Wenn über das Erstarken populistischer Bewegungen geschrieben wird, gibt es oft einen Verweis auf das politische Unvermögen ostdeutscher Mitbürger*innen. Die Demokratie sei »in Ostdeutschland schwächer verwurzelt« (Edinger 2004), heißt es, denn dort gebe es »Defiziterfahrung« (Hilmer 2020). Dieses Defizit – beispielsweise ein kritisches Verhältnis zur Demokratie oder weniger Vertrauen in politische Institutionen – finde seinen »Ausdruck in der schleichenden Abwendung von den beiden Volksparteien, in der Forderung nach mehr direkter Demokratie sowie einer höheren Bereitschaft, für vermeintliche Missstände ‘auf die Straße zu gehen’ und der rechtspopulistischen AfD die Stimme zu geben« (ebd.). In Ostdeutschland, so scheint es, sei der Weg von politischem Protest und der Forderung nach direkter Demokratie zum Rechtspopulismus nicht weit. Im Kern solcher Argumentationsketten steht meist die Annahme, ostdeutsche Mitbürger*innen seien aufgrund ihrer DDR-Erfahrungen bis heute »nicht in der Demokratie angekommen« (Wanderwitz 2021).
Solche Erklärungen greifen zu kurz. Wenn es um gesellschaftliche Probleme wie das Erstarken der Rechten, das Wachstum nationalistischer Tendenzen oder verbreitete Politikverdrossenheit geht, reicht es nicht, auf »den Osten« zu zeigen – ohne regionale, kulturelle und wirtschaftliche Differenzierung. Im Gegenteil, die genannten Entwicklungen sind grenzüberschreitend, sie gewinnen deutschland- und europaweit an Relevanz (siehe Schweden, Frankreich oder Italien). Entsprechend sollten sie als gesamtdeutsche oder eben gesamteuropäische Phänomene diskutiert werden. Der verengte Fokus auf »den Osten« lenkt von der allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz ab. Außerdem geht ein wichtiger Aspekt verloren: die spezifische Demokratiegeschichte im Osten Deutschlands.
Das Erbe des Jahres 1989/1990
In der Debatte über die Demokratieunfähigkeit ostdeutscher Mitbürger*innen rückt das letzte Jahr der DDR – also die Zeit zwischen Herbst 1989 und der deutschen Einheit im Oktober 1990 – zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. In ihrem Buch »Remembering 1989: Future Archives of Public Protest« erinnert Anke Pinkert an die vielfältigen und gewaltfreien politischen Protestbewegungen dieser Zeit als ein positives, wenn auch flüchtiges »laboratory of radical democracy«, aus dem man in der Ära des (Post-)Neoliberalismus viel lernen könne. Auch andere Autor*innen und Wissenschaftler*innen beschäftigen sich zunehmend mit dem Jahr 1989/1990. Sie fragen nach den demokratischen Leistungen der Regierungen Modrow und de Maizière, nach den damaligen Reformideen und Initiativen der DDR-Bürger*innen- und Arbeiter*innenbewegungen sowie nach den unterschiedlichen Wendeerfahrungen in Ost- und Westdeutschland.
In ihrer Gesamtheit zeichnen diese Studien ein komplexes Bild deutsch-deutscher Beziehungen. Die rasche Expansion der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung begrenzte die Durchsetzungsfähigkeit und Reichweite der Reformen in der sich transformierenden DDR. Das heißt, die Initiativen und Anliegen gesellschaftspolitisch aktiver und reformorientierter DDR-Akteur*innen wurden häufig übergangen oder schlichtweg ignoriert. Auch deshalb spielt die Erinnerung an deren Errungenschaften und an die gescheiterten Demokratisierungsbestrebungen im heutigen kollektiven Gedächtnis kaum eine Rolle.
»Lügenpresse«-Rufe als Folge »medialer Landnahme«
Aktuell sind es vornehmlich rechte Gruppen, die diese Erinnerungslücke für sich nutzen. Mit Forderungen wie »Vollende die Wende« bezieht sich beispielsweise die AfD auf die Ereignisse des Jahres 1989/1990, deutet diese zum Teil um und geht mit ihrem Narrativ auf Stimmenfang in Ostdeutschland. Der Bezug rechter Kräfte auf »den Osten« nährt wiederum die Vorstellung von einer historisch verwurzelten, antidemokratischen Kontinuität in den ostdeutschen Bundesländern. Auch der mit der Pegida-Bewegung assoziierte Ausdruck »Lügenpresse« wird nicht selten mit dem DDR-Feindbild der »kapitalistischen Lügenpresse« in Verbindung gebracht. Dementsprechend gibt es die Tendenz, die Offenheit von Protestgruppen gegenüber solch einem Kampfbegriff sowie das dahinterstehende Misstrauen gegenüber den Medien mit spezifischen DDR-Erfahrungen zu erklären.
Spannt man den historischen Rahmen weiter, wird die Geschichte komplexer und dem Jahr 1989/1990 kommt eine besondere Bedeutung zu: Im Herbst 1989 war der Ruf nach Medien- und Pressefreiheit zentraler Aspekt der politischen Proteste. Freie Medien standen für Meinungsfreiheit, politische Teilhabe und Demokratie. Hunderttausende gingen für diese Ziele auf die Straße. Allein im Jahr 1990 wurden in der DDR 120 neue Zeitungen gegründet, darunter viele Lokalzeitungen von reformorientierten Gruppen und DDR-Bürger*innen. Diese Zeitungen standen für die weit verbreitete Sehnsucht nach politischer Beteiligung und der Schaffung einer demokratischen Öffentlichkeit. Diesem »Pressefrühling« folgte allerdings schnell ein »Pressesterben«, denn Großverlage aus der BRD drängten auf den bereits im Mai 1990 faktisch schon vereinten Medienmarkt und verfolgten hier ihre Interessen. Letztlich übernahmen sie die Monopolstrukturen der ehemaligen SED-Bezirkszeitungen und bauten diese weiter aus. Kaum jemand unterstützte die Entwicklung einer freien DDR-Presse, vielmehr folgte ein beispielloser Verdrängungswettbewerb: Bereits im November 1992 waren von den 120 neu gegründeten Zeitungen nur noch etwa 50 übrig. 1995 gab es in fast zwei Dritteln aller ostdeutschen Landkreise und kreisfreien Städte nur noch eine einzige regionale Abonnementzeitung. Stets war es die ehemalige SED-Bezirkszeitung. Eine »Presserevolution« – also die Zerschlagung der ehemaligen DDR-Monopolstrukturen zugunsten einer basisdemokratischen, von unten gewachsenen Pressevielfalt – wurde so unmöglich gemacht. Stattdessen wurde das staatliche SED-Monopol durch ein Wirtschaftsmonopol westdeutscher Verlage ersetzt (Tröger, 2019).
Bis heute ist der ostdeutsche Pressemarkt fest in der Hand westdeutscher Verleger*innen. Weder konnte sich eine starke und vielfältige ostdeutsche Lokalpresse herausbilden noch ein ostdeutsches überregionales Medium entwickeln. In den überregionalen deutschen Medien sind ostdeutsche Redakteur*innen und Chefredakteur*innen unterrepräsentiert, und auch der journalistische Nachwuchs kommt selten aus den ostdeutschen Bundesländern. Auch deshalb sind ostdeutsche Perspektiven in der deutschen Medienlandschaft kaum verbreitet: überregionale deutsche Medien berichten eher über »den Osten« als aus »dem Osten«. Deswegen können aktuelle »Lügenpresse-Debatten« auch als Langzeitfolgen von Entkopplungsprozessen im Rahmen einer »medialen Landnahme« (Becker, 2007) interpretiert werden. Sie wurzeln im historischen Versäumnis, aus der DDR-Erfahrung zu lernen und die Presselandschaft im Osten (wie im Westen) neu zu ordnen.
Die vergessene Mediengesetzinitiative des Jahres 1989/1990
In diesem Zusammenhang ist die Initiative für ein umfassendes Mediengesetz aus dem Jahr 1898/1990 von Bedeutung. Sie zeigt, welche Ideen und Konzepte es damals in der DDR für freie Medien gab. Anders als in der BRD, in der die Rechtshoheit im Rundfunk- und Pressebereich bei den Ländern liegt und das Grundgesetz nur einen rechtlichen Rahmen bietet, sollte dieses Gesetz auf alle Medien anwendbar sein und eine Reihe von Freiheiten konkret ausgestalten. [1]
Noch vor dem Mauerfall hatten der Vorsitzende des Verbands der Journalisten der DDR (VDJ) und erste Sekretär des Verbands der DDR-Film- und Fernsehschaffenden (VFF), Eberhard Heinrich, eine Arbeitsgruppe gegründet, die ein umfassendes Mediengesetz für die DDR erarbeiten sollte. Am 31. Oktober 1989 schrieb er: »Alle, die es angeht, werden zur Mitarbeit aufgefordert«, und meinte damit Ministerien, Universitäten und Journalist*innen. Ziel war ein Gesetzentwurf, »der demokratisch erarbeitet und breit diskutiert […] Konsensfähigkeit erlangt«. Eine Kommission, bestehend aus Journalist*innen, Mitgliedern von Parteien und anderer Organisationen, sollte, »vom Vertrauen des Volkes getragen«, sofort mit der Arbeit beginnen.
Bereits am 18. Dezember verabschiedete eine Arbeitsgruppe des VDJ und des VFF ein Zehn-Punkte-Thesenpapier für solch ein künftiges Mediengesetz, das letztlich von einer frei gewählten Volkskammer (basierend auf einer neuen Verfassung) verabschiedet werden sollte. Das Papier wurde der neu gegründeten Gesetzgebungskommission Mediengesetz unter Leitung des neuen Ministerrats Hans Modrow zugesandt. Die Kommission bestand aus circa 60 Mitgliedern (Vertreter*innen des Runden Tisches, der zuständigen Ministerien und publizistischen Berufsverbände). Als Zwischenschritt legte die Kommission dem Ministerrat am 9. Januar 1990 einen ersten Entwurf vor, der die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit bis zur Einführung eines umfassenden Mediengesetzes gewährleisten sollte. Dieser Entwurf sah im Einklang mit internationalen Verträgen »einen freien Informationsaustausch und eine breite internationale Zusammenarbeit im Bereich von Information und Kommunikation« vor.
Den Massenmedien war die Aufgabe zugedacht, die Meinungsvielfalt in Staat und Gesellschaft abzubilden. Deswegen sollten neben den staatlichen Institutionen und allen politischen Parteien auch zivilgesellschaftliche Organisationen einen angemessenen Zugang zu diesen erhalten. Konkret wurde der Ministerrat aufgefordert, »im Interesse der Chancengleichheit« aller politischen Gruppen »einen öffentlich kontrollierten gesellschaftlichen Fonds« zu schaffen, um deren Presseprodukte zu unterstützen und zusammen mit dem Runden Tisch eine landesweite unabhängige Tageszeitung zu gründen. Jegliche Art der Zensur sollte verboten sein. Jede natürliche und juristische Person in der DDR sollte das Recht zur Veröffentlichung und zum Vertrieb von Printmedien haben. Niemandem sollten durch die Inanspruchnahme dieser Rechte negative Konsequenzen entstehen.
Die innere Pressefreiheit und der Medienkontrollrat
Der Gesetzentwurf enthielt darüber hinaus zwei wichtige Elemente: Zum einen machte er Medienschaffende, die öffentlich publizierten, persönlich für ihre Arbeit verantwortlich. Journalist*innen sollten also für das einstehen, was sie schreiben. Gleichzeitig sollten sie aber auch »das Recht« haben, »die Ausarbeitung eines Materials zu verweigern, wenn Themenstellung und Auftrag ihren persönlichen Überzeugungen« widersprachen. Dieser aus der DDR-Erfahrung gespeiste Fokus auf der Verantwortung und Autonomie von Journalist*innen (»innere Pressefreiheit«) unterschied sich vom westdeutschen Modell des Tendenzschutzes. Dieses garantiert Verleger*innen das Recht, die politische Linie einer Zeitung festzulegen, und gewährt ihrer institutionellen Autorität Vorrang. Die Umsetzung des Mediengesetzes sollte außerdem von einem beratenden Medienkontrollrat (MKR) begleitet werden. Dieses unabhängige Beratungsgremium sollte weder legislative noch exekutive Gewalt haben. Ihm sollten Vertreter*innen des gesamten ostdeutschen politischen Spektrums angehören.
Diese Gesetzesvorlage wurde am 15. Januar 1990 vom Runden Tisch ratifiziert und kurz darauf, am 5. Februar, von der Volkskammer beschlossen. Der Beschluss über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit gab vor allem den neu gegründeten Medien rechtliche Sicherheit. Jede*r konnte nun Printmedien frei produzieren und vertreiben. Der Beschluss löste den bereits genannten Zeitungsboom aus, war aber auch das Signal für die BRD-Verlage, den noch unerschlossenen DDR-Markt zu erobern.
Auf dem Weg zum Mediengesetz war der Beschluss vom 5. Februar 1990 von allen wichtigen aktiven und reformorientierten DDR-Akteur*innen verhandelt und beschlossen worden. Er war Ausdruck basisdemokratischer Diskussionsprozesse und stand für eine Vorstellung von »freien Medien«, die auf Erfahrungen in der DDR basierte und sich nicht am BRD-System – einer privatwirtschaftlich organisierten Verlagspresse und eine dualen Rundfunkordnung – orientierte. Das Ziel waren selbstständige DDR-Medien. Noch im Juni 1990 erklärte Jürgen Schwarz, Vorsitzender des Volkskammer-Medienausschusses, man wolle durch solch ein Gesetz einen Beitrag zu einer »neuen Medienordnung für ganz Deutschland« leisten.
Das westdeutsche Bundesministerium des Innern (BMI) war anderer Meinung. Zwar unterstrich es im Februar 1990, der Beschluss sei ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings entspreche er nicht den Überzeugungen der Bundesregierung. Ein allgemeines Mediengesetz, die Einrichtung eines Medienkontrollrats sowie die Ausgestaltung der inneren Pressefreiheit widersprachen der Praxis in der BRD. Während eines Treffens mit westdeutschen Verlagsvertreter*innen unterstrich das BMI daher, dass für »ein künftig vereintes Deutschland« in der DDR »dafür Sorge zu tragen« sei, dass »Strukturen gebildet würden, […] die kompatibel seien« mit denen der BRD. Nichts im Osten dürfe bestehende Strukturen in der BRD gefährden. Damit waren sowohl ein allgemeines Mediengesetz wie auch eine neue Medienordnung für ganz Deutschland vom Tisch. Der Beschluss vom 5. Februar sollte bis zum Ende der DDR medienpolitische Grundlage bleiben. Mit der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 war auch er Geschichte.
Markt schlägt Demokratie
An diesen medienpolitischen Entwicklungen lassen sich exemplarisch größere demokratische Prozess der Transformation in den Jahren 1989/1990 nachzeichnen. Gab es im Jahr 1989/1990 laut Jürgen Schwarz »unvorstellbar viele Vorstellungen, was aus den Medien der DDR noch werden kann«, so galt das für alle Ebenen des sozialen und politischen Lebens. Die Ideen und Anstöße dieses »Laboratoriums der radikalen Demokratie« gingen auch deshalb verloren, weil ressourcenstarke westdeutsche politische und wirtschaftliche Gruppen ihre Interessen zielstrebig durchsetzten. Sie profitierten von den bereits bestehenden Strukturen einer expandierenden BRD-Gesellschaftsordnung. Politische Initiativen und Reformziele ressourcenärmerer DDR-Gruppen und -Akteur*innen gerieten ins Hintertreffen, weil sie dieser Ordnung nicht entsprachen. Auch deshalb wurde die Demokratieerfahrung Anfang der 1990er-Jahre für viele reformorientierte ostdeutsche Mitbürger*innen vor allem zu einer Erfahrung der Desillusionierung.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die heute oft beklagte Skepsis gegenüber den bestehenden Institutionen einer parlamentarischen Demokratie oder die vermeintliche »Demokratieunfähigkeit Ostdeutschlands« auch als eine Folge der Durchsetzung westdeutscher Interessenpolitik verstehen. Angesichts aktueller Krisen in Deutschland und Europa lohnt es sich, damals verfolgte Visionen, wie eine freie Gesellschaft funktionieren könnte, neu zu bewerten und danach zu fragen, wie deren Reformpotenzial für die Bewältigung derzeitiger Herausforderungen zu nutzen wäre.