Wer wie wir keine Wahlinteressen hat, ist in der besten Position, um die große Wichtigkeit der Wahlen zum Europaparlament 2014 für Europa zu erkennen. Es ist leicht, in den meisten betroffenen Ländern eine hohe Wahlenthaltung und eine signifikante Stärkung der „euroskeptischen“ Kräfte vorherzusehen, die vereint sind in ihrer Rhetorik über die Rückkehr zur „nationalen Souveränität“, der Feindschaft zum Euro und zu den „Technokraten in Brüssel“. Für uns ist das nichts Gutes.

Wir sind schon länger überzeugt, dass das Europa Realität ist, dass die Integration mittlerweile normativ, machtpolitisch und kapitalistisch die Schwelle zur Irreversibilität überschritten hat. In der Krise hat die allgemeine Angliederung der Mächte um das Zentrum EZB und das, was „Exekutivföderalismus“ genannt wird, die Richtung des Integrationsprozesses gewiss verändert – mehr aber nicht. Die Subjekte der europäischen Macht stellen die Fortsetzung der Integration nicht zur Diskussion. Auch der Euro als einzige Währung scheint durch die Perspektive der Bankenunion gesichert. Zwar ist es notwendig, gegen die Gewalt zu protestieren, mit der sie das kapitalistische Kommando ausdrückt. Eine Rückkehr zu den nationalen Währungen herbeizusehnen bedeutet jedoch, nicht zu verstehen, was heute das Feld ist, auf dem sich die Klassenauseinandersetzung abspielt. Gewiss, Europa ist heute ein „deutsches Europa“, dessen ökonomische und politische Geografie entlang bestimmter Kräfteverhältnisse und Abhängigkeiten reorganisiert wird, die sich auch auf der monetären Ebene ausdrücken. Aber nur der neoliberale Zauber bringt uns dazu, die Unumkehrbarkeit des Integrationsprozesses mit der Unmöglichkeit zu verwechseln, dessen Inhalte und Richtungen zu verändern und innerhalb des europäischen Raums die Kraft und den Reichtum einer neuen konstituierenden Hypothese bzw. strategischen Option in Gang zu setzen. Dieser Zauber ist in Italien verstärkt worden durch die wahrliche Verfassungsdiktatur, unter der wir leben; ihn zu brechen heißt heute, den europäischen Raum als Feld des Kampfes, des Experimentierens und der politischen Erfindung wieder zu entdecken: Als Feld, auf dem die neue Gesellschaftszusammensetzung aus ArbeiterInnen und Armen möglicherweise eine Perspektive der politischen Organisation eröffnet. Gewiss, auf europäischer Ebene zu kämpfen, das hätte die Möglichkeit, die neue kapitalistische Akkumulation direkt zu treffen. Und schon jetzt kann man nur auf europäischer Ebene die Fragen von Lohn und Einkommen, die Festlegung von Rechten und des Umfangs des Sozialstaats, das Thema der Verfassungsänderungen innerhalb der einzelnen Länder und die Frage der europäischen Verfassung aufwerfen. Heute gibt es außerhalb dieses Feldes keinen politischen Realismus. Uns scheint, dass die rechten Kräfte schon lange verstanden haben, dass die Unumkehrbarkeit der Integration heute die Grenzlinie dessen markiert, was politisch denk- und machbar ist. Rund um die strategische Option der substantiellen Vertiefung des Neoliberalismus hat sich nun ein hegemonialer Block organisiert, der in seinem Inneren auch stark heterogene Varianten umfasst - von den nicht nur taktischen Öffnungen Angela Merkels in Richtung sozialdemokratischer Optionen bis hin zum repressiv-gewalttätigen und konservativen Druck des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Die selben rechten Kräfte die sich als „Anti-Europäer“ präsentieren, setzen auf europäischer Ebene auf diese Option mit dem Ziel, die in der Verfassung der EU durchaus vorhandenen Bereiche nationaler Autonomie auszuweiten und demagogisch die Ressentiments und die Wut aufzugreifen, die nach Jahren der Krise in breiten Bevölkerungsteilen existiert. Der Bezug zur Nation zeigt hier, was er ist: Die Verwandlung eines Ohnmachtsgefühls in eine xenophobe Aggression und die Verteidigung von Einzelinteressen, die als Träger einer „Schicksalsgemeinschaft“ imaginiert werden. Hingegen tut sich die sozialistische Linke auch dort schwer, wo sie nicht direkt Teil des hegemonialen neoliberalen Blocks ist, sich auf effektive Weise abzugrenzen und programmatische Vorschläge von klar innovativen Zielen auszuarbeiten. Die Kandidatur von Alexis Tsipras, Leader von Syriza, für das Amt des Europäischen Kommissionspräsidenten ist in dieser Situation zweifellos von großer Bedeutung und hat in vielen Ländern eine positive Öffnung der linken Debatte nach sich gezogen, auch wenn in anderen (vor allem in Italien) die Interessen von kleinen Gruppen und „Parteien“ vorzuherrschen scheinen, welche unfähig sind, einen voll und ganz europäischen politischen Diskurs zu entwickeln. Wenn die Dinge so sind, warum erscheinen uns die Europawahlen im nächsten Mai dann wichtig? In erster Linie weil sowohl die relative Stärkung der Befugnisse des Parlaments als auch die Aufstellung eines Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft von Seiten der Parteien aus der Wahlkampagne einen Moment europäischer Debatte machen, in der die unterschiedlichen Kräfte gezwungen sind, den Entwurf eines europäischen politischen Programmes zu definieren und zumindest darzulegen. Uns scheint daher, dass sich hier für all jene die Gelegenheit einer politischen Intervention bietet, die sowohl für den Bruch des neoliberalen Zaubers als auch gegen jene kämpft, für die als einzig mögliche Opposition zur gegenwärtigen Form der Europäischen Union der anti-europäische „Populismus“ gilt. Wir schließen nicht grundsätzlich aus, dass sich dabei GesprächspartnerInnen zwischen den Kräften finden könnte, die sich auf dem Feld politischer Wahlen bewegen. Aber wir denken vor allem an eine Intervention der Bewegung, die fähig ist, sich im Inneren jener Kämpfe zu verwurzeln, die sich in den letzten Monaten in verschiedenen Formen in vielen europäischen Ländern entwickelt haben (und auch Deutschland mit bedeutender Intensität erfasst hat). Ausschlaggebend ist heute die Wiederherstellung eines programmatischen Diskurses. Das ist nur innerhalb des europäischen Raums und gegen diesen möglich. Es liegt heute nicht an, möglicherweise im Schatten irgendeiner Mistgabel die „technische Klassenzusammensetzung“ in messianischer Erwartung der adäquaten „politischen Zusammensetzung“ soziologisch zu ermitteln. So wie man heute nicht erwarten kann, dass sich siegreiche Klassenbewegungen ergeben, die die europäische Dimension nicht verinnerlicht hätten. Es wäre nicht das erste Mal auch in der jungen Geschichte der Kämpfe, dass so manche Bewegungen genötigt wären, sich an die sich ändernden politischen Rahmenbedingungen anzupassen. Es geht darum, einen allgemeinen Horizont der Veränderung zu schaffen, gemeinschaftlich eine neue politische Grammatik und ein Ensemble programmatischer Elemente auszuarbeiten, die Kraft und Macht aus dem Inneren der Kämpfe schöpfen und sich jenen Entgleisungen entgegenstellen können, die wir in den letzten Wochen in Italien gesehen haben und deren vereinigendes Symbol nicht zufällig die Trikolore war. Hier und heute erscheint uns Europa als der einzige Raum, in dem dies möglich ist. Ein Punkt ist für uns besonders wichtig. Die Gewalt der Krise wird noch lange ihre Wirkung zeigen. Am Horizont ist nicht der „Aufschwung“, wenn wir mit Aufschwung einen signifikanten Rückgang der Arbeitslosigkeit, die Reduktion der Prekarität und eine relative Wiederangleichung der Einkommen verstehen. Die prekäre Einigung zum Mindestlohn in Deutschland könnte – nach Geometrie und Geografie variabel – als allgemeine Referenz für die Ausformulierung eines Szenarios relativer kapitalistischer Stabilität in Europa fungieren. Es ist ein Szenario, nicht die aktuelle Realität, und es ist ein Szenario von nur relativer kapitalistischer Stabilität, das die Verbreitung und Intensivierung der Prekarität, der Mobilität im Inneren des europäischen Raums und von außerhalb, die Deklassierung erheblicher Teile der kognitiven Arbeit und die Formierung von neuen Hierarchien berücksichtigen muss. Innerhalb dieses Szenarios heißt es natürlich, die Eigenheiten der sich entwickelnden Kämpfe zu berücksichtigen, ihre Unterschiede zu analysieren und ihre Wirksamkeit in politischen, sozialen und territorialen Kontexten abzuschätzen. Aber es geht auch um das Problem der Art und Weise, in der die Kämpfe zusammenlaufen und sich ihre „lokalen“ Potenzen innerhalb eines europäischen Rahmens multiplizieren können. Die Skizzierung von neuen programmatischen Elementen kann inzwischen die Form einer kollektiven Charta einer Reihe von unabdingbaren Prinzipien annehmen, für die Bereiche des Sozialsystems als auch der Arbeit, der Finanzen und der Mobilität, der Lebensweisen und der Prekarität und für alle Bereiche, in denen die Bewegungen in Europa sich äußern. Es ist keine Charta von Rechten, die von unten geschrieben werden und irgendeiner Institution vorgelegt werden, an die wir denken: Es ist vielmehr eine kollektive Aufgabe der programmatischen Definition, die – wie die Ausarbeitung der „Charta von Lampedusa“ in diesen Wochen für Migration und Asyl zu zeigen beginnt – ein Instrument der Selbstorganisierung auf europäischer Ebene werden kann.   Übersetzung: Andreas Fink