Wie steht es um die Klassenzusammensetzung bei Wähler*innenpotenzial und Wähler*innen der Partei Die Linke? Politisch-strategisch stimme ich Theo Glauch und Christoph Köhler (2024) in ihren Positionen weitgehend zu. Da gibt es wenig Dissens. Aber sie zweifeln an, wie sehr die Partei in den unteren Teilen der Arbeiter*innenklasse verankert ist. 

Tatsächlich fragt meine Studie (Candeias 2024) nur nach dem Potenzial und in welchen Branchen und Berufen die Einzelnen eigentlich arbeiten. Zwischen Potenzial und Elektorat liegt immer eine mehr oder weniger große Lücke – bei Der Linken ist sie beträchtlich. Keine andere Partei, bis auf die FDP, schöpft ihr Potenzial schlechter aus als Die Linke (vgl. Candeias 2024). Zwischen potenzieller Neigung, Wahlabsicht und tatsächlicher Abstimmung bei Wahlen kommt es zu einer Verschiebung der Einkommensklassen, weil die unteren Einkommen viel weniger zur Wahl gehen. Das widerspricht nicht der Potenzialanalyse. 

»Die Zahl der Kernwähler*innen ist längst zu klein geworden. Es ist zwingend notwendig die großen Potenziale stärker zu heben.«

Hier wird eher ein Problem deutlich, auf das ich hinweisen möchte. Denn die Zahl der Kernwähler*innen ist längst zu klein geworden. Es ist zwingend notwendig, die großen Potenziale stärker zu heben. Meine Studie versucht zu verdeutlichen, dass Menschen mit geringen bis mittleren Nettohaushalteinkommen (also unter 1500 Euro bzw. unter 2500 Euro) potenziell geneigt sind, Die Linke zu wählen – sozusagen ein nicht gehobener Schatz, wenn es gelänge diese zu motivieren ihr Kreuz zu machen und im besten Falle auch für gemeinsame Organisierungsarbeit zu aktivieren.

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Quelle: Candeias, 2024, 44

Glauch und Köhler kritisieren weiter, meine Studie weise „lediglich Anteile der Linken-Wählenden an Einkommensgruppen aus, nicht aber das Gewicht der Menschen mit unteren Einkommen als Teil des gesamten Wahlpotenzials oder des Elektorats“. Die Studie kann natürlich nur etwas zu Potenzialen sagen. Aber es stimmt: Die Größe des Potenzials ist nicht quantitativ nach Einkommensklassen ausgewiesen. Tatsächlich ist das Potenzial rein quantitativ bei den etwas höheren Einkommen und mittleren bis höheren Qualifikationen größer. Dieses, nennen wir es sozial-ökologische und solidarische Potenzial ist ausgesprochen wichtig für Die Linke. Tausende der aktiven Neumitglieder Der Linken entstammen aus diesen Gruppen. 

Weshalb betone ich dennoch besonders die Gruppe mit niedrigeren Einkommen? Nun, zum einen, weil eine linke und klassenpolitisch orientierte Partei schon politisch auf die unteren Teile der Klasse nicht verzichten kann. Zum anderen handeln die zwei großen Potenziale bei Wahlen sehr unterschiedlich. Das eine ist politisiert oder stark politisch interessiert, aber mit einem stark taktischem Wahlverhalten, das andere ist demobilisiert. Als es bei der Wahl 2021 darum ging, ob die CDU wieder in einer großen Koalition den Kanzler stellt oder die SPD[1] in einer Koalition mit den Grünen, hat Die Linke aufgrund taktischen Wahlverhaltens enorm an Wähler*innenstimmen an diese beiden Parteien verloren (Candeias 2022a). Das Potenzial bei etwas höheren Einkommen und Qualifikationen mag quantitativ größer sein, aber bei einer 3 bis 4 Prozent-Partei ist die Gefahr für eine "verlorene Stimme" noch höher als sonst, die Wahrscheinlichkeit für taktisches Wählen hoch. Das wissen wir auch von uns sehr nahestehenden Organisationen und Personen, die eigentlich inhaltlich bei uns sind, aber dennoch überlegen ihr Kreuz bei SPD oder Grünen zu machen. Nichtdestotrotz sollte Die Linke sich weiter um sie bemühen. 

Bei Menschen mit geringen Einkommen haben wir eher das Problem der Wahlmotivation. Wenn die Partei eine überzeugende Nicht-Wähler*innenstrategie verfolgt, wären in diesem Segment der Klasse wahrscheinlich mehr Stimmen zu holen, als bei den etwas höheren Einkommen. Letztlich muss es ohnehin gelingen, beide Potenziale mit einem klassenpolitisch-orientierten Profil und Praxis in einem "Mitte-unten-Bündnis" (Michael Brie) zu verbinden.

Gespaltenes Potenzial? 

Glauch und Köhler sehen nach Analyse der Studien von Mau u.a. (2023) sowie Eversberg u.a. (2024) „das Elektorat der Partei Die Linke politisch-ideologisch und sozialstrukturell gespalten“. Dies ist zweifellos der Fall, etwa im Feld der Friedens- und Sicherheitspolitik, die Glauch und Köhler gar nicht erwähnen. Hier teilt sich das Potenzial der Partei z.B. in der Frage der Waffenlieferungen für die Ukraine in zwei nahezu gleichgroße Hälften. Bei der Kritik der Aufrüstung bzw. Eintreten für Abrüstung und mehr Diplomatie gibt es jedoch wieder große Einigkeit. Das gibt bereits Hinweise, wie auf die verbindenden Themen der Schwerpunkt gelegt werden kann.

Glauch und Köhler sehen „bei gesellschafts- und umweltpolitischen Themen […] teilweise tiefe Gräben zwischen progressiven und konservativen Einstellungsmustern. […] Die Mehrheit der neo-proletarischen Gruppen im Elektorat will aufgrund ihrer sozialen Lage in erster Linie die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern und zielt auf soziale Gerechtigkeit. Sozial-ökologische Transformationsprozesse werden hier mit Blick auf die eigene Lebenssituation eher kritisch beäugt. Zwischen den beiden Strömungen gibt es keinen antagonistischen Gegensatz, wohl aber politisch-ideologische Spannungen und Interessenskonflikte.“ Spannungen sind schon einmal besser als sich ausschließende Gegensätze, wie sie noch mit der Gruppe um Wagenknecht deutlich wurden.

Dass es zu einer auseinanderstrebenden Wähler*innenbasis der Partei Die Linke kam, habe ich bereits im Jahr 2022 konstatiert (Candeias 2022b). Nun, wo die Partei die vermeintlich "linkskonservativen" Teile weitgehend verloren hat, was sich im Osten bereits schmerzlich auswirkt, strebt sie wahrscheinlich weniger auseinander als zuvor. Ich möchte aber auch eine methodische Kritik an den Studien formulieren, denn es ist ganz entscheidend, wonach eigentlich gefragt wird. Ich bemühe noch einmal das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik. In meiner Studie nach den Bundestagswahlen im Jahr 2021 (Candeias 2022a) stellte sich heraus, dass der wichtigste Grund von Menschen im Potenzial Der Linken die Partei nicht zu wählen, die Außen- und Sicherheitspolitik der Partei war. Aber warum genau? Tatsächlich führte die Vielstimmigkeit der Partei dazu. Manche wählten sie wegen ihrer friedenspolitischen Positionen zum Ukraine-Krieg nicht mehr, andere weil sie ihre friedenspolitischen Positionen in diesem Fall aufgegeben habe, wieder andere wählten sie, weil sie eben die einzige konsequente Friedenspartei sei. Ähnlich war es in der Klimapolitik: Den einen gingen die Positionen Der Linken zu weit, die anderen fanden die Positionen gut, aber nicht glaubwürdig vertreten, wieder andere konnten angesichts der Vielstimmigkeit nicht mehr sagen, wofür die Partei stehe. Ähnlich ist es bei der Migrationsfrage. Zudem muss die Abfrage von Einstellungen mit einer Gewichtung und Priorisierung durch die Befragten einhergehen, was in Studien allzu häufig fehlt. Die Lehre: Je nachdem, wie wichtig Wähler*innen bestimmte Themenfelder sind oder eben nicht, verzeihen sie auch mal Positionen, wo sie nicht ganz konform mit ihnen sind, weil ihnen anderes wichtiger erscheint – „eine Kakophonie dissonanter Positionen“ führt aber immer zu massiven Stimmenverlusten (Candeias 2022b). Eine Kohärenz der Kommunikation ist wesentlich, damit „Gräben“ in Potenzial und Elektorat sich weniger stark auswirken.

Ausgangsthese meiner aktuellen Studie war, dass sich im Feld der Arbeit verbindende Motive finden lassen. Auch Glauch und Köhler teilen dies: „Einstellungen zur Arbeitswelt Brücken über die ideologischen Gräben im Elektorat der Partei bilden können, an denen die politische Arbeit anknüpfen kann.“ Alle, inzwischen drei quantitativen Studien der RLS zum Potenzial der Partei Die Linke machten sich auf eine Suche nach verbindenden politischen Forderungen. Dies gilt, wenig überraschend, generell für die linken Positionen zur sozialen Frage. Dies ist aber auch bei sozial-ökologischen Positionen möglich und für Die Linke zentral, weil die ökologische Frage eine zutiefst soziale bzw. Klassenfrage ist.

Auch hier wieder eine kleine Methodenkritik: Studien, die mit „Containern“ wie "Klimapolitik", „Migrationspolitik“, „Wirtschafts-“ oder „Sozialpolitik“ hantieren (oder „Außen- und Sicherheitspolitik“, siehe oben) und dann, wenig überraschend feststellen, dass Menschen mit geringen Einkommen sich zwar durchaus für Klima (oder auch Migration) interessieren, aber deutlich weniger als andere oder vermeintlich weniger progressive Positionen vertreten, weil sie keine „schnellere“ Klimapolitik wollen. Nun sagt so ein Container aber wenig darüber aus, wie die Leute wirklich denken. Die Frage ist, welche Klimapolitik sie wollen. Die Studie von Mau u.a. fragt etwa explizit nach Befürchtungen und folgert: „Vor allem in den unteren Statusgruppen“ gibt es die Sorge, „angesichts der ökologischen Transformation ökonomisch und sozial“ Einbußen hinnehmen zu müssen (Mau u.a. 2023, 216). Das trifft zu und wird durch Erfahrung (von der ökologischen Gebäudesanierung und steigenden Mieten bis zu Arbeitsplatzverlusten bspw. bei Autozulieferern) gestützt. Trotz Klassenunterschieden im Klimabewusstsein, so die Autoren weiter, blickt letztlich „in allen Klassen eine klare Mehrheit sorgenvoll auf den Klimawandel. […] die statusgruppenbezogenen Disparitäten“ haben sich jedoch seit den 1980er Jahren immer weiter verringert (ebd.). Das ist eine gute Nachricht.

Die Studien fragen aber nicht, wie denn diese gemeinsame Sorge auch verbindend adressiert werden kann. Unserer Studie von 2022(a) hat diesen Versuch unternommen und überraschend gezeigt, dass insbesondere Menschen mit niedrigeren Einkommen die höchste Zustimmung für explizit sozial-ökologische Forderungen Der Linken äußerten. 

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Verteilung der Zustimmungswerte zu sozial-ökologischen Maßnahmen nach Haushaltseinkommen der Befragten

Quelle: Candeias 2022a, 18

Die empirische Forschung neigt dazu diskursiv durchaus etablierte Gegensätze zu spiegeln, wenn sie nicht zugleich Veränderungspotenziale untersucht. Beim Sprechen über Gräben im Potenzial oder Elektorat sind solche verbindenden Potenziale mit abzufragen. Eine immer wieder geforderte Konzentration Der Linken auf die im engen Sinne soziale Frage (im Sinne von Sozialpolitik) verfehlt wesentliche Zukunftsprobleme von Menschen mit mittleren und geringen Einkommen, die Stichworte sind: Energiepreise, Wärmewende, Mobilitätwende, der Umbau der Industrie und die Krise der Beschäftigung. Ob diese Fragen vorhandene Sorgen und Gegensätze vertiefen oder überbrücken, hängt von der politischen Praxis ab. Werden diese Problematiken sozial-ökologisch adressiert und entsprechend ausbuchstabiert, mit Politiken, die ökologisch fortschrittlich sind und zugleich soziale Verbesserungen für jene „unten“ und in der „Mitte“ bringen, besteht zumindest die Chance Gräben zu überwinden. Hier spielt die Klassenorientierung eine entscheidende Rolle für verbindende Politiken. 

Derzeit wird hier und da diskutiert, ob Die Linke sich als radikalökologische Bürgerrechtspartei oder als auf die soziale Frage konzentrierte Klassenpartei aufstellen soll – das würde jedoch den Zusammenhang zerreißen, die beiden Potenziale der Partei spalten, sodass jedes Modell für sich wahrscheinlich deutlich zu wenig Unterstützung bei Wähler*innen hätte.

Die Gefahr des Niedergangs für Die Linke ist groß, aber ihr Potenzial ist eben nach wie vor vorhanden. Nach der Trennung besteht eine gute Chance mit einer klareren Kommunikation, die sich nicht dauernd selbst widerspricht und sich im Bewusstsein der Wähler*innen eingegraben hat, Terrain wieder gut zu machen. Das hat sich bereits deutlich gebessert, aber es braucht sicher auch etwas mehr Zeit. Da gibt es keinen Automatismus. Fraglich, ob Der Linken die Zeit gegeben wird, denn die Umfragewerte verfestigen den Eindruck einer Partei im Abwärtstrend, der medial schwer zu drehen ist. 

Was braucht also eine gute Nicht-Wähler*innenstrategie? Das ist nicht nur eine Frage der richtigen politischen Positionen, v.a. die soziale und die sozial-ökologische Frage sind hier zentral, sondern auch wie die Partei an die Leute herankommt. 

In den letzten Monaten seit der Trennung von der Wagenknecht-Fraktion konnten viele neue und vor allem aktive Mitglieder gewonnen werden. Das ist schon auch eine wichtige und notwendige Voraussetzung, um Wähler*innen zu erreichen, aber nicht hinreichend. 

Wer sind und was denken die Nicht-Wähler*innen im linken Potenzial?

Die Gruppe der Nichtwähler*innen ist im Sample unserer letzten von Kantar durchgeführten Umfrage zahlenmäßig mit Abstand die größte: Sie umfasst rund 32 Prozent aller Befragten, sozusagen mit Abstand die „größte Partei“. Immerhin 17 Prozent der Nichtwähler*innen können sich zum Zeitpunkt der Befragung vorstellen, Die Linke bei einer Bundestagswahl zu wählen (Candeias 2024). Mit BSW ist eine neue Partei hinzugekommen, die nach ersten Umfragen und dem Ergebnis bei den Wahlen zum europäischen Parlament vermehrt auch Nichtwähler*innen motivieren kann.

Generell sind viele der Befragten im Linken Potenzial in ihrer Wahlentscheidung unsicher (12%), besonders Menschen mit formal geringerem Bildungsabschluss (19%, resp. 15%) und niedrigem Einkommen (20%) oder Migrationshintergrund (17%) sowie eben Nicht-Wähler*innen (19%) und Befragte mit einer Präferenz für Kleinparteien („Sonstige“, 29%). Viele, insbesondere bei Menschen mit geringen Einkommen sowie Nicht-Wähler*innen, benötigen erst noch weitere Informationen über die Politik der Partei (13% bzw. 10%). 

Ein nicht zu unterschätzender Grund für Menschen mit geringen Einkommen, sie beschäftigen sich nicht (mehr) mit Politik (11%). Bekanntermaßen gehen diese Wähler*innen auch besonders häufig nicht zur Wahl. Ursächlich, ist das sie erfahrungsgesättigt nicht daran glauben, dass die Politik zur Verbesserung ihrer Situation beiträgt. Entsprechend hat fast die Hälfte dieser Gruppe ihr Vertrauen in die politischen Institutionen unserer Demokratie verloren, wie letztes Jahr eine Studie des WSI herausfand (Brülle/Spannagel 2023). Dabei ist der Anteil der Armutsbetroffenen auf von 14,5 Prozent (2020) mit Corona-, Energiepreiskrise und Inflation auf 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2022 gestiegen (ebd.), während die oberen 10-Prozent und vor allem 1-Prozent immer mehr Vermögen anhäufen. Die Interessen der ärmeren Bevölkerungsgruppen werden strukturell und durch abnehmende Wahlbeteiligung in den politischen Institutionen weniger oder nicht vertreten (ebd.), was bei dieser Gruppe zu weiter sinkender Beteiligung an Wahlen und Politik generell führt – ein Teufelskreis. 

Ein etwas genauerer Blick auf diese Gruppe:[2] Nichtwähler*innen im linken Wähler*innenpotenzial sind zu 41 Prozent überwiegend erwerbstätig, 31 Prozent sind Rentner*innen, immerhin 7 Prozent arbeitslos und weitere 7 Prozent Studierende. Im Vergleich zu den Befragten im Potenzial der Linken arbeiten Nichtwähler*innen im linken Potenzial weniger, aber immer noch am häufigsten im Bereich Gesundheit & Pflege (17%), dann häufiger als im linken Potenzial gefolgt von Handel, Logistik & Lieferdienste (14%), deutlich häufiger im Handwerk (13%) sowie weniger in der Erziehung (11%).[3] Sie sind vom Durchschnitt abweichend eher Fachkräfte und Techniker*innen (16%), Verkäufer*innen (14%), Erzieher*innen und Lehrkräfte 9% (11% ordnen sich als Arbeiter ein, 77% sind Angestellte, 9% Freiberufler). Die berufliche Struktur ist gegenüber dem Rest des Potenzials verschoben weg von den sozialen Berufen in Richtung Handel, Handwerk und Informationsdienste, von denen v.a. die beiden letzten Bereiche sonst nur eine geringe Rolle spielen. Nichtwähler*innen im linken Potenzial sind dabei auch unterdurchschnittlich oft Mitglied in einer Gewerkschaft (11% gegenüber 16%). 

Deutlich stärker als die übrige Bevölkerung (fast 70%) fühlen sich Nichtwähler*innen von der Inflation betroffen und beklagen, dass ihnen am Ende des Monats Geld fehlt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (Candeias 2022c). 

Obwohl in qualitativen Interviews in früheren Jahren von Menschen mit niedrigem Haushaltseinkommen häufig zu hören war, eine Umverteilung sei nicht möglich sei, weil man an die „Reichen und Mächtigen“ nicht herankomme, befürworten diese überdurchschnittlich stark eine Vermögenssteuer, Nichtwähler*innen immerhin zu 69 % (ebd., 12). Für die Abschöpfung von Übergewinnen von Unternehmen, die von der gegenwärtigen Energiekrise und Inflation profitieren, sprechen sich Nichtwähler*innen sogar zu 84 % aus (ebd.) Auch die Forderung nach einer höheren Verschuldung, um die staatlichen Sozialleistungen zu verbessern unterstützen Nichtwähler*innen zu 54 % (ebd.). Doch es fehlt womöglich der Glaube an die Umsetzung. 

Bei der Frage, ob die Partei Beschäftigung bzw. gute Arbeit und Klimaschutz gleichrangig voranbringen sollte, das soziale und das ökologische also systematisch zu verbinden, bejaht die Mehrheit der Nichtwähler*innen (54%), nur 26% plädieren eher für eine stärkere Betonung von sozialen Reformen (Durchschnitt 24%). Also auch hier gilt, wie beim linken Potenzial generell, es geht nicht nur um soziale, sondern zunehmend auch um sozial-ökologische Themen, wie das Bsp. die Energiepreiskrise zeigte (ebd., 20). Linke klimapolitische Aktivitäten werden umso stärker unterstützt, je mehr sie die sozialen Aspekte in den Vordergrund rücken: Ausbau des Nahverkehrs, kostengünstige Tickets, Grundkontingente bei Energie mit steigenden Preisen für Mehrverbräuche etc.

Wofür würden Nichtwähler*innen staatliche Mehreinnahmen investieren? Wenn nach einer Priorisierung gefragt wird, stehen Investitionen in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen mit ausreichend Personal (68 gegenüber 80% im linken Potenzial) sowie in Schulen und Kitas – ebenfalls mit ausreichend Personal (63 gegenüber 83%) an erster Stelle (Candeias 2022c, 23). Die Daseinsvorsorge dabei in öffentlicher Hand zu organisieren, dafür sprechen sich Nichtwähler*innen zu vier Fünfteln aus (82%, ebd., 25).

Sie beklagen mit Blick auf die Arbeitswelt zu geringe Löhne (46%), Stress am Arbeitsplatz (47%) und zu viele Überstunden (30%). Dafür wünschen sie sich eine Angleichung der Löhne von Frauen und Männern (61%), bessere Personalschlüssel in der Pflege, an Schulen und Kitas (57%) sowie höhere Löhne für mittlere und niedrige Lohngruppen (46%) (Candeias 2023). 

Nichtwähler*innen im linken Potenzial teilen also weitgehend die Forderungen und Positionen der Partei. Nur es nützt uns wenig.

Zur Forschung zu Nichtwähler*innen

Ein Problem der Wahlforschung: Nichtwähler*innen entziehen sich den Befragungen weitgehend (v.a. Nachwahlbefragungen fast vollständig). „In fast allen Befragungen liegt der Wähleranteil deutlich über der tatsächlichen Wahlbeteiligung“. Der Wähleranteil wird systematisch „überschätzt“, so Armin Schäfer (2015, 81). Da wollen wir in diesem Jahr mit einer qualitativen Untersuchung in benachteiligten Vierteln etwas Licht in die Motivation der Nichtwähler*innen bringen.

Klar ist aber: „Die Liberalisierungspolitik der vergangenen drei Jahrzehnte hat Markt- und Haushaltseinkommen ungleicher verteilt und eben zum Rückgang der Wahlbeteiligung beigetragen.“ (91) Die befördert wiederum weitere Umverteilung von unten nach oben, ein negativer Rückkopplungseffekt. Tatsächlich glauben „untere Einkommensgruppen überdurchschnittlich häufig, ihre Stimmabgabe bei Wahlen mache keinen Unterschied. Forcierte Einkommensungleichheit wirkt beteiligungshemmend, wenn sie die Schlechtergestellten entmutigt, durch politisches Handeln das eigene Leben verbessern zu können.“ (88) – eine Form der asymmetrischen Demobilisierung, so Schäfer, der seit langem diese Entwicklungen untersucht. 

Besonders abgenommen hat die Wahlbeteiligung in der Arbeiter*innenklasse, während alle anderen gesellschaftlichen Gruppen eine „signifikant geringere Nichtwahlneigung“ aufweisen und die Wahlneigung bei Hochverdiener*innen und Beamten sogar zugenommen hat (137). Nichtwähler*innen „bilden keinen Querschnitt der Bevölkerung, auch wenn dieser Eindruck medial vermittelt wird“ (121), Nichtwählen ist eine Klassenfrage. Zwischen dem unteren und dem oberen Einkommensdrittel liegt in der Wahlbeteiligung ein Unterschied von rund 20 Prozentpunkten (97).

Nichtwählen ist in den unteren Teilen der Klassenhierarchie überwiegend ein Akt der Unzufriedenheit mit der Politik und mehr und mehr des Fatalismus. Sie nehmen deutlich wahr, „dass die politischen Entscheidungsträger ihre Präferenzen kaum berücksichtigen und sich nicht um ihre Interessen kümmern“, so Brigitte Geißel (zit. n. Jörke 2017, 36). Die Verweigerung der Teilnahme an demokratischen Ritualen lässt „eine, wenn auch verzweifelte, Form der Rationalität“ erkennen (Jörke 2017, 36).

Je mehr sich Politik an kurzfristiger Wähler*innenmaximierung orientiert, also an jenen, die wählen, desto wahrscheinlicher werden Interessen von Menschen mit geringeren Einkommen, insbesondere von Nichtwähler*innen, nicht berücksichtigt. So droht, das „demokratische Grundprinzip ausgehöhlt“ zu werden, indem politische Entscheidungen getroffen werden, die „die soziale Ungleichheit verschärfen“ (89).

Studien (Bartel 2008, Kap. 9, und Gilens 2012, 81) belegen für die USA, dass Abgeordnete nur dann die politischen Präferenzen der Einkommensschwachen berücksichtigen, wenn diese mit den Interessen herrschender Gruppen zusammenfallen. Dies ist ein wichtiger Effekt, der es radikal rechten Parteien leichter macht, weil sie Handlungsfähigkeit suggerieren können (vgl. Candeias 2018): Die radikale Rechte ermöglicht den Einzelnen einen nonkonformistischen Konformismus, in dem die widerständige Haltung des Protests sich zwar gegen die Instanzen der Herrschaft richtet, sie aber zugleich anruft, für die praktische Abwertung und Ausgrenzung der „Anderen“, der Migrant*innen, der "Arbeitsscheuen", der "versifften Grünen und Linken", der Feminist*innen etc. Dies kann als Stabilisierung restriktiver Handlungsfähigkeit unter verschärften Bedingungen der Unsicherheit in der Transformation erlebt werden. Denn die Forderungen der Rechten kollidieren nicht frontal mit den Interessen des Kapitals (im Gegenteil), anders als linke Forderungen nach Umverteilung, Mitbestimmung oder gar Vergesellschaftung. Die Rechten rühren nicht an die Grundlagen kapitalistischer Herrschaft, weshalb das Kapital eher zu Kompromissen geneigt ist. Eine Stimme für die radikale Rechte stärkt daher die Illusion der Handlungsfähigkeit, wenn rechte Positionen Eingang in den politischen Alltag finden wie aktuell mit dem Gesetz zur „Verbesserung von Rückführungen“, während linke Positionen und Forderungen zurückgewiesen, linke Reformen nicht oder unzureichend (Mindestlohn) durchgesetzt werden.

So ist die Nichtwahl ein Ergebnis der klassenspezifischen Demobilisierung: Wobei Erfahrungen der Hausbesuche auch zeigen: Die Leute sind schon an Politik interessiert, haben viel Kritik an den Verhältnissen, aber erwarten von Parteien und Wahlen eben relativ wenig. Auch von Der Linken nicht, da, sofern ihre Positionen überhaupt bekannt sind, nicht oder nicht mehr annehmen, Die Linke könne einen Unterscheid machen. Weniger, weil sie in Regierungsbeteiligungen enttäuscht, sondern weil sie machtlos erscheint – und zuletzt auch völlig zerstritten.

Kommt dann noch der Faktor Alter hinzu, zeigt sich, dass besonders jüngere Menschen aus den unteren Einkommensklassen weit weniger zur Wahl gehen. Der Unterschied in der Wahlbeteiligung zwischen der unteren und oberen Klassenzugehörigkeit beträgt dann bis zu 30 Prozent. „Es sind nicht die ‚Jungen‘, die nicht wählen, sondern insbesondere junge Menschen unterer Schichten.“ (Schäfer 2015, 103) 

Wo die Mieten niedriger und die Wohnungen kleiner sind, wohnen überproportional viele Arbeitslose, Migrant*innen und Empfänger*innen von Bürgergeld oder Altersgrundsicherung. Es sind diese benachteiligten Viertel, in denen sich die Wahlbeteiligung seit den späten 1980er Jahren teilweise halbiert hat, während sie in sozial und einkommensstärkeren Vierteln stabil ist oder sogar zugenommen hat.[4] 

Aufsuchende Arbeit und Konfliktorientierung

Das Verhalten wird durch das Umfeld der Nichtwähler*innen (mit)geprägt: Das Verhaltensdispositiv, nicht zu wählen, wird verstärkt durch die wechselseitige Bestärkung, dass Wählen nichts ändert. 

„Unter sonst gleichen Umständen steigt der Nichtwähleranteil von 10 auf 17 Prozent, wenn der erste Gesprächspartner nicht wählt, und auf 27 Prozent, wenn dies auch für den zweiten Gesprächspartner gilt“ (111). Aber: Umgekehrt gilt auch, wenn Nichtwähler*innen angesprochen werden, etwa von Aktivist*innen von Parteien oder zivilgesellschaftlichen Initiativen wie „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ steigt potenziell die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen. Menschen mit geringer Wahlneigung sind zwar nur schwer davon zu überzeugen, wählen zu gehen. Zugleich äußern viele aber die Erfahrung, dass sie niemand fragt, sich niemand für sie interessiert (Brady/Verba/Schlozmann 1995, 271). Tatsächlich werden Nichtwähler*innen besonders selten angesprochen (vgl. Johnston et al. 2012, 322 u. 326). 

Die aufsuchende Arbeit bei Haustürbefragungen und Haustürwahlkämpfen ist also von enormer Bedeutung, um Nichtwähler*innen insbesondere in benachteiligten Vierteln überhaupt zu erreichen. Allerdings ist diese Arbeit der gezielten Mobilisierung, gar der Involvierung in kollektive Organisierungsprozesse vor Ort, sehr aufwendig, was bei geringen personellen Ressourcen ein Problem darstellt. Aber: „Insbesondere persönliche Kontakte erhöhen die Wahrscheinlichkeit“ (ebd.) doch an Wahlen teilzunehmen. Der Effekt der Ansprache von Nichtwähler*innen, wird „in den meisten Studien vermutlich sogar unterschätzt, weil ‚Ansteckungseffekte‘ nicht beachtet werden“ (ebd.), wie Studien (z.B. Nickerson 2008) zeigen konnten. Am Aufsuchen dieses Potenzials führt kein Weg vorbei. Er ist aber angesichts geringer Personalressourcen an aktiven Mitgliedern und einer stark medial vermittelten Politik nicht hinreichend. Es braucht, wenig überraschend, ein klares und leicht einprägsames Profil – auch das gehört zu einer Nichtwähler*innenstrategie. Dazu gehört, die Gesichter und (Klassen-)Geschichten dieser Menschen sichtbar zu machen. Und ein Spitzenpersonal, welches dieses Profil persönlich verkörpert sowie eine konfliktorientiere Kommunikation, um die Aufmerksamkeitsschwelle der Medien zu durchbrechen. Die Menschen müssen erleben können, da legt sich jemand für sie (im besten Falle mit ihnen) gegen die Reichen und die Mächtigen an.

[1] Zudem hatte sich die SPD im Wahlkampf mit ihren Forderungen „re-sozialdemokratisiert“, auch wenn sie nach den Wahlen erneut vieles davon nicht umgesetzt hat.

[2] Im Folgenden bisher unveröffentlichte Sonderauswertung der Zahlen aus den beiden von Kantar durchgeführten Befragung im Jahr 2022 (Candeias 2022c und 2023) für Nichtwähler*innen.

[3] Weitere arbeiten in den Informations- (IT) & Telekommunikationsdiensten (9% statt 5%), in Industrie & produzierendes Gewerbe (7% statt 10%) oder Gastronomie & Tourismus (7% statt 6%).

[4] Zwischen der sozialen Lage eines Stadtteils und der Höhe der Wahlbeteiligung besteht ein enger Zusammenhang. Schäfer hat die Unterschiede zwischen 100 Stadtteilen in Hamburg untersucht: Der Unterschied zwischen der höchsten und der niedrigsten Wahlbeteiligung betrug bei einer Bundestagwahl (2013) 44 Prozentpunkte, bei der EP-Wahl 45, beim Volksentscheid über die Schulreform 48 und bei der Bürgerschaftswahl sogar 51 (!) Prozentpunkte. „Dasselbe Muster „tritt in allen Städten auf“ (ebd., 154). Es sind arme Stadtteile, in denen besonders viele Wahlberechtigte auf die Stimmabgabe bei Wahlen verzichten, ein Zusammenhang, „so stark, wie man in sozialwissenschaftlicher Forschung nur selten findet“ (156).

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