Im MTV sind die wesentlichen Rahmenbedingungen der Lohnarbeit mit Ausnahme des Grundlohns geregelt. Diese stellt der Unternehmensverband des Einzelhandels nun allesamt in Frage. Dass die Kapitalseite den MTV kündigt, ist eher ungewöhnlich, ver.di wertet dies als einen Angriff auf das bestehende Tarifsystem. Was steckt dahinter? Bereits im Jahr 2000 kündigte der HDE die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel, was in der Folge eine untertarifliche Bezahlung ermöglichte. Niedriglohnarbeit in der Branche stieg an und mittlerweile wird weder in West- noch in Ostdeutschland die Quote von 50 Prozent der Beschäftigten in Tarifbindung erreicht, die nach §5 Tarifvertragsgesetz für eine Allgemeinverbindlichkeit erforderlich ist. Nun will der HDE in der aktuellen Tarifrunde nach eigener Aussage Bedingungen schaffen, die für Einzelhandelsketten eine Rückkehr zur Tarifbindung attraktiv machen.1 Dazu will er Niedriglohngruppen einführen, beispielsweise für zentrale Tätigkeiten wie das Auffüllen von Regalen und Kassieren. Umgekehrt sollen einem Kern ausgebildeter Beschäftigter höhere Löhne gezahlt werden. Der Grund ist, dass eine reine Strategie der Niedriglöhne an ihre Grenzen stieß. Der HDE verfolgt nun das Ziel, mit einer tariflichen Regulierung die im letzten Jahrzehnt vollzogene Fragmentierung und Spaltung in Kern- und Randbelegschaft auch im Sinne einer Lohnspreizung tarifvertraglich zu zementieren und auf diese Weise für die Unternehmen kostenneutral zu gestalten. Diese Entwicklung, die nun Gegenstand der aktuellen Tarifrunde ist, will ich im Folgenden auch anhand eigener Erfahrungen in Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels (LEH) darstellen. Dass diese Zergliederung der Belegschaften bereits weit fortgeschritten ist, folglich nur noch im Tarif verankert und damit verallgemeinert und normalisiert werden soll, macht die Gegenwehr der Beschäftigten schwierig: Die Kräfteverhältnisse sind bereits verschoben.

Veränderungen in der Unternehmensstrategie

Wenige Unternehmensgruppen dominieren in Deutschland den LEH, die größte Teilbranche des Einzelhandels. Diese stehen auf einem bestenfalls stagnierenden, tendenziell sogar schrumpfenden Markt in intensiver Konkurrenz zueinander. Wachstum bedeutet Kampf um Marktanteile. Dieser Verdrängungswettbewerb wird über die Angebotsqualität und den Preis ausgetragen. Unternehmen vollziehen den Spagat, die Lohnkosten zu drücken und gleichzeitig die Abläufe im Markt zu sichern. Dies impliziert die Erwartung an die Angestellten, zu schlechteren Bedingungen möglichst immer bessere Arbeitsergebnisse zu erbringen. Die Aufkündigung der Allgemeinverbindlichkeit im Jahr 2000 ermöglichte eine untertarifliche Bezahlung und die Hartz-Gesetze schafften die entsprechenden Rahmenbedingungen: Der Zwang, Jobangebote im Wortsinn um jeden Preis anzunehmen, die Aufhebung der faktischen Stundenlohnuntergrenze bei Minijobs und die Möglichkeit, LeiharbeiterInnen billiger als vergleichbare ArbeiterInnen im Einsatzbetrieb zu bezahlen, sorgten für ein rasches Wachstum des Niedriglohnsektors. Der Arbeitsprozess wurde im LEH zunehmend fragmentiert, Vollzeitarbeitsplätze gingen zugunsten von Teilzeit sowie geringfügiger Beschäftigung zurück. Unternehmen setzten verstärkt auf Werkverträge mit Dienstleistungsfirmen, die sogar die Leiharbeitslöhne unterbieten. Momentan liegt der Bruttostundenlohn in der untersten Tarifgruppe bei 6,12 Euro in Ostdeutschland. Bei Werkverträgen mit Dienstleistungsfirmen handelt es sich sowohl um klassisches Outsourcing als auch um Scheinwerkverträge, also verdeckte ArbeitnehmerInnenüberlassung. Ein ausschließliches Niedriglohnkonzept ist jedoch für Unternehmen keine Option, zumindest nicht für die klassischen Supermärkte mit Bedienungstheken und großem Sortiment. Was von außen – und in vielen Darstellungen der Medien über Discounter – als einfache Jedefrau-Tätigkeit erscheint, ist tatsächlich komplex. So müssen die Angestellten unterschiedliche Tätigkeiten wie Bestellungen, Regale füllen, Warenannahme, KundInnenberatung, Lagerorganisation, flexibles Einspringen in anderen Abteilungen oder Wechseln zwischen Kasse und Laden unter Zeitdruck leisten und dabei gleichzeitig betriebswirtschaftliche Erwägungen berücksichtigen. Den KollegInnen stellt sich ihre Arbeit längst nicht als banal dar und auch die Unternehmen haben im Blick, dass Erfahrungswissen, soziale Bindung an den Betrieb und Ausbildung notwendig sind, um das doppelte Ziel niedriger Kosten und hoher Qualität zu erreichen. Die Realität widerspricht dem Bild der ungelernten Hire-and-Fire-Jobs deutlich: Der Anteil von Fachkräften an den Angestellten liegt konstant bei über 80 Prozent. Der Anteil Auszubildender an sozialversicherungspflichtig Angestellten steigt sogar tendenziell, und die Übernahmequote ist hoch.

Die Neuzusammensetzung der Belegschaften

Einerseits ist eine Entwicklung hin zu Niedriglöhnen, Aushilfstätigkeiten, Outsourcing und Fragmentierung der Belegschaft zu beobachten. Andererseits wird weiterhin an der Bedeutung von Ausbildung und Bindung Beschäftigter an den Betrieb festgehalten. Beide Tendenzen scheinen auf den ersten Blick schwer miteinander vereinbar, sie sind es aufgrund sich wandelnder Verhältnisse aber doch: Veränderte Rahmenbedingungen und Unternehmensstrategien haben in sehr kurzer Zeit nicht nur Belegschaftszusammensetzung, Arbeitsverträge und Arbeitsbeziehungen verändert, sondern auch die Arbeitsorganisation und die Art, wie die betriebliche Leitung auf das Arbeitsvermögen der Beschäftigten zugreift, was sich vor allem in der Trennung in Kernund Randbelegschaft zeigt. Die Anforderungen an die Kernbelegschaft steigen mit der Verlängerung der Öffnungszeiten, Arbeitszeiten von 6 bis 14 Uhr und von 14 bis 22 Uhr innerhalb einer Woche sind nichts Ungewöhnliches. Es wird zudem von allen Beschäftigten auch unterhalb der Marktleitung erwartet, dass sie sich verstärkt an betrieblichen Kennzahlen orientieren und neben der Sicherung der betrieblichen Abläufe auch die Rentabilität des Betriebs erhöhen. Indem der Kostendruck und die verlängerten Öffnungszeiten zu einer Ausdünnung der Belegschaft führen, steigen auch die Anforderungen, selbständig zwischen Aufgaben und Abteilungen hin und her zu springen. Wachsende Arbeitsbelastung ist also einerseits Folge einer niedrigeren Personaldecke, andererseits einer veränderten Zusammensetzung des Personals. Ein Teil der Tätigkeiten wird nun von Beschäftigten erledigt, die vor allem billig sein müssen, der so genannten Randbelegschaft. Da die Unternehmensleitung weder in ihre Qualifikation noch in ihre Zufriedenheit mit dem Job investiert, fluktuiert sie permanent. Sie wird vor allem dort eingesetzt, wo Tätigkeiten klar abgrenzbar und in ihrer Ausführung und ihrem Ergebnis kontrollierbar sind, also vor allem an den Kassen und beim Füllen der Regale. Dadurch entstehen Einarbeitungs-, Koordinations- und Kontrollaufgaben gegenüber Aushilfen und Beschäftigten von Leiharbeits- bzw. Personaldienstleistungsfirmen, die Kernbeschäftigte nun als weitere unbezahlte Zusatztätigkeit übernehmen. Die Fragmentierung der Beschäftigung bringt zunächst Unterschiede in Verträgen und Lohn sowie in Wochenarbeitszeit und Sicherheit des Arbeitsplatzes mit sich. Auch in der Arbeitsorganisation spiegelt sie sich wider. Die Arbeit der Kernbelegschaft wird mit anspruchsvollen und abwechslungsreichen Tätigkeiten angereichert, wodurch Druck und Arbeitsbelastung steigen. Die abgespaltenen Tätigkeiten, die einer Randbelegschaft zugewiesen werden, sind dagegen wenig fordernd und eintönig. WissenschaftlerInnen haben anhand von Untersuchungen zu Leiharbeit die Wirkung einer solchen Fragmentierung der Belegschaft häufig so gedeutet, dass sie den Festangestellten ihre jederzeitige Ersetzbarkeit vor Augen führe. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag erscheine nun als Privileg, das sie sich durch besonderen Einsatz zu verdienen hätten. Der Randbelegschaft wiederum werde die Möglichkeit des Aufstiegs in eine Festanstellung bei entsprechender Leistung suggeriert, so dass auf Basis des bestehenden Unterschieds in Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit beide Gruppen zu intensiverer Verausgabung ihrer Arbeitskraft angetrieben werden. Diese These basiert vor allem auf Untersuchungen in Industriebetrieben, in denen fest und prekär Beschäftigte tatsächlich die gleichen Tätigkeiten verrichten und die Willkürlichkeit dieser Unterscheidung offensichtlich ist (vgl. Dörre 2010). Die Fragmentierung im Lebensmitteleinzelhandel unterscheidet sich von Industriebetrieben dadurch, dass die Festangestellten und der um sie fluktuierende Rand tatsächlich auf verschiedene Weise in die Arbeitsorganisation des Betriebs integriert sind. Die Unterschiede in Entlohnung, Absicherung und Weiterbildungsmöglichkeiten erscheinen legitimiert durch die Unterschiede in der ausgeübten Tätigkeit. Niedrige Löhne der Randbelegschaft erlauben es dem Unternehmen, den Stammbeschäftigten bei Lohnhöhe oder Arbeitsintensität entgegenzukommen, ohne dass die Personalkosten insgesamt steigen. Zudem entlastet die Randbelegschaft die Festangestellten von unangenehmen Tätigkeiten, in begrenztem Umfang von unsozialen Arbeitszeiten, und auch das Risiko des Arbeitsplatzverlustes betrifft primär die Randbeschäftigten. Dadurch erscheint die entstandene informelle Hierarchie, die durch die arbeitsvertraglichen Anforderungen nicht gedeckt, gegenüber Angestellten der Werkvertragsfirmen sogar explizit ausgeschlossen ist, vielen Stammbeschäftigten nicht nur begründet, sondern auch wünschenswert. Dem für die Industrie beschriebenen Szenario der Belegschaftsspaltung durch Konkurrenz zwischen Stamm- und Randbeschäftigten lässt sich für den Lebensmitteleinzelhandel also tendenziell ein Szenario akzeptierter ›Normalität‹ gegenüberstellen. Einige Beschäftigte sind für diese Aufwertung ihrer Tätigkeit durchaus empfänglich. Unterstützt wird dies durch das Bild der Betriebsfamilie als konstruiertem ›Wir‹, das in internen Publikationen, der Rhetorik der Unternehmensleitung oder auch gemeinsamen Aktivitäten außerhalb der Arbeit hochgehalten wird. Die Akzeptanz dieser Entwicklung hat allerdings Grenzen: Erstens ist der Lohn im Vergleich zu anderer Facharbeit relativ niedrig, zudem verwehrt die Unternehmensleitung den Beschäftigten oftmals die (aus finanziellen Gründen) gewünschte Aufstockung der Arbeitszeit. Zweitens wirkt die zunehmende Verantwortung für die diversen Arbeitsabläufe Stress verstärkend, wenn verinnerlichte Rentabilitätsziele in Konflikt mit der Qualität der Arbeitsergebnisse kommen. Drittens stößt die Entgegensetzung einer leistungsorientierten, erfahrenen und Verantwortung tragenden Stammbelegschaft mit einer austauschbaren Randbelegschaft an Grenzen. Unabhängig von Firmenzugehörigkeit und Arbeitsvertragsverhältnis wird in den Filialen Seite an Seite gearbeitet, und neben der notwendigen Kooperation im Arbeitsablauf entstehen persönliche Kontakte. Das von Seiten der Stammbelegschaft durchaus auch instrumentelle Verhältnis zur Randbelegschaft wird dadurch immer wieder auf die Probe gestellt. Dass Arbeit im Kapitalismus als Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozess gleichzeitig Konkurrenz und Kooperation erzeugt und somit auch Quelle möglicher Solidarität zwischen den Arbeitenden sein kann, ist nichts Neues. Wichtig ist, wie dieses Verhältnis im konkreten Fall aussieht und wo sich gewerkschaftspolitisch ansetzen ließe.

Handlungsoptionen

Der Trend zur Aufspaltung der Belegschaften und umfassender, teils selektiver Verschlechterung von Löhnen und Arbeitsbedingungen war mit klassischer Gewerkschaftspolitik, Tarifrunden und Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Management bisher nicht aufzuhalten. Unternehmensgruppen und einzelne inhabergeführte Märkte waren nicht daran zu hindern, sich der Tarifbindung und der Zuständigkeit der bestehenden Betriebsräte zu entziehen. Erfahrungen aus Auseinandersetzungen im Einzelhandel zeigen, dass Erfolge auf der aktiven Beteiligung der Belegschaft basieren.2 Zentral für die Rückgewinnung von Handlungsfähigkeit scheint mir eine Selbstverständigung in den Filialen mit dem Ziel, die Kooperation und Solidarität über die unterschiedlichen Vertrags- und Arbeitsbedingungen hinweg zu stärken, füreinander einzustehen und grundsätzliches Verständnis für die je unterschiedlichen Lagen zu erreichen. Das bedeutet auch, eine Argumentation über Marktzwänge nicht zu akzeptieren: In einem Land mit einem solchen Produktivitätsniveau müssen existenzsichernde Löhne und nicht krank machende Arbeitsbedingungen für alle möglich sein. Darüber hinaus ist in einer Branche, in der die Durchsetzungsfähigkeit der Belegschaften auf längere Sicht eher gering sein wird, Unterstützung von außen notwendig. Die SchleckerKampagne in den 1990er Jahren ist ein erfolgreiches Beispiel dafür, wie die Gewerkschaft mittels externen Drucks im Rahmen von Koalitionen und Pressearbeit die Handlungsräume für die Gründung von Betriebsräten erweitert hat. Es ist wichtig, dabei am Selbstbild und den Vorstellungen der Beschäftigten anzusetzen, die eine anspruchsvolle und sinnvolle Arbeit leisten wollen, die entspannter ist, deren Bedingungen mehr Rücksicht auf private Lebenswünsche und -verpflichtungen nehmen, die allen Arbeitenden Zugang zu (wenigstens) Tariflöhnen und Vertragssicherheit bietet und die das Recht auf selbstbewusste Interessenvertretung beinhaltet. Auf dieser Ebene würden sich vermutlich Beschäftigte und UnterstützerInnen besser als gemeinsam Kämpfende erkennen als in einem ›Ihr-armen-Opfer-Diskurs‹. Dieser liegt jedoch verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Kampagnen zum Thema Arbeit zugrunde. Er ist zwar skandaltauglich und provoziert kurzfristig öffentliche Aufmerksamkeit, verstellt allerdings den Blick auf gemeinsame Lebenslagen und Zwänge. Er entmündigt auch die eigentlichen Subjekte der Kampagne, die sich auf diese Weise kaum als Handelnde angesprochen fühlen. Diese beiden Überlegungen treffen sich in verschiedener Hinsicht. Entscheidend ist nicht stellvertretendes Handeln von außen für die Beschäftigten, sondern eine Unterstützung ihrer Selbsttätigkeit und Selbstorganisation. Über das Konzept eines Rechts auf ein gutes Leben für alle ist eine Verallgemeinerung der Konfliktführung über Vertrags-, Unternehmensoder Branchengrenzen hinaus möglich. Dabei ist der Zwang, unter Konkurrenzbedingungen profitabel sein zu müssen, etwas, was die Kompromissfähigkeit der je einzelnen Unternehmen begrenzt. Wenn etwa die Hartz-Gesetze als Voraussetzung eines Niedriglohnsektors die Konkurrenzposition für Unternehmen gefährden, die Tariflöhne zahlen, muss diese politische Rahmenbedingung angegriffen werden. Gleiches gilt etwa für Vorgaben einer Unternehmenszentrale oder den in der kapitalistischen Ökonomie verankerten Akkumulationszwang selbst. Ein Agieren auf dieser Ebene allerdings übersteigt tatsächlich die Möglichkeiten der einzelnen Belegschaft. Zu Ende gedacht, haben betriebliche Kämpfe nur als Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen eine Chance. Das kann und muss in dieser Tarifrunde, die sich vermutlich lange hinziehen wird, geübt werden.  

Literatur

Dörre, Klaus, 2010: Landnahme und soziale Klassen. Zur Relevanz sekundärer Ausbeutung, in: Hans-Günter Thien (Hg.), Klassen im Postfordismus, Münster Thamheyn, Bärbel, und Katharina Wesenick, 2013: Vertrauen ist gut Vertrag ist besser, in: ver.di, Schöne neue Handelswelt, Berlin, o.S.

Anmerkungen

1 www.einzelhandel.de/index.php/presse/aktuellemeldungen/item/122500-handel-fordert-modernisierung-dertarifverträge.html 2 Beispielhaft ist der Konflikt um die Beibehaltung der Tarifbindung in einem an einen Inhaber übertragenen E-Center in Bad Gandersheim (Niedersachsen); vgl. dazu Thamheyn (2013)