Der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung konstatiert: „In der Wahrnehmung der Bevölkerung hat sich die Schere zwischen armen und reichen Menschen in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren deutlich gespreizt“ (2. Entwurf, S. 100). Bei einer repräsentativen Befragung seien 44 Prozent der Meinung gewesen, „der Anteil armer Menschen sei in den letzten 5 Jahren stark gestiegen. 31 Prozent sagen dies auch für den Anteil reicher Menschen in Deutschland“ (ebd.). Ein starker Anstieg der Armut oder des Reichtums könne jedoch „anhand messbarer statistischer Daten […] so nicht bestätigt werden“, heißt es weiter. Dies zeige, „dass Wahrnehmung und messbare Realität mitunter auseinander gehen“ (ebd.). Der Armuts- und Reichtumsbericht geht der Frage nicht weiter nach, wie es zu der verbreiteten Wahrnehmung einer wachsenden sozialen Ungleichheit in der Bevölkerung kommt. Er behauptet lediglich, dass die Bevölkerung sich täuscht. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie die Bundesregierung sich die Realität im Armuts- und Reichtumsbericht zurechtlegt und zu ihrer rosigen Einschätzung bezüglich der Armut und sozialen Ungleichheit gelangt.

„Armutsgefährdete“: Die Reduktion des komplexen Phänomens der Armut auf eine einfache Maßzahl

Arme Menschen scheint es in Deutschland nach Ansicht der Bundesregierung nicht zu geben. Jedenfalls ist in ihrem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht nie von Armen die Rede, sondern nur von „Armutsgefährdeten“. Dieser Euphemismus ist jedoch nur ein Element, das dazu beiträgt, die Problematik der sozialen Ungleichheit herunterzuspielen.

Der Armuts- und Reichtumsbericht definiert Armut als „Mangel an Mitteln und Möglichkeiten, das Leben zu gestalten“ (2. Entwurf, S. 543). Als „komplexes Phänomen“ entziehe sich Armut „einer einfachen und eindeutigen Messung“ (ebd.). Trotz dieser Feststellung wird das „komplexe Phänomen“ der Armut im Armuts- und Reichtumsbericht überwiegend auf „relative Einkommensarmut“ reduziert. Der Bericht stützt sich dabei fast ausschließlich auf vorliegende Statistiken; Methoden qualitativer Sozialforschung wurden nicht genutzt, um die soziale Lage in Deutschland zu erhellen. In Anlehnung an eine in der Armutsforschung verbreitete Definition gelten im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Menschen als „armutsgefährdet“, wenn sie über weniger als 60% des „Medians aller Nettoäquivalenzeinkommen“ verfügen.

Der Begriff des „Nettoäquivalenzeinkommens“ soll dazu dienen, den Lebensstandard der Individuen in Haushalten verschiedener Größe vergleichbar zu machen. Das „Nettoäquivalenzeinkommen“ ist das Einkommen, das eine alleine lebende Person theoretisch haben müsste, um den gleichen Lebensstandard zu haben wie eine Person, die in einem Mehrpersonenhaushalt mit einem bestimmten Haushaltsnettoeinkommen lebt. Mit dem Begriff des Nettoäquivalenzeinkommens werden Individuen und Haushalte in eine bestimmte Beziehung gesetzt, d.h. das Haushaltseinkommen wird den Mitgliedern des Haushalts nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel zugerechnet. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen in einem gemeinsamen Haushalt kostengünstiger leben können, als wenn sie alleine leben, und dass der Geldbedarf von Kindern und Jugendlichen geringer ist als der von Erwachsenen. Dass Menschen in größeren Haushalten relativ gesehen günstiger leben als in kleinen Haushalten, ist durchaus plausibel. Um genauer zu bestimmen, um wieviel Menschen in größeren Haushalten günstiger leben als in kleineren, müsste man allerdings die Einkommen der Haushalte zu ihren Lebenshaltungskosten konkret in Beziehung setzen. Klar ist, dass die Lebenshaltungskosten auch regional variieren. Im Armuts- und Reichtumsbericht finden sich keine konkreten Schätzungen der Lebenshaltungskosten. Es wird, einer verbreiteten Konvention folgend, einfach angenommen, dass der zweite Erwachsene in einem gemeinsamen Haushalt und Jugendliche ab 14 Jahren nur 50% des Geldes benötigen, das der erste Erwachsene braucht, und dass Kinder bis 14 Jahre nur 30% des Geldes benötigen, das der erste Erwachsene benötigt. Um das Nettoäquivalenzeinkommen für eine Person zu bestimmen, würde also das Nettoeinkommen eines Vier-Personen-Haushalts mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren nicht durch vier geteilt werden, sondern nur durch 2,1. Kritiker sind der Meinung, dass der Bedarf der Kinder und Jugendlichen bei dieser Berechnung des Nettoäquivalenzeinkommens zu niedrig angesetzt ist. In jedem Fall ist das Resultat dieses niedrig kalkulierten Bedarfs der weiteren Haushaltsmitglieder, dass die Nettoäquivalenzeinkommen, die sich durch diese Berechnungsweise ergeben, relativ hoch sind – höher jedenfalls, als wenn der Bedarf der weiteren Haushaltsmitglieder höher angesetzt werden würde.

Wenn man auf diese Weise die tatsächlichen Nettohaushaltseinkommen in fiktive Nettoäquivalenzeinkommen umrechnet, so ist der Median aller Nettoäquivalenzeinkommen das Einkommen, das genau in der Mitte der Skala aller Einkommen liegt, d.h. 50 Prozent der Haushalte haben niedrigere Nettoäquivalenzeinkommen und 50 Prozent der Haushalte haben höhere Nettoäquivalenzeinkommen. In Deutschland lag der Median der Nettoäquivalenzeinkommen im Jahr 2015 bei 20668 Euro[1]. Dementsprechend lag die „Armutsrisikoschwelle“ im Jahr 2015 bei 12400,80 Euro, d.h. alle Personen, die über ein niedrigeres Nettoäquivalenzeinkommen verfügten, galten als „armutsgefährdet“.

Es ist klar, dass die Zahl der „Armutsgefährdeten“ in Familien bzw. die Zahl der „armutsgefährdeten“ Kinder und Jugendlichen höher ausfallen würde, wenn der Bedarf von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu dem ersten erwachsenen Haushaltsmitglied bei der Berechnung der Nettoäquivalenzeinkommen höher angesetzt werden würde. Nicht nur der Median aller Einkommen wäre dann niedriger, sondern die Nettoäquivalenzeinkommen der Menschen in größeren Haushalten wären im Verhältnis zu den Einkommen der Ein-Personen-Haushalte tendenziell niedriger, sie würden dadurch auf der Einkommensskala tendenziell weiter unten landen. In jedem Fall zeigt sich hier bereits, dass die Zahl der „Armutsgefährdeten“ ein statistisches Artefakt ist.

Damit soll nicht gesagt werden, dass es generell nicht sinnvoll sei, ein solches relatives Armutsmaß zu verwenden. Im Gegensatz zu Maßen absoluter Armut, die z.B. mit Hunger verbunden ist, zielen Maße relativer Armut darauf, Armut in Beziehung zu dem mittleren Lebensstandard oder Wohlstand in einer Gesellschaft zu bestimmen. So heißt es im Armuts- und Reichtumsbericht, Armut drücke sich „durch eingeschränkte Möglichkeiten der materiellen, gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe aus“ (2. Entwurf, S. 95). Auch der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands stützt sich auf die gleiche Berechnungsweise relativer Armut wie der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, allerdings spricht er nicht von „Armutsgefährdeten“, sondern von Armen, wenn Menschen über weniger als 60% des Medianeinkommens verfügen.

Wie die Bundesregierung materielle Entbehrungen kleinredet

Ein Grundproblem des Armuts- und Reichtumsberichts ist, dass er fast nur die Einkommensverteilung thematisiert und die Entwicklung der Kaufkraft und der Versorgungslage in den einzelnen sozialen Gruppen nicht näher analysiert. Die tatsächliche Lebenslage der Menschen hängt aber nicht nur von ihrem Einkommen, sondern auch von ihren Lebenshaltungskosten bzw. von den notwendigen Ausgaben der Haushalte ab. Die Lebenshaltungskosten sind kaum Thema, lediglich Probleme mit den Mieten werden an verschiedenen Stellen erwähnt.

Wo doch einmal materielle Entbehrungen angesprochen werden, geschieht dies mit einer Problemdefinition, die sehr restriktiv ist. Materielle Entbehrungen bestehen dann, wenn sich Personen Güter und Aktivitäten nicht leisten können, die Teil des durchschnittlichen Lebensstandards sind und als üblich gelten (ARB, zweiter Entwurf, S. 567). Der Armuts- und Reichtumsbericht benennt neun Bereiche, die als Indikatoren für materielle Entbehrungen gelten (ebd.):

  1. Finanzielles Problem, die Miete, Hypotheken oder Rechnungen für Versorgungsleistungen rechtzeitig zu bezahlen.
  2. Finanzielles Problem, die Wohnung angemessen heizen zu können.
  3. Problem, unerwartete Ausgaben in einer bestimmten Höhe aus eigenen finanziellen Mitteln bestreiten zu können.
  4. Finanzielles Problem, jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gleichwertige vegetarische Mahlzeit essen zu können.
  5. Finanzielles Problem, jährlich eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu verbringen.
  6. Fehlen eines Autos im Haushalt aus finanziellen Gründen.
  7. Fehlen einer Waschmaschine im Haushalt aus finanziellen Gründen.
  8. Fehlen eines Farbfernsehgeräts im Haushalt aus finanziellen Gründen.
  9. Fehlen eines Telefons im Haushalt aus finanziellen Gründen.


Von „(erheblichen) materiellen Entbehrungen“ kann laut Armuts- und Reichtumsbericht nur dann gesprochen werden, wenn eine Person mindestens vier dieser Probleme gleichzeitig hat! Entsprechend ist dann das Ergebnis, dass im Jahr 2015 nur 4,4% der im Rahmen der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen befragten Personen unter „(erheblichen) materiellen Entbehrungen“ litten (2. Entwurf, S. 567f). So gibt der Armuts- und Reichtumsbericht z.B. gleich zu Beginn des Abschnitts über Kinderarmut Entwarnung: „Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter materiellen Entbehrungen“ (2. Entwurf, S. 242). Genau genommen litten 2015 4,7% aller Kinder und Jugendlichen unter „(erheblichen) materiellen Entbehrungen“ im oben definierten Sinn. In Deutschland leben zurzeit ca. 12,9 Mio. Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 18 Jahren. Ob mehr als eine halbe Million Kinder und Jugendliche, die materielle Entbehrungen erleiden, „wenige“ sind, mag jede/r selbst beurteilen.

Von „materieller Deprivation“ ist im Armuts- und Reichtumsbericht dann die Rede, wenn eine Person Probleme in mindestens drei der oben genannten Bereiche hat. Dies waren dann 2015 bereits 10,7% der Befragten (2. Entwurf, S. 567f). In einem der genannten Bereiche hatten 14,6% der Befragten Probleme. Die letztgenannte Zahl findet sich nicht im Armuts- und Reichtumsbericht, sie ist aber auf der Eurostat-Website öffentlich zugänglich.

Die Zunahme der Armut und sozialen Ungleichheit in Deutschland: Ein Problem der Vergangenheit?

Wenn es eine zentrale Botschaft des Armuts- und Reichtumsberichts gibt, so ist es vielleicht die, dass es in der Vergangenheit (vor Mitte des letzten Jahrzehnts) eine Zunahme sozialer Ungleichheit gab, in den letzten Jahren jedoch nicht mehr (vgl. z.B. zweiter Entwurf, S. 50, 111, 254, 494). Die Gegenwart wird also durch den Vergleich mit der Vergangenheit in ein rosigeres Licht gerückt. Die präsentierten Daten reichen allerdings überwiegend nur bis 2013 oder 2014, d.h. über die Effekte der Politik in der gegenwärtigen Legislaturperiode lässt sich ohnehin wenig sagen. Indem behauptet wird, dass die unbestreitbare Zunahme der sozialen Ungleichheit in Deutschland im Wesentlichen vor 2005 erfolgte, wird unter anderem die These vertreten, dass die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze nicht zu einer Zunahme von Armut und sozialer Ungleichheit geführt hätten. Die Daten sprechen freilich überwiegend eine andere Sprache. Die „Armutsrisikoquote“, d.h. der Anteil der Personen mit einem Nettoäquivalenzeinkommen unter 60% des Medianeinkommens, ist nach der Statistik der EU über die Einkommen und Lebensbedingungen von 15,5% im Jahr 2008 auf 16,7% im Jahr 2013 gestiegen (erster Entwurf, S. 540; zweiter Entwurf, S. 546). Dabei sind die staatlichen Sozialleistungen bereits in das Nettoäquivalenzeinkommen eingerechnet. Ohne staatliche Sozialleistungen hätte der Anteil der „Armutsgefährdeten“ über 25% gelegen (zweiter Entwurf, S. 552). Die Zahl der Wohnungslosen ist von 223.000 im Jahr 2008 auf 335.000 im Jahr 2014 gestiegen (erster Entwurf, S. 561; zweiter Entwurf, S. 566). Nach diesen Daten haben Armut und soziale Ungleichheit in Deutschland also auch in der Phase, die durch die Implementierung der Agenda 2010 und durch die jüngste globale Finanz- und Wirtschaftskrise gekennzeichnet war, durchaus zugenommen. Dass Armut und soziale Ungleichheit zwischen Anfang der 1990er Jahre und Mitte der 2000er Jahre, also in der Phase, die vor allem durch die Deindustrialisierung Ostdeutschlands, massive Produktionsverlagerungen deutscher Unternehmen nach Osteuropa und in außereuropäische Regionen sowie zwei zyklische Krisen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre und in der ersten Hälfte der 2000er Jahre geprägt war, noch stärker zugenommen haben, macht die Sache keineswegs besser.

Um die Armut zu reduzieren, müssten die Einkommen der „Armutsgefährdeten“ bzw. Armen stärker steigen als die mittleren und oberen Einkommen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Der Anteil der unteren Hälfte der Gesellschaft am gesamten Einkommen hat in den letzten Jahren abgenommen, der Anteil der oberen 30% hat zugenommen (vgl. 2. Entwurf, S. 492ff).

Was erklärt der Armuts- und Reichtumsbericht?

Viele Faktoren, die zu der zunehmenden sozialen Ungleichheit beigetragen haben, werden im Armuts- und Reichtumsbericht angesprochen. Und doch fehlen wesentliche kausale Zusammenhänge zur Erklärung von Armut und Reichtum in der Darstellung. Vor allem wird die Verantwortung der Bundesregierung für bestimmte Entwicklungen nicht beleuchtet. Ein Beispiel: In den Ausführungen über die Ursachen der strukturellen Veränderung der Einkommensverteilung (2. Version, S. 61ff) wird zu Recht auf die Entwicklung des Niedriglohnbereichs verwiesen, aber es wird verschwiegen, dass dessen Vergrößerung zumindest eine Folge, wenn nicht gar ein Ziel der Agenda 2010 war. Es wird auch zu Recht auf die rückläufige Tarifbindung verwiesen, aber es wird verschwiegen, dass die Bundesregierung mit der Einschränkung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und der Erpressung der Gewerkschaften hinsichtlich der Einführung von Öffnungsklauseln gezielt dazu beigetragen hat. Letztlich wird die Bedeutung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie der Fiskalpolitik für die Entwicklung der sozialen Ungleichheit heruntergespielt. So heißt es: „Insgesamt gingen weder von Veränderungen des Arbeitsmarkts, noch von der demografischen Zusammensetzung der Bevölkerung oder der Ausgestaltung des Steuer- und Transferssystems ab 2005 starke Effekte auf die Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen aus“ (2. Entwurf, S. 74).

An bestimmten Punkten wertet der Bericht, indem er politische Entscheidungen als alternativlos darstellt. So heißt es z.B. zur Geldpolitik der Bundesbank in den 1990er Jahren: „Die Deutsche Bundesbank musste das Zinsniveau zu Beginn des Jahrzehnts mit Blick auf steigende Inflationsraten infolge der durch die Wiedervereinigung sprunghaft angestiegenen Binnennachfrage kräftig anheben und trotz der hohen Arbeitslosigkeit in den Folgejahren einen restriktiven Kurs verfolgen“ (zweiter Entwurf, S. 62). Auch die Fiskalpolitik wird als Ergebnis von Sachzwängen und als alternativlos dargestellt. So heißt es mit Blick auf die Einführung der „Schuldenbremse“: „Mit der Schuldenregel hat Deutschland die rechtliche Grundlage für tragfähige öffentliche Finanzen geschaffen“ (ebd., 52). Die restriktive Fiskalpolitik der Bundesregierung wird als Beitrag zur „Generationengerechtigkeit“ und zu mehr Wirtschaftswachstum dargestellt. Die tatsächlichen Zusammenhänge werden geradezu auf den Kopf gestellt: Wenn die deutsche Wirtschaft gewachsen ist und die Beschäftigung zugenommen hat, so nicht wegen, sondern trotz der restriktiven Fiskalpolitik. Durch die Zunahme der Beschäftigung und dadurch, dass der deutsche Staatshaushalt von den mit der globalen Finanz- und Eurokrise einhergehenden niedrigen Zinsen besonders profitierte, konnte der Schuldenstand verringert werden.

Zusammenhänge beispielsweise zwischen der lockeren Geldpolitik der EZB infolge der globalen Finanzkrise und der Eurokrise, der Aufblähung der Immobilienpreise und den steigenden Mieten insbesondere in städtischen Ballungsräumen auf der einen Seite und der massiven Zunahme der Wohnungslosen in den letzten Jahren auf der anderen Seite sind den AutorInnen des Armuts- und Reichtumsberichts offenbar nicht in den Sinn gekommen.
Implizit wird im Armuts- und Reichtumsbericht angenommen, dass hohes Wirtschaftswachstum zu einer Abnahme von Armut und sozialer Ungleichheit führen müsste. Entsprechend gibt man sich überrascht, dass dies trotz der steigenden Beschäftigung und der Abnahme der Zahl der Erwerbslosen in Deutschland in den letzten Jahren nicht der Fall ist (zweiter Entwurf, S. 112). In der internationalen Diskussion über soziale Ungleichheit gibt es freilich zahlreiche empirische Befunde, die zeigen, dass hohes Wirtschaftswachstum auch mit einer Zunahme der sozialen Ungleichheit einhergehen kann, so dass dies keineswegs überraschend ist.

Ein großer Teil des Armuts- und Reichtumsberichts dreht sich um „soziale Mobilität, um „Erfolgs- und Risikofaktoren“ für gesellschaftliche „Teilhabe“ in den „entscheidenden Lebensphasen“. Obwohl es durchaus interessant ist, die soziale Lage generationsspezifisch zu beleuchten, bringt dieser Ansatz eine Gefahr mit sich: Teilhabe erscheint vor allem als Konsequenz einer gelungenen Erwerbsbiographie, also des individuellen Lebenslaufs. Strukturelle Ursachen der sozialen Ungleichheit treten demgegenüber in den Hintergrund.

Selbstkritik oder gar Kapitalismuskritik kann man von der Bundesregierung wohl nicht erwarten. Es bleibt die Aufgabe der Linken, zu zeigen, wie die Zunahme der sozialen Ungleichheit und das gleichzeitige Wachstum von Armut und Reichtum mit der kapitalistischen Entwicklung zusammenhängen und wie eine Wende dieser Entwicklung erreicht werden kann.