Musik spielt seit jeher eine wichtige Rolle in Kampagnen und Wahlkämpfen. In den USA wählen die Präsidentschaftskandidat*innen Lieder, die sie zu Mottosongs ihrer Kampagnen machen. „Born in the USA“ von Bruce Springsteen, das die Präsidentschaftskampagne Ronald Reagans 1984 begleitete, ist das prominenteste Beispiel für kraftstrotzend gesungenen Patriotismus. Hillary Clinton setzte verschiedene Songs ein, um sich als hart arbeitende Frau nach dem American Dream zu inszenieren, dazu „You and I“ gesungen von Celine Dion für die persönliche Bindung zum Publikum. Bündnis90/Die Grünen haben nun zur Bundestagswahl ihren Wahlwerbespot in Form eines Songs vorgelegt, der auf den ersten und auch den zweiten Blick eher gruselig daherkommt. Dies liegt nicht in erster Linie daran, dass Melodie und Text im Spot nicht von einem professionellen Pop- oder Schlagersänger, sondern von Laien vorgetragen werden. Unter dem Titel „Ein schöner Land“, das alte Volkslied von 1840 „Kein schöner Land“ umgedichtet, werden die Wahlkampfslogans und Forderungen gesungen: „ein schöner Land in dieser Zeit. Es regt sich Aufbruch weit und breit, auf neuen Wegen, bleiben nicht stehen […] Müssen uns’re Erde wah’rn, für’s Leben wird es hier zu warm. Kämpfen für’s Klima, Kurzstreckenflieger und meine Farm. Anschluss an Straße, Bus und Bahn und natürlich auch W-lan […]“ So plätschert das circa anderthalb Minuten, am Ende treten Annalena Baerbock und Robert Habeck gemeinsam auf, sprechen ihre Verse allerdings, anstatt sie zu singen. [embed]https://www.youtube.com/watch?v=Em_WUdK5WKI[/embed] Jedem Sänger oder Gruppe von Sänger*innen ist dabei eine Line/Vers oder Bruchteile davon zugeordnet, im Gesamten ergeben sie eine Collage. Man sieht diverse Personen aller Hautfarben und jeden Alters, bei verschiedenen Tätigkeiten, sogar einen Priester und die Fernsehköchin Sarah Wiener, die kratzig „und meine Farm“ singt. Diese Zergliederung des Liedes in kleine Portionen, die von unterschiedlichen Menschen dargeboten werden, führt zu Brüchen, stimmlich, musikalisch und die Tonalität betreffend. Und genau das macht den Spot so merkwürdig. „Cringe“ (auf deutsch "Peinlich-berührt-Sein", "Vor Fremdscham erschaudern") ist ein häufiger Kommentar aus der Jugendsprache, den man im Internet zum Grünen-Spot findet. Dadurch wird er allerdings merk-würdig. Die Inszenierung mit Laiensängern, Menschen wie du und ich, die sich trauen zu singen, stellt den Spot in Kontrast zu den professionell produzierten Kampagnenspots anderer Parteien, die sich eher an Trailern zu Blockbustern, Krimis oder Thrillern orientieren. Im Vergleich dazu entwirft der Grünen-Spot ein Lalaland, hat eine langsame, dem Rhythmus des Liedes „kein schöner Land“ folgende Erzählweise. Bisweilen muss man schmunzeln, bisweilen ist man beschämt und am Ende summt man mit: „und auch W-Lan…“ Die professionelle Inszenierung des Laienhaften kann als Zitat des legendären Wahlkampffilmchens der Grünen zur Bundestagswahl 1980 gewertet werden. Dieser beginnt damit, dass im Kontrast zum betonlastigen Bonner Regierungsviertel, das auch für die zugemauerte Politikerkaste steht, die Grünen-Wahlkämpfer*innen in einem offenen Haus von interessierten Bürger*innen besucht werden. „Das sind noch Menschen wie du und ich, Annegret“, sagt ein Opa zu seiner Enkelin. Besagter Großvater erklärt dem Kind dann auch, weshalb die Flüsse verseucht seien und was die Grünen dagegen täten. Die Perspektive am Ende: sich in Bürgerinitiativen wehren, aber die Partei müsse nun auch in alle Parlamente, um dort eine kritische Opposition zu stellen. [embed]https://youtu.be/xneyaec2MNc[/embed] In etwa dies: Jede*r kriegt, was sie oder er möchte, nichts muss sich wirklich ändern, alles wird gut – und dafür muss man Grün wählen. „Auch du bist hier gemeint“, trällert eine Gruppe weißer Menschen am Grill im beschaulichen Garten eines Einfamilienhauses. Auf dem Grill liegt Vegetarisches – und: Würstchen. Ein winziges Detail, aber angesichts erhitzter Debatten darüber, ob jetzt Currywurst vom Speiseplan von VW verschwinden solle oder nicht, ein Detail wie ein eigener Werbesong, eine Mischung aus dem „Du darfst“ und „Ich will so bleiben wie ich bin!“. Die Zielgruppe des Videos sind nicht junge Fridays-for-Future Aktivist*innen, sondern offensichtlich die ältere Generation – vor allem enttäuschte CDU-Wähler*innen, die es als Partei mit Kanzlerinnenanspruch abzuwerben gilt. Der gesamte Spot zitiert Attribute, die mit den Grünen verknüpft werden, und ist gleichzeitig ein Angriff auf die CDU, um ihnen Wähler abspenstig zu machen, die keine Aufregung und keine groß angelegte Veränderung wollen, aber von den Pannen eines Armin Laschet enttäuscht sind. Der Vorwurf des Cringe läuft also auf den dritten Blick einfach ins Leere. Mit dem Video soll gar niemand überzeugt werden, der das Wort selbst benutzen oder auch nur verstehen würde. Es ist, als wollten die Grünen mit diesem Spot die These vom Aufschwung der Grünen als einer „Erneuerungsbewegung im bürgerlich-liberalen Feld“, die sich wunderbar mit Teilen der CDU-Positionen verträgt, in bewegte Bilder mit musikalischer Untermalung gießen. Man könnte auch sagen, es ist der Soundtrack für den grün-schwarzen Flirt, der das grüne Herz so richtig höher schlagen lässt, seitdem „der Robert und die Annalena“ am Ruder sind. Alles ist leicht mit den Grünen, alles macht sich von selbst, wenn die Grünen erst in Verantwortung sind: #bereitweilihresseid ist der Hashtag zur Wahlkampagne, #bereitzuregierenumjedenpreis würde es auch treffen. Und dennoch ist es ein Drahtseilakt für die Grünen. Die Inszenierungsweise wird bei Fridays-for-Future-Aktivist*innen und dem Teil der jüngeren Generation, die sich eher dem Slogan „System Change not Climate Change“ verschreibt, nicht fruchten. Das kann bedeuten, dass sie sich dieser Stimmen bereits sicher sind oder davon ausgehen, dass diese doch durch die heile Welt des Friede, Freude, Eierkuchen in warmen Farbtönen und Weichzeichner eingelullt werden könnten. Die Dringlichkeit und Existenz sozialer Kämpfe gegen Armut, Klimawandel und Rassismus werden ausgeblendet, obwohl das Video einsteigt mit „Ein schöner Land in dieser Zeit, es regt sich Aufbruch weit und breit“. Daran ändert auch die kurze Szene einer Demonstration nichts: Hier latschen glückliche Menschen entspannt in die Abendsonne. Und um den kindlichen Gesichtern das letzte bisschen Anmut von gesellschaftlichem Konflikt zu nehmen, fliegen Seifenblasen um sie herum. Das Monumentale einer versammelten Masse, das Kraftvolle des Für-sich-Einstehens wird nicht vermittelt – es könnte Strukturkonservative ja auch abschrecken, die den Unwägbarkeiten einer agitierten Menge skeptisch gegenüberstehen und in kapitalistischen Ausbeutungszuständen kein Problem sehen, solang der Boss schön lächelt und ein guter Familienvater ist. So bleiben die Bilder freudig und harmlos. So viele glückliche Menschen, dass es geradezu provoziert. Stand unser Haus nicht eben noch in Flammen? Fragte Greta nicht erst neulich die Anzugträger dieser Welt: „How dare you...?“. Die Grünen inszenieren mit ihrem Spot Wohlfühlatmosphäre mit nützlichen Verbesserungen wie W-Lan als Antwort – gleichzeitig bleibt alles so, wie es ist. Heimatverbundenheit, Beschaulichkeit, Kirchentagfeeling. Für einen Feuerlöscher gegen die Flammen, einen Damm gegen die Fluten und vor allem die Notbremse gegen den Kollaps wird es auch in der nächsten Legislatur den wütenden Druck der Straße brauchen.