wahlkreises mindestens einmal persönlich zu sprechen. Dafür haben wir im Februar 2024 zu einem ersten Aktiventreffen eingeladen, um schließlich im April das erste Mal an die Haustüren zu gehen. Von da an bis zum Wahltag am 1. September klingelten wir systematisch, Straße für Straße, an insgesamt 50.000 Haustüren – und somit bei praktisch allen, die im Wahlkreis Leipzig Mitte-Ost wohnen. Über 14.000 Türen wurden uns geöffnet.
Auf diese Weise haben wir mit Menschen gesprochen, mit denen wir sonst nie in Kontakt gekommen wären. Wir haben mit vielen Nachbar*innen gesprochen, die mit Der Linken oder Politik im Allgemeinen nichts zu tun haben. Wir haben uns darauf konzentriert, von den Anliegen und Problemen der Menschen zu erfahren. Jedes Gespräch begann mit der Frage, wie es den Menschen geht, und was sie in ihrem alltäglichen Leben gerne ändern würden. Die erstaunlichsten Gespräche führten wir mit den “Politikverdrossenen”. Oft waren die Leute überrascht, uns vor ihrer Tür anzutreffen, denn niemand ist es gewohnt, dass Parteien oder Politiker*innen sie aufsuchen, um mit ihnen zu sprechen. Normalerweise interessiert es niemanden, ob sie die Miete oder den Wocheneinkauf bezahlen können. Und dennoch, oder gerade deshalb, erzählten uns viele ihre Lebensgeschichten, trugen uns ihre Sorgen, aber auch ihre Wut vor. Wichtig war, dass wir in den für uns zentralen Gebieten früh angefangen haben und nicht erst drei Wochen vor der Wahl bei den Menschen aufgetaucht sind. Erst dadurch eröffnete sich bei vielen, die sonst nicht so aufgeschlossen gewesen wären, die Möglichkeit zum Gespräch.
Es ist kein Geheimnis, dass das persönliche Gespräch das effektivste Mittel ist, um Menschen tatsächlich zu bewegen. Das untermauert auch unser Wahlergebnis: Bei der Landtagswahl am 1. September 2024 holten wir 9.208 Listen- und 18.045 Erststimmen. Im Vergleich zu 2019 bedeutete das einen Zugewinn von 1.429 Listenstimmen und 9.400 Erststimmen. Bei der Europawahl am 9. Juni 2024 erhielt Die Linke in unserem Wahlkreis noch 6.259 Stimmen – ein Zugewinn von 50 Prozent in nur drei Monaten.
Für uns ist es entscheidend, die Haustürgespräche auch nach der Wahl fortzusetzen, weil wir mit all diesen Menschen weitermachen wollen. Nur so kann es gelingen, die Partei auch mittelfristig aufzubauen und zu stärken – als eine Kraft, die hilft, kämpft und in der Lage ist, tatsächlich Veränderung zu organisieren. Der eine Aspekt der Gespräche war also, die Menschen, ihre Geschichten und ihre Lebensräume wirklich kennenzulernen und sie in unsere Kampagne einzubinden. Der andere ist, dass wir ihre Erfahrungen als Grundlage unserer Politik verstehen. Die Gespräche wenden den Blick auf das Wesentliche; sie erden und vergegenwärtigen, wo wir als Sozialist*innen hingehören. Dies wird jetzt noch wichtiger für uns werden.
Im Konkreten Glaubwürdigkeit beweisen und Vertrauen erarbeiten
Wir müssen uns das Vertrauen der Menschen dadurch verdienen, dass wir ansprechbar sind und auf Augenhöhe bleiben. Sich nicht mehr mit der Resignation abzufinden und uns eine Chance zu geben, vielleicht Hoffnung zu haben, möglicherweise sogar aktiv zu werden: All das sind große Schritte für jede einzelne Person, die wir überzeugen wollen. Wenn uns das gelingen soll, müssen wir es anders machen als die anderen Parteien, nah dran und auf Augenhöhe sein. Wir halten es daher für zentral, dass Die Linke und vor allem ihre Mandatsträger*innen ihre Ressourcen und Zeit nutzen, um im Hier und Jetzt Hilfe anzubieten. Und wir wollen dort präsent sein, wo Menschen bereits gemeinsam kämpfen und Forderungen stellen: am Streikposten, in der Mietinitiative oder in sozialen Bewegungen.
Diese Art der Verankerung muss mehr für uns sein als eine bloße Absichtserklärung, sondern unsere Arbeit strukturell bestimmen. Sie muss spürbar und erfahrbar sein, im eigenen Leben, in der eigenen Nachbarschaft, abseits der „großen Politik” in dem, was wir vorpolitische Räume nennen. Wir haben deshalb an den Haustüren nie versprochen, was wir nicht halten können, aber das zugesichert, was in unserer Hand liegt. Die Schritte, die wir gegangen sind, sind im Prinzip sehr einfach, angelehnt an die Praxis der KPÖ in Österreich oder der belgische Arbeiterpartei PVDA-PTB.
Abgehobene Gehälter führen zu abgehobener Politik. Weil wir dies verhindern wollen, haben wir von Beginn an angekündigt, dass Nam Duy sein Gehalt als Abgeordneter auf 2.500 Euro monatlich deckeln wird. Denn er will sich weder räumlich noch durch seinen Lebensstandard von seinen Nachbar*innen entfernen. Dieses Versprechen hat uns auch bei manch skeptischem Menschen die Tür geöffnet. Um ansprechbar zu sein und konkret zu unterstützen, hat Nam Duy einmal pro Woche Sozialsprechstunden angeboten. Auch das werden wir jetzt fortführen.
Unterstützung und Gemeinschaft zu organisieren, ist für uns zentral. Viele Menschen berichteten, dass sie ihre Nachbar*innen nicht mehr kennen, dass sie sich allein und isoliert fühlen. Wollen wir gemeinsam Druck für Veränderung aufbauen, müssen wir im ersten Schritt überhaupt Gemeinsamkeit erzeugen. Dazu organisierten wir Mitte August ein großes Sommerfest, mit dem wir unsere Vision von Gemeinschaft in Zeiten der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung konkretisiert haben. 500 Menschen kamen, darunter viele, die normalerweise nicht zu Parteiveranstaltungen kommen würden. Für uns ist das der erste Schritt, sie einzubinden: junge Familien, kurdische und syrische Ladenbesitzer, Studierende und vor allem viele Kinder, die sich von Hüpfburg und Zauberer begeistern ließen. Das Sommerfest hat unsere Vision eines Leipzigs aufscheinen lassen, in dem wir gut und gerne leben. Und es war für uns auch ein erster Ausblick darauf, mit wem Die Linke in Zukunft in Kontakt sein sollte.
Natürlich war für unsere Kampagne auch wichtig, dass Nam Duy ein glaubwürdiger Kandidat “von unten” war – jemand, der aus der Nachbarschaft kommt und das Viertel kennt. Einer von uns, der in den Landtag einzieht, um dort unsere Anliegen und Erfahrungen einzubringen – als Deutschvietnamese in Sachsen aufgewachsen, ein Arbeiterkind, jemand, der Armut und Ausgrenzung genauso kennt wie viele der Menschen, mit denen wir gesprochen haben. Entscheidend war jedoch, dass wir eine Politik der Ehrlichkeit angeboten haben: Keine falschen Versprechungen, aber die aufrichtige Versicherung, dass wir die Interessen der Menschen gemeinsam mit ihnen erkämpfen wollen und dafür auch im Stadtteil aktiv bleiben. Das ist jetzt für alle überprüfbar. Jetzt müssen wir noch einen Schritt weitergehen: Diese Elemente sind die ersten Schritte, um den Menschen greifbar zu machen, was für eine Partei wir sein wollen. Um mittelfristig zu erstarken, müssen wir jedoch weitergehen. Wir müssen die Menschen in unsere Politik einbinden und ihnen Entscheidungsmacht anbieten.
Die Enttäuschung der Menschen mit Selbstwirksamkeit beantworten.
Eine Linke, die erstarken will, muss eine Antwort auf die Ohnmacht und Resignation finden. Will sie als sozialistische Kraft durchsetzungsfähig sein, muss sie Menschen in Bewegung versetzen. Für uns bedeutet das, dass wir unsere Rückkopplung in die Lebensrealitäten der lohnabhängigen Bevölkerung institutionalisieren müssen. Wir müssen Wege suchen, damit Menschen Einfluss auf unsere Politik nehmen und Ansprüche politisch geltend machen. Wir müssen Menschen immer wieder einladen, sich zu involvieren und mit uns gemeinsam Politik zu machen. Verschiedene Studien haben herausgearbeitet, dass das Erleben von Anerkennung, Wertschätzung und vor allem Selbstwirksamkeit entscheidend ist, um politischer Frustration und somit auch dem Nährboden für rechte Ressentiments etwas entgegensetzen zu können. Die Gewissheit, handlungsfähig zu sein, ist der einzig wirksame Weg, um der Ohnmacht zu begegnen. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, aber – so unsere Überzeugung – eigentlich für Sozialist*innen überall.
Die Menschen in Ostdeutschland haben über Jahrzehnte hinweg die Erfahrung gemacht, dass gesellschaftliche und politische Entwicklung ohne ihre Mitbestimmung stattfinden. Über die 1990er und 2000er Jahre hinweg rangen die Menschen in den neuen Bundesländern darum, Einfluss auf die Entwicklungen vor allem in der Arbeitswelt nehmen zu können. Aber ihre Ansprüche wurden zurückgedrängt, die Wendejahre und die Hartz-IV-Proteste waren für viele Ostdeutsche das Erleben von Niederlagen. Der Ausschluss von Mitbestimmung setzte sich anschließend vor allem in der Arbeitswelt fort, in der die Institutionalisierung von Betriebsräten und betrieblicher Mitbestimmung systematisch unterbunden wurde. Bis heute fühlen sich viele Menschen in verschiedenen vorpolitischen und politischen Räumen der Gesellschaft nicht gesehen oder wertgeschätzt. Viele schlagen daraufhin den Weg ein, entweder gar nicht zu wählen (in Sachsen rund ein Viertel aller Wahlberechtigten) oder Parteien zu wählen, die vermeintlich zum Anti-Establishment zählen, wie die AfD oder das BSW.
Den Menschen im Wahlkreis ein Angebot zu machen mitzubestimmen, war daher ein wichtiger Baustein unserer Kampagne. Die erste Phase unserer Haustürgespräche von April bis Juni haben wir allein darauf ausgerichtet, Anliegen und Forderungen von so vielen wie möglich zu sammeln. Im Juni dann luden wir die Menschen unseres Wahlkreises zu einer Stadtteilversammlung ein. Gemeinsam setzten wir die Punkte auf die Agenda, die sich in den Gesprächen als am wichtigsten herausgestellt haben: bezahlbare Mieten, ein leistbarer Wocheneinkauf und kostenloser, gut ausgebauter ÖPNV. Sie sollten den Fokus unserer Kampagne und unserer weiteren Arbeit darstellen.
Nach der Losung der belgischen Partei der Arbeit „Straße – Parlament – Straße“, setzen wir auch nach der Landtagswahl unsere Überlegungen fort, wie wir unsere Politik rückkoppeln und den Stadtteil einbinden können. Wir setzen bisher auf Sozialberatungen, Bürger*innensprechstunden, regelmäßige Stadtteilversammlungen und vor allem das Fortsetzen der Haustürgespräche – sowohl im Rahmen von Kampagnen als auch als stetige Praxis.
Indem wir gemeinsam aktiv werden, wollen wir unsere Leben in die eigene Hand nehmen. Es gibt auch im Osten Momente, an die wir anknüpfen können: Neben der Arbeit in der Nachbarschaft haben wir in den letzten Jahren gewerkschaftliche Aufbrüche erlebt. Es entsteht ein neues Selbstbewusstsein, das wir in die politische Sphäre tragen wollen.
Antirassistische Klassenpolitik: Wir halten das für möglich – und notwendig
Ausgehend von den Anliegen der Menschen in den Gesprächen haben wir in unserer Kampagne vor allem unmittelbare materielle Forderungen adressiert. Typische Klasseninteressen, könnte man meinen. Weil dieser Begriff und seine Bedeutung in unserer Partei kontrovers diskutiert werden, wollen wir an dieser Stelle deutlich machen: Die Sorgen um den Arbeitsplatz, um hohe Lebensmittelpreise oder Fahrtkosten in den Vordergrund zu stellen, heißt nicht, Fragen des Rassismus und des Rechtsrucks auszusparen. Im Gegenteil: wer das Gift des Rassismus nicht bekämpft, der wird keine kollektiven Lösungen finden. Was uns an den Haustüren erzählt wurde, war widersprüchlich. Trotzdem war es möglich, einerseits dem Rassismus und der Spaltung deutlich zu widersprechen und andererseits Gemeinsamkeiten zu finden. Das ist die Grundlage, an der wir ansetzen können.
Seit dem Attentat von Solingen nimmt der rassistische Diskurs und die Bereitschaft aller bürgerlichen Parteien, das Asylrecht zu verschärfen, weiter zu. Auch in Der Linken kam es zu einem Ringen, wie die soziale Frage mit anderen Formen der Unterdrückung zusammengebracht wird. Aber Die Linke darf sich nicht vom Rechtsruck mitreißen lassen: Die Arbeiter*innenklasse ist divers, und sie ist multiethnisch. Auch in Ostdeutschland, auch in Sachsen. Die Frage ist demnach nicht, ob wir Rassismus zum Thema machen, sondern wie wir es tun.
Wir haben in unserem Wahlkampf die Geschichte eines Deutschvietnamesen aus der Arbeiter*innenklasse erzählt und wir sind überzeugt, dass diese Kandidatur auch außerhalb Leipzigs auf fruchtbaren Boden gestoßen wäre, eben weil sie in den Fokus stellt, was viele Menschen miteinander teilen: Der Satz “Menschen wie ich kandidieren in Sachsen nicht” aus unserem Wahlkampf-Video bezieht sich nicht nur auf die Migrationsgeschichte, sondern auch auf die soziale Herkunft von Nam Duy. Ehemalige vietnamesische Vertragsarbeitende spielen in der sächsischen Politik kaum eine Rolle, das zu ändern ist auch unsere Aufgabe. Gleichzeitig ist die Geschichte von Nam Duys Eltern aber auch eine von unzähligen Geschichten von Menschen, die hart arbeiten, aber kaum etwas vom Wohlstand abbekommen. Das muss nicht mit einer Migrationsgeschichte einhergehen, sondern liegt einfach daran, dass sie Teil der arbeitenden Bevölkerung sind. Wir sollten selbstbewusst die Klassenfrage als eine multiethnische Frage behandeln. Unsere Erfahrung war, dass die Menschen an der Haustür sich sehr stark mit Nam Duys Geschichte identifizieren konnten – einfach, weil sie das dominierende Lebensgefühl, das er beschreibt, nur zu gut kennen.
Es gäbe noch so viel mehr zu sagen. Hier haben wir versucht, uns auf ein paar wesentliche Lehren aus den vergangenen Monaten zu beschränken. Wollen wir sie bis zur Bundestagswahl vervielfältigen, stehen wir unter Zeitdruck. Es gibt viel zu tun, und es gibt unzählige Herausforderungen. Aber wir haben auch gelernt, dass es möglich ist zu gewinnen. Insofern soll dieser Text eine Ermutigung und zugleich Einladung an alle Genoss*innen sein, gemeinsam zu diskutieren, wie wir als Linke wieder erstarken können. Krempeln wir die Ärmel hoch: Es ist Zeit, dass sich was dreht.