Dabei stellen sie nicht ausreichend in Rechnung, dass Merkel seit 2000 einer Partei vorsteht, die seit 2005 die Regierung auf Bundesebene anführt. So beginnt Philip Plickert, Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das von ihm herausgegebene Buch zur Ära Merkel mit der Diagnose ein: »Je mehr man Merkels politisches Wirken näher untersucht, desto brüchiger wird der Heiligenschein, desto mehr schrumpft die Riesengestalt. Merkel ist ein Scheinriese, eine gewiefte, aber überschätzte Politikerin. Lässt man die Merkel Jahre Revue passieren, findet man reihenweise planlose, undurchdachte Entscheidungen und abrupte, opportunistische Wenden – mit gravierenden Konsequenzen für Deutschlands gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand.« (Plickert 2017, 8) Oder aber ihre Kritiker*innen gehen zu leichtfertig darüber hinweg, dass ein anderes Handeln von Merkel wahrscheinlich mit weitreichenden politischen Folgekosten verbunden gewesen wäre, und unterstellen somit eine omnipotente konservative Christdemokratie. »›Modernisierung‹ ist, seit Angela Merkel die Richtlinien von Partei und Regierung bestimmt oder wenigstens zu verantworten hat, das programmatisch universale Schlagwort, mit dem sich jede Kritik niedermachen lässt. […] Normative, religiös oder kulturell tradierte Ordnungsbilder geraten dabei leicht unter die Räder (oder an die ›Ränder‹, vornehmlich den rechten) eines politisch gesteuerten Diskurses, der die Grenzen des Erlaubten und Sagbaren festlegt«, beklagt etwa Wolfgang Ockenfels (2017, 41), römisch-katholischer Geistlicher und Sozialethiker. Ihm kommt aber nicht in den Sinn, dass die veränderte Aufstellung der CDU eine durchaus rationale Reaktion auf eine veränderte Nachfrage auf den Wählermärkten der Bundesrepublik gewesen sein könnte. Denn es stellt sich ja die Frage, wie es im Jahr 2017 um die wahlpolitischen Aussichten einer Partei in der Bundesrepublik bestellt wäre, wenn sie zum guten Teil wie die Republikaner in den Vereinigten Staaten eine erzkonservative, mitunter religiös begründete Politik vertreten würde. Der Erfolg von Angela Merkels CDU ist auf der Bundesebene zumindest teilweise damit zu erklären, dass sie ihre Partei einigermaßen geschickt durch das Trilemma christdemokratisch-konservativer Politik hat steuern können. Merkel steht inzwischen seit 17 Jahren unangefochten an der Spitze der CDU, nicht nur, weil sie die Partei aus der Spendenaffäre herausgeführt und später für sie das Kanzleramt wiedererobert hat, sondern weil niemand außer ihr in der Partei eine überzeugende politische (Neu-)Orientierung anzubieten hatte. Dazu ist ein Blick auf das Verhältnis von Christdemokratie und Konservatismus erhellend.

Wie wirkt konservativ-christdemokratische Politik?

Jede Diskussion über den Konservatismus als politische Kraft muss sich dem Faktum stellen, dass sich in Deutschland im Gegensatz zu Großbritannien keine säkulare konservative Partei durchsetzen konnte, sondern eine Christdemokratie, in der sich die Tradition der katholischen Zentrumspartei mit ordoliberalen und nationalkonservativen Strömungen traf. Was den Konservatismus der Christdemokratie ausmacht, ist der Versuch, den Status quo zu bewahren, die alltägliche Erlebniswelt der Menschen, ihren Habitus und die Routinen, auf die diese sich stützen. In der Abgrenzung konservativer von fortschrittlichen Einstellungen und in dem Vorwurf an Linke und Liberale, ihre Planungs- und Gestaltungansprüche seien eine Willens- und Wissensanmaßung, sind sich so unterschiedliche konservative Exponenten wie Thomas Strobl, der Landesvorsitzende der baden-württembergischen CDU, und der englische Philosoph Michael Oakeshott einig (vgl. Strobl 2012; Oakeshott 1962, 183f.). Die Politik christdemokratischer Parteien wirkt konservativ, wenn sie im Einklang mit ihren Überzeugungen steht und ihre politische Steuerung und Instrumentarien auf eine Reichweite begrenzt werden, mit der die herrschenden Grenzziehungen existierender Routinen und Institutionen nicht überschritten werden. Das christdemokratische Paradigma von Politik wendet die politische Beweislastverteilung gegen denjenigen, der für solche Überschreitungen steht. Dabei wird durchaus darauf verwiesen, dass die Welt, wie sie ist und wie sie von der Partei des Christentums dargestellt wird, von Gott geschaffen ist. Doch worauf stützen sich diese konservierenden Wirkungen im Einzelnen? Sie rühren erstens von der Subsidiarität und angesprochenen Demutshaltung in Sonderheit gegenüber lokalen Strukturen und Routinen, womit auch die darauf gestützten Machtasymmetrien und Benachteiligungen zementiert werden. Die Basiseinheit des Konservativen ist nicht das emanzipierte individuelle Subjekt, sondern die Gemeinschaft, die Einzelnen eine bestimmte Rolle zuweist. Zweitens gehört zum traditionellen Politikarsenal christdemokratischer Parteien die Bestärkung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung durch die Entmutigung gleicher Erwerbsbeteiligung von Frauen und die Unterstützung des traditionellen Rollenbildes der Frau als Zuständige für die Reproduktion. Drittens betreiben christdemokratische Parteien die Behebung sozialer Notstände als Armutsmilderung, aber nicht als Zwischenschritt hin zur fortschreitenden Verringerung von Einkommens- und Vermögensungleichheiten. Sie vertreten damit zusammenhängend viertens ein ›ständisch‹ geprägtes Gesellschaftsbild, das die gegebene Klassenstruktur affirmativ als solche hinnimmt und die daraus resultierende Einkommensverteilung als mehr oder weniger fairen Ausdruck von »Jedem das Seine«. Ein allgemeines Merkmal christdemokratischer Parteien auch jenseits der Bundesrepublik besteht in ihrer inneren Organisation nach Erwerbsklassen: Der christdemokratischen Arbeitnehmerschaft stehen stets eine Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung gegenüber. Indem die Christdemokratie parteiinterne Interessensgegensätze auf ein Maß kleinarbeitet, das mit kleinschrittiger Reform kompatibel ist, und den religiösen Gehalt ihrer Botschaften auf einen abstrakten Bezug zu christlichen Werten verdünnt, bestärkt sie fünftens in der Öffentlichkeit ein Gesellschaftsbild, das Klassenunterschiede als politischen Urteils- und Auswahlmaßstab verdrängt (vgl. Kersbergen 1999, 358f.; Kalyvas/Kersbergen 2010, 186f.).

Demut und Defensive

Die Wirksamkeit konservativer Politiken hängt mit der erfolgreichen Bearbeitung dreier Widersprüche zusammen. Ein Trilemma also. Das erste Spannungsverhältnis ergibt sich aus der dynamischen Entwicklungsweise bürgerlicher Gesellschaften. Der Konservatismus muss ›demütig‹ die Lebensweise der Leute hinnehmen, auch wenn diese (oftmals angetrieben durch Krisen und Optionserweiterungen in der bürgerlichen Gesellschaft) ›mit den Füßen‹ gegen traditionelle Lebensweisen und Institutionen abstimmen. Diese und die daraus erwachsenden neuen Besitzstände, (Über-)Lebenspraxen und Interessenlagen muss der Konservatismus dann aus seinem eigenen Verständnis heraus respektieren, schützen und absichern. Auch christdemokratische Politiker*innen müssen ausreichend KiTa-Plätze vorhalten oder Gesamtschulen akzeptieren, wenn sich nur noch dadurch eine wohnortnahe Beschulung gewährleisten lässt, weil man den Kindern keine allzu lange Anreise zumuten möchte. Sie kommen auch nicht daran vorbei, auf kommunaler Ebene Integrationsmaßnahmen für Migrant*innen und Flüchtlinge zu fördern und somit die Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen und womöglich fortzuschreiben. Stößt sich der Konservatismus hingegen an der neuen Lebensweise und dem Bedeutungsverlust der hergebrachten Institutionen, muss er in einen argumentativen Kampf zur Verteidigung der von ihm propagierten Werte und Normen treten. Er ist dann aber immer davon bedroht, letztlich das Terrain seiner eigenen Axiome zu verlassen, weil er faktisch damit dann doch ›das Streben nach der Verwirklichung eines Ideals‹ verficht. Wenn der Konservative dann noch versucht, durch Gesetze bevorzugte Lebensweisen abzusichern, wie im Fall des sogenannten Betreuungsgeldes, betreibt er im Grunde genauso social engineering, wie er es seinen Gegnern vorzuwerfen pflegt. Marx und Engels paraphrasierend, entlarvt der Konservative dann selbst das »Rührend-Sentimentale« an der Familie als einen »Schleier« (MEW 4, 465), indem er sie neben dem Kindergeld in ein weiteres Geldverhältnis bringt. Dem Konservatismus verbleiben in dieser Konstellation bestenfalls Hilfsargumente, die ihn letztlich noch weiter vom Territorium seiner Grundannahmen vertreiben. Das Betreuungsgeld lässt sich nur noch mit ›Wahlfreiheit‹ begründen, obwohl dieses die Möglichkeit zur Wahl und damit den flächendeckenden Ausbau von Kindertagesstätten und die Verlängerung ihrer Öffnungszeiten voraussetzt. Und wenn die Privilegierung der heterosexuellen gegenüber der gleichgeschlechtlichen Ehe mit Verweis auf die Notwendigkeit der Kinderzeugung begründet wird, reduziert sich das konservative Argument letztlich auf einen blutleeren Funktionalismus. Funktionalismus bedeutet aber das Gegenteil von Demut vor den Entscheidungen der Leute über ihre Lebensführung, denn definitionsgemäß beinhaltet er, den Leuten Rollen zuzuweisen, die Zwecke für eine größere Ganzheit erfüllen. Merkels Kritiker*innen machen es sich daher zu einfach, wenn sie der Kanzlerin Opportunismus vorwerfen. Merkels Kurswechsel und ihre mal schlagartige, mal geschmeidig langsame Neuausrichtung und Anpassung von CDU-Positionen sind als Antworten auf dieses Spannungsverhältnis zu sehen.

Was ist christlich am christdemokratischen Konservatismus?

Das zweite Gesicht des christdemokratischen Trilemmas betrifft die auseinanderfallenden Zuschreibungen dessen, was als christliche Politik gelten kann. Auch wenn die Christdemokratie eine vollständige organisatorische und politische Autonomie von den christlichen Kirchen genießt und in der Regel nur durch abstrakte Wertbezüge Verbindungen zum Christentum herstellt, kann sie mittel- und langfristig nur um den Preis politischer Scheinheiligkeit an ihrem christlichen Etikett festhalten, wenn ihre Politik zu offensichtlich zu dem im Gegensatz steht, was man glaubhaft als christlich inspirierte Position auffassen kann. Politische Lesarten des Christentums, die es in erster Linie mit konservativen Positionen in Verbindung bringen, sind in den vergangenen Jahren aber von mehreren Seiten in Bedrängnis geraten. Zum einen durch Papst Franziskus, dessen moralisch aufgeladene Kapitalismuskritik sich nicht ohne Weiteres mit dem CDU-Plädoyer für die deutsche Spielart der sozialen Marktwirtschaft in Einklang bringen lässt. Ebenso wenig erscheinen die wortmächtigen Anklagen des Papstes der Abschottungspolitik der industriekapitalistischen Länder gegenüber Geflüchteten vereinbar mit dem Kurs der EU, in der konservative und christdemokratische Parteien mehrheitlich tonangebend sind. Eine grundlegende Kritik an der Weltwirtschaftsordnung wird nicht nur in katholischen Kreisen formuliert. Auch der ökumenische Rat, ein Zusammenschluss von fast 350 anglikanischen, evangelischen und orthodoxen Kirchen, schlägt in seinen Beschlüssen eine Tonart an, die der des Papstes gleicht. Dabei werden »nicht nur die destruktiven Auswirkungen des Kapitalismus [kritisiert], sondern seine Grundstruktur: eine institutionalisierte Habgier. Die Grundstruktur des Kapitalismus und sein Geist werden als lebens- und überlebensfeindlich und bedrohend analysiert« (Segbers/Wiesgickl 2015, 3). Zwar behaupten sich die deutschen Kirchen gegen die Linie des Papstes und des ökumenischen Rates, aber ihre abnehmende Verankerung in der Gesellschaft einerseits und die aufmerksamkeitsökonomische Überlegenheit des Papstes schaffen in dieser Auseinandersetzung jedoch einen ungewohnten Bekanntheitsvorsprung für die fortschrittliche Seite. Hinzu kommt, dass je mehr die stärkere Verankerung des Christentums im globalen Süden deutlich wird und sich dort häufig als Kapitalismuskritik versteht (vgl. ebd., 4), desto problematischer wird auch der Anspruch des globalen Nordens, die Heimstätte des Christentums zu sein, was hierzulande von Konservativen gern als Argument gegen die Zuwanderung aus mehrheitlich muslimischen Ländern in Stellung gebracht wird. In dem politischen Konflikt Kosmopolitismus gegen Traditionalismus, der in der Bundesrepublik seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 massiv an Bedeutung gewonnen hat, bedienen sich beide ›Pole‹ christlicher Bezüge. Während aufseiten von AfD und PEGIDA das apokalyptische Szenario vom »Untergang des (christlichen) Abendlandes« beschworen wird, zeigten sich die Köpfe der evangelischen Kirche schon einige Zeit weltbürgerlich ›begrünt‹. Anlässlich des Kirchentages 2011, der ausgerechnet in der späteren PEGIDA-Heimat Dresden stattfand, befand ein Kommentar in der tageszeitung, es sei »eher das grüne Denken, das dieses pompöse Christentreffen bestimmte – wenn Sozial- oder Christdemokraten da mithalten konnten, war das in Ordnung, aber was die Agenda anbetrifft, war alles grün durchwirkt« (Cloes u.a. 2011). Die Resolutionen des Kirchentages zeigten eine deutlich linksliberale Couleur, sprachen sie sich doch für erneuerbare Energien aus sowie gegen die Abschiebung von Roma in den Kosovo (»Alle bleiben!»), für mehr Bürgerbeteiligung, »ein Ende des Zwangs zum Wirtschaftswachstum« sowie für »Raum für gleichgeschlechtliche Lebensformen in der Kirche«. Die Verteidigungslinie von Christdemokrat*innen, wonach nur der Funktionärskörper der Kirchen ›grün kontaminiert‹ sei, während an der gesellschaftlichen Basis mehrheitlich weiterhin Vorstellungen von christlich vorherrschten, auf die sich konservative Politik gründen lasse, ist kaum tragfähig. Auch die Zuschreibungen ›von unten‹, außerhalb der organisierten Gläubigen, widersprechen diesem Bild. Laut einer Allensbach-Umfrage glaubten 2012 nur noch Minderheiten in der deutschen Bevölkerung an Jesus Christus als Sohn Gottes, an die Erschaffung der Welt durch Gott, an die Auferstehung und Ähnliches. Vielmehr ist das Christentum heute eine Identitätsfrage, eine Frage individueller und kollektiver Selbstverortung, was sich daran zeigt, dass in Umfragen das Gros der Deutschen durchaus eine Privilegierung der christlichen Religionen gegenüber anderem (vor allem dem Islam) befürwortet, etwa hinsichtlich der Gleichstellung religiös begründeter Feiertage. Die ›Identitätspolitisierung‹ des Christentums ist jedoch für konservative Christdemokrat*innen nur ein sehr begrenzter Trost, denn wie sich »christliche Werte« in politischen Positionen abbilden, weicht durchaus deutlich von der Abbildung »konservativer Positionen« bei denselben Sachfragen ab. 72 Prozent der Befragten identifizierten den »Einsatz für sozial Schwache« mit christlichen Werten, aber nur 25 Prozent mit einer konservativen Position. Den »Einsatz für Länder in der Dritten Welt« sehen 44 Prozent der Befragten als etwas Christliches, aber nur 9 Prozent als typisch konservativ. »Von Ausländern [zu] verlangen, sich an deutsche Kultur anzupassen«, halten 41 Prozent für eine christliche Forderung gegenüber 71 Prozent, die dies als eine konservative Position betrachten. Die Ablehnung der rechtlichen Gleichstellung homosexueller Paare wird von 61 Prozent als eine konservative, aber nur von 33 Prozent als eine christliche Position eingeschätzt. Immerhin 39 Prozent sehen den »Einsatz für einen umfassenden Sozialstaat« als ein christliches, aber nur 15 Prozent als ein konservatives Anliegen. Folgerichtig lautet das Resümee: Die Stichworte konservativ und christlich haben inzwischen unterschiedliche »Assoziationsprofile«. »Ohne dass es in der Öffentlichkeit intensiver diskutiert worden wäre, ist der Begriff der christlichen Politik mit Inhalten aufgeladen worden, die man eher als links oder als linksliberal denn als konservativ bezeichnen kann« (Petersen 2012).

Aus Gegnerlosigkeit folgt Profillosigkeit

Den christdemokratischen Konservatismus plagt also das Dilemma, dass zum Besitzstand vertrauter Routinen, Institutionen und Gewissheiten eine in vielen Punkten sozial- und linksliberalisierte Bundesrepublik gehört – ein ähnliches Dilemma wie das, das aus der zunehmend progressiven Interpretation christlicher Werte ›von oben‹ und ›von unten‹ folgt. Nicht weniger undankbar ist jedoch, dass der Christdemokratie die Gelegenheiten abhandengekommen sind, ihre Positionen an denen von satisfaktionsfähigen politischen Kontrahenten zu schärfen. Für die Identität einer politischen Strömung ein äußerst ärgerliches Dilemma. In seinem klassischen Essay über den Konservatismus als Ideologie charakterisierte Samuel Huntington (1957) diesen als eine »positionale Weltauffassung«. Nach den Grundsätzen des Konservatismus gefragt, würden seine intellektuellen Vertreter nur mit einer sehr kurzen Aufzählung antworten. Des Pudels Kern beim Konservatismus sei, dass er als gesellschafts-, sozialstruktur-, institutionen-, und routinebewahrende Ideologie nur dann von sozialen Kräften als dessen Träger angenommen werde, wenn etwas bewahrt werden müsse gegen den Angriff einer oppositionellen Ideologie. »Die Verteidigung von Institutionen gegen grundlegende Herausforderungen muss dementsprechend in Begriffen erfolgen, die der konservativen Logik folgen und die Unantastbarkeit und Notwendigkeit dieser Institutionen als Institutionen betonen, unabhängig davon, wie stark diese mit den Vorstellungen der einen oder anderen ideellen Philosophie übereinstimmen. Die herausfordernde gesellschaftliche Kraft muss für die Institutionen eine wirkliche und akute Bedrohung darstellen. Die Artikulation einer dissidenten Ideologie allein erzeugt keinen Konservatismus. Voraussetzung dafür ist, dass diese Ideologie von einer Reihe bedeutsamer gesellschaftlicher Gruppierungen aufgegriffen bzw. vertreten wird.« (Ebd., 459; Übers. d. A.) Nun findet sich der Konservatismus in Deutschland derzeit aber in einer Konstellation, in der der Rekurs auf christliche Werte nicht mehr als unangefochten glaubwürdige Krücke für seine Positionen zur Verfügung steht und seine Gefolgschaft angesichts der zunehmenden Säkularisierung schrumpft. Andererseits hat sich die konservative Politik mit ihren sozial- und neoliberalen Bündnispartnern soweit ›zu Tode gesiegt‹, dass es an durchsetzungsfähigen Gegnern mangelt, die die Gesellschafts-, Klassen-, Institutionen- und Routinestrukturen ernsthaft bedrohen könnten. Die diversen Häutungs- und Anpassungsprozesse bei den parteipolitischen Konkurrenten der Christdemokratie, bei der Sozialdemokratie und bei den Bündnisgrünen, haben eine Situation herbeigeführt, in der nur noch die Parteien DIE LINKE und die AfD ernsthaft den Status quo infrage stellen. In der Bundesrepublik hat eine beträchtliche Ausweitung der Konsenszone in verschiedenen Politikbereichen stattgefunden: Die Union bestreitet nicht mehr den Fakt, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, dafür machen SPD und Grüne erhebliche Asylrechtsbeschränkungen mit. Die Union rückt von der Verkürzung der Gymnasialzeit ab, während SPD und Grüne jeden Anspruch aufgegeben zu haben scheinen, das ungleichheitsverschärfende mehrgliederige Schulsystem zu überwinden. Die Union akzeptiert das gewandelte Leitbild des Wohlfahrtsstaates, weg vom Modell des männlichen Ernährers mit bestenfalls zuverdienender Ehegattin hin zum Doppelverdiener-Modell, während SPD und Grüne, wie beim Elterngeld geschehen, akzeptieren, dass dieser Übergang die Besserverdienende privilegiert usw. So hat sich im politischen Spiel in Deutschland noch weit über die konsensgeprägte politische Kultur und Struktur hinaus ein Gleichgewicht der Angriffshemmungen eingestellt, das selbst eine Bundestagswahl nicht zu zerstören mag. Einen plausiblen Begriffsvorschlag aufgreifend, kann man festhalten: Konservatismus als Ideologie oder »nominaler« Konservatismus erwacht, agitiert, schärft sich und mobilisiert anhand und in Gegnerschaft zu einer Idee, die die Institutionen angreift und die Massen ergreift, weil er den Status quo als solchen für schützenswert hält. Die Gelegenheit entfällt, wenn sich seine potenziellen Gegner nicht als ideologische Herausforderer, sondern als »adjektivische« Konservative aufstellen, das heißt als konservative Liberale, Sozialdemokraten oder Grüne, die zwar nicht den Status quo als solchen per se schätzen, aber aus Ungewissheit über die Folgen von Reformen, aus Angst vor Konflikt oder aus Unwillen, gegnerische Interessen anzugreifen, von einer Infragestellung des Bestehenden absehen (vgl. Beckstein 2015, 11f.). Das dritte Spannungsfeld besteht also paradoxerweise in der Spannungsarmut, die die politische Landschaft in der Bundesrepublik kennzeichnet. In dieser Konstellation ist Angela Merkel als Bundeskanzlerin vielleicht noch viel repräsentativer für dieses Land, als es ihre Kritiker*innen sich eingestehen können.

Literatur

Beckstein, Martin, 2015: What does it take to be a true conservative?, in: Global Discourse 1/2015, 4–21 Cloes, Rasmus/Feddersen, Jan/Gessler, Philipp, 2011: Gott muss ein Grüner sein. Bilanz des Kirchentages in Dresden, in: die tageszeitung, 5.6.2011. Huntington, Samuel P., 1957: Conservatism as an Ideology, in: American Political Science Review 2/1957, 454–473 Kalyvas, Stathis N./Kersbergen, Kees van, 2010: Christian Democracy, in: Annual Review of Political Science, Juni 2010, 183–209 Kersbergen, Kees van, 1999: Contemporary Christian democracy and the demise of the politics of mediation, in: Kitschelt, Herbert u.a. (Hg), Continuity and Change in Contemporary Capitalism, Cambridge, 346–370 Marx, Karl/Engels, Friedrich, 1848: Manifest der Kommunistischen Partei, in: dies., Werke (MEW), Bd. 4, 6. Auflage 1972, Berlin/DDR, 459–493 Oakeshott, Michael, 1962: On Being Conservative, in: ders., Rationalism in Politics and Other Essays, London, 168–196 Ockenfels, Wolfgang, 2017: Das hohle C. Über Angela Merkels politisches Christentum, in: Plickert, Philip (Hg.), Merkel. Eine kritische Bilanz, München, 38–49 Petersen, Thomas, 2012: Deutsche Fragen – deutsche Antworten. Christentum und Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.9.2012, 8 Plickert, Philip (Hg.), 2017: Merkel. Eine kritische Bilanz, München Segbers, Franz/Wiesgickl, Simon, 2015: »Diese Wirtschaft tötet«. Über eine verdrängte und verschwiegene Übereinstimmung der Kirchen, in: Sozialismus 7-8/2015, 2–6 Strobl, Thomas, 2012: Maß und Mitte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.7.2012, 7 Touchard, Jean, 1977: La gauche en France depuis 1900, Paris, 16