Die internationale Presse hat die Wahlergebnisse so interpretiert, dass die Wirtschaftskrise, die Europa plagt, die WählerInnen in zwei „extreme“ Richtungen getrieben habe: zur Ultrarechten und zur radikalen Linken. Diese Bewertung ist vor allem bequem für die europäischen Eliten, deren Schwindeleien verantwortlich für den Zerfall Europas sind. Für sie ist dies der Beweis, dass sie, trotz einiger „Irrtümer“, den Pfad der goldenen Mitte beschreiten, während einige WählerInnen rechts und links vom rechten Weg abkommen. Und sie hoffen, dass, sobald es wieder mehr Wachstum gibt, die Abtrünnigen zurückkehren werden. Dies ist eine Fehlinterpretation der derzeitigen ökonomischen und politischen Realität. Die EuropäerInnen wurden nicht von zwei Extremen verführt. Sie drifteten zu einem Extrem: dem der rassistischen, xenophoben, anti-europäischen Rechten. Extreme anti-europäische linke Parteien verzeichneten nirgendwo in Europa einen Anstieg ihrer Wählerschaft. Seit nunmehr vier Jahren sind europäische Institutionen das Feld, auf dem Inkompetenz und Tücke miteinander um den Preis für die unauffälligste Verschleierung der Wahrheit konkurrieren: dass nämlich (a) die Konstruktion der Eurozone fehlerhaft war; und dass (b), die Eliten, sobald die nicht enden wollende Krise begonnen hatte, nurmehr daran interessiert waren, Bankverluste umzuschichten von den Vermögensbüchern der Banken auf die Schultern der schwächeren BürgerInnen. Wenn der Finanzsektor stabilisiert wurde, so liegt das an einer Kombination massiver Zentralbankliquidität und strikter Sparpolitik. Das hat die Banker geschützt (ohne die Banken zu säubern) und viele der geplatzten Blasen wieder aufgebläht. Und zwar unter Hinnahme massiver Schäden für Europas Realwirtschaft, das soziale Gefüge und die Demokratien. Die interessante Frage ist jedoch: Warum hat die Linke nicht profitiert von den Prüfungen und Widrigkeiten des neoliberalen Designs der Eurozone und von der großen Pein, die der Mehrheit durch die neoliberalen „Arzneien“ auferlegt wird? Der offensichtliche Grund ist, dass Europas „offizielle“ Linke vor 2008 große Energie darein investiert hat, von der neoliberalen Kabale, die die fehlerhafte Eurozonen-Architektur entworfen hat, kooptiert zu werden. Nach 2008, als das neoliberale Design zu bröckeln anfing, wichen Parteien sozialdemokratischer Tradition nicht ab von ihrer enthusiastischen Rolle als Durchsetzer rücksichtsloser reaktionärer Wirtschaftspolitiken. Es ist daher kein Wunder, dass sie an den Wahlurnen den Preis dafür zahlen. Die Griechische Sozialistische Partei, deren Regierung sich um den ersten Euro-Rettungsschirm bemüht und ihn gefeiert hat - der dann zum Vorbild wurde für die Rettungsschirme für Irland und Portugal, ganz zu schweigen von der steuerlichen Zwangsjacke und den Arbeitsmarktreformen, die andernorts folgten, besonders in Spanien und Italien – schrumpfte von 43 Prozent der Wählerstimmen auf weniger als acht Prozent. Spaniens PSOE und die Portugiesischen Sozialisten wurden auf ähnliche Weise zu Brei gemacht von einer enttäuschten Wählerschaft, die sich weigert für sie zu stimmen, obwohl die konservativen Regierungen, die 2011 übernommen haben, noch verhasster sind. Irlands Labour Partei ist verpönt wegen der Legitimierung der ausverkaufsartigen Plünderung des Irischen Volkes durch skrupellose Europäische Banker und unter der brutalen Aufsicht von EZB und Troika. Hollands sozialdemokratische Partei, Erfinderin des „Poldermodells“ und Garantin der niederländischen Sozialdemokratie seit 50 Jahren, dümpelt dahin bei 10 Prozent der Wählerstimmen. Die Sozialdemokraten Österreichs und Deutschlands sind ähnlich unfähig, sich gegen selbst-zerstörerische Sparmaßnahmen oder in ernsthafter Verteidigung ihrer Anhängerschaft zu äußern. Was die französischen Sozialisten angeht, so ist es besser, so wenige Worte wie möglich zu verlieren. Nachdem Herr Hollande einen europäischen New Deal gefordert hatte, kapitulierte er vor Frau Merkel schneller, als jemand „Fiskalpakt“ sagen konnte. Am Tag nachdem seine Partei bei den Europawahlen 2014 jämmerliche 15 Prozent der Stimmen geholt hatte – gegenüber den besorgniserregenden 25 Prozent des Front National – versprach Herr Hollandes Premierminister tragischerweise Steuernachlässe, vor einem Publikum erstaunter Sozialisten. Wie dem auch sei, bleibt die Frage: Warum? Wie erklärt sich der Abrutsch von Europas Sozialdemokratie in die reaktionäre Politik und damit ins Vergessen? Meine Antwort lautet, dass irgendwann in den 1990ern Europas „offizielle“ sozialdemokratische Linke in die Falle tappte zu glauben, dass der Wohlfahrtsstaat nicht länger der Finanzierung durch einen Teil jener Profite bedürfe, die durch politische Mittel von Industrie und Handel abgeschöpft werden. Sie glaubten, sie könnten den Wohlfahrtsstaat stattdessen finanzieren durch ein Anzapfen der Ströme von privat geprägtem Geld, das der Finanzsektor druckte (während Lohnarbeit ausgepresst wurde und Immobilienpreise boomten). Lieber als immerzu in Konflikt zu geraten mit Industriellen und Händlern, um ihnen einen Anteil ihrer Profite zu entziehen, glaubten sozialdemokratische Regierungsparteien an einen faustischen Handel mit den Financiers schlagen zu können, der (a) mehr Gelder für Sozialprogramme abwerfen, (b) ihr konflikthaftes Verhältnis mit der Industrie beenden und (c) es ihnen erlauben würde, mit den Reichen und Mächtigen zu klüngeln, und trotzdem öffentliche Krankenhäuser, Schulen, Arbeitslos, Kunst und Kultur großzügig finanzieren zu können. Ein Traum schien wahr zu werden für die Männer in Anzügen, die zwar die Arbeiterklasse nicht sich selbst überlassen wollten, aber schon längst genug hatten vom Klassenkampf. Ein faustischer Handel kommt jedoch mit Klauseln, die in Blut geschriebenen sind. Europas Sozialdemokraten, gelockt von der Kakophonie der Geldmacherei im Finanzsektor, eingelullt durch den Mythos einer „Großen Moderation“ und erregt von der mystischen Vorstellung eines „risikolosen Risikos“, erklärten sich dazu bereit, die Finanzwelt nach Belieben agieren zu lassen im Austausch für Zuwendungen zur Stütze von Wohlfahrtsstaaten, die Relikte längst vergangener Nachkriegs-Sozialverträge waren. Das also war das Spiel der Sozialdemokraten. Dies schien ihnen eine bessere und fassbarere Idee zu sein als andauernde Konflikte mit Industriellen um Besteuerung zwecks Umverteilung. Eine angenehme Beziehung mit Bankern fanden sie im Gegensatz dazu flexibler und entspannter. Und so lang die „linken“ Politiker sie nach Gutdünken agieren ließen, überließen ihnen die Finanziers gerne ein paar Krümel ihrer gigantischen Mahlzeit. Um jedoch an diese Krümel zu kommen, mussten Sozialdemokraten die Logik der Finanzialisierung mit Stumpf und Stiel schlucken, inklusive des neoliberalen Designs der Eurozone. Und daher hatte Europas sozialdemokratische Seite der Politik auch weder die analytischen Werkzeuge noch das moralische Oeuvre, um das kollabierende System einer genauen kritischen Prüfung zu unterziehen, als die Tsunamis des von der Wall Street, der City und Frankfurt produzierten Kapitals sich in Luft auflösten. Sie waren somit prädestiniert dazu, sich zu ergeben und komplett zu kapitulieren angesichts der giftigen Arzneien (u.a. „Rettungsschirme“), deren Zweck es war, die arbeitende Bevölkerung, Arbeitslose und Schwache auf dem Altar der Finanziers zu opfern. Sie meldeten sich sogar freiwillig um die „notwendigen“ grausamen Politiken umzusetzen, wie um zu verdrängen, dass sie einen faustischen Handel eingegangen waren, der ihren Niedergang bedeuten würde. Die europäische Sozialdemokratie kann ihren historischen analytischen Irrtum von vor 2008 und ihre Komplizenschaft bei der organisierten Misanthropie nach 2008 nicht überleben. Gleichzeitig kann Europa nicht gerettet werden ohne die Wiederbelebung einer Linken, die fähig ist, die Konstruktion der Eurozone einer kritischen Analyse zu unterwerfen. Sollte es einer wiedererstarkten Linken nicht gelingen, EuropäerInnen dazu zu bewegen die toxischen Politiken, die den Angelpunkt von Europas Dekonstruktion bilden, herauszufordern, werden Rassismus, Nationalismus und ein aufkommendes Regime, dass ich Bankruptocracy nenne, die einzigen Gewinner sein. Aus dem Englischen von Anna Müssener Zurück zum GRIECHENLAND-SPECIAL