BÜNGER: 2015 darf sich nicht wiederholen, das ist die erklärte Absicht der europäischen Regierungen und daran orientiert sich auch die GEAS-Reform. Insbesondere migrationsfeindliche Regierungen wie in den Visegrád-Staaten haben den Diskurs nach rechts verschoben. Für die politische Umsetzung sind aber die mächtigen Player wie Deutschland verantwortlich. Die Ampel setzt sich auf EU-Ebene dafür ein, sogenannte Sekundärmigration um jeden Preis zu verhindern, anders als im Koalitionsvertrag vereinbart.
2015 schien es durchaus eine gesellschaftliche Mehrheit zu geben, die Flüchtlinge aufnehmen wollte. Was ist passiert?
KASPAREK: Der Diskurs hat sich massiv verschoben. Nach 2015 war die Willkommensbewegung öffentlich wenig sichtbar, weil die konkrete Unterstützungsarbeit viele Kapazitäten gebunden hat. Die Rechten haben sich das Thema angeeignet und damit große Diskursmacht aufgebaut. Obwohl sich die Anzahl der Geflüchteten nach 2015 „normalisiert“ hat, ist der vermeintliche Skandal der Migration in ganz Europa Dauerthema. Das hat eine enorme Wirkung auf die etablierten konservativen Parteien, die überall im Niedergang sind und nun nach rechts rücken. Und nicht nur die, auch Teile der Sozialdemokratie sind bereit, das Spiel der Rechten zu spielen, siehe das Beispiel Dänemark oder die Äußerungen von Sigmar Gabriel.
Wie erklärt sich das Umschwenken, ja Einknicken von SPD und vor allem Grünen in der Asylpolitik?
BÜNGER: Aus den Reihen der Grünen habe ich tatsächlich gehört, man könne dem Faschismus in Europa nur begegnen, wenn man den Rechten ein Stück entgegenkommt und die Zahl der Asylsuchenden begrenzt. Das ist der Tenor von Lang und Nouripour, die eine „Rückführungsoffensive“ fordern bis zu Annalena Baerbock, die die GEAS-Reform inzwischen offensiv verteidigt. Statt den Rechten politisch die Grundlage zu entziehen, machen sie Kompromisse, die deren Positionen enthalten – dadurch machen sie schließlich selbst rechte Politik. Es ist die gleiche Argumentation, mit der schon 1993 der sogenannte Asylkompromiss in Deutschland begründet wurde. Sie war schon damals grundfalsch.
Warum?
BÜNGER: Abschottung nach außen und rechtsautoritäre Formierung nach innen bedingen und verstärken sich gegenseitig. Es geht niemals „nur“ um Migration und die Rechte Schutzsuchender. Es geht darum, den Grundpfeiler einer autoritären Gesellschaftsordnung zu errichten. Dieses Projekt trifft auf immer breitere Resonanz. Es schafft neue Allianzen, von Migrationsfeinden über Corona-Leugner*innen bis zu rechten Umsturzprojekten. Es geht ums große Ganze. Darum darf man an dieser Front nicht einknicken und muss das Recht auf Asyl entschlossen verteidigen.
Wie wird diese Entwicklung weitergehen? Was ist das Ziel der Rechten?
KASPAREK: Das GEAS soll die Anzahl der Ankommenden reduzieren, das ist das zentrale Argument. Aber ich bin sicher: Das wird nicht passieren – und auch die Sekundärmigration wird nicht nachlassen. Denn weil es kein solidarisches Modell der Umverteilung gibt, fehlt den Staaten im Süden der EU der Anreiz, die Pläne umzusetzen. Das GEAS wird das vermeintliche Problem also nicht lösen. Dann werden die Rechten immer weiter skandalisieren können, was sie hassen: Europa funktioniere nicht, und die Migration müsse gestoppt werden. Womöglich steht dann eine noch weitgehendere autoritäre Wende an, wie es die Vorstöße von Thorsten Frei und Jens Spahn (beide CDU) schon andeuten: die vollständige Abkehr vom Grundrecht auf Asyl. Das wäre eine Entwicklung, die sich kaum zurückdrehen lässt.
BÜNGER: „Irreguläre“ Migration beenden ist eine leere Versprechung. Die Ankunftszahlen werden nie bei null sein. Solange es Fluchtursachen gibt, hören Fluchtbewegungen nicht einfach auf. Wenn die Politik das als Ziel setzt, und dieses Ziel unerreichbar ist – dann gehen die Rhetorik und Politik der Entrechtung immer weiter. Die Rechten wissen das. Sie können ihre Politik der Angst die nächsten 20 Jahre darauf aufbauen. Doch das verstehen SPD und Grüne nicht und kommen ihnen immer weiter entgegen.
KASPAREK: Es ist wie bei dem Thema der so genannten Inneren Sicherheit, einem anderen rechten Wahlkampfschlager. Eine absolute Sicherheit wird sich nie erreichen lassen. Also kann man immer mehr Polizei fordern und damit immer Zustimmung gewinnen. Auch hier gilt: Die sozialen Wurzeln von Kriminalität angehen, Entkriminalisierung befördern. Das wäre der andere, der linke Weg.
BÜNGER: Das sehen wir auch als ein Problem in der LINKEN. Teile der Partei haben bei der Migration dieses Spiel mitgespielt, „verwirktes Gastrecht“ etc. Aber bei der Kriminalität sind wir bis jetzt stabil und fordern Prävention und Entkriminalisierung. Darum geht es doch: Stabil bleiben. Nicht der autoritären Formierung erliegen, sich der Repression von antifaschistischen, antirassistischen, klimabewegten Kräften entgegenstellen und linke Gegenstrukturen stärken.
In den letzten Jahren gab es viele Proteste, von #unteilbar bis #Seebrücke. Nun ist es still. Warum regt sich nicht mehr Widerstand gegen die GEAS-Reform und die rechte Asyldebatte?
BÜNGER: Ein Problem ist, dass viele ihre Hoffnungen in diese Regierung gesetzt haben. Sie haben sich darauf verlassen, dass mit den Grünen an der Regierung eine solche Reform unmöglich ist. Wenn eine Partei sich jahrelang zur Repräsentantin der Bewegungen macht und dann einen solchen Angriff mitträgt, ist es schwerer, Widerstand zu organisieren.
KASPAREK: Es ist inzwischen auch extrem schwierig geworden, überhaupt die politischen Zusammenhänge zu überblicken. Bei der Grundgesetzänderung zum Asylkompromiss 1993 waren Tausende Menschen in Bonn und haben versucht, die Bannmeile zu stürmen. Allen war klar, worum es geht. Die GEAS-Reform ist dagegen schwer vermittelbar. Was ist ein Trilog? Was macht der Rat der Innenminister*innen? Was ist die Rolle des Parlaments und der Kommission? All das findet 2 000 Kilometer entfernt statt. Dadurch war es schwer, frühzeitig gegen die GEAS-Reform zu mobilisieren.
BÜNGER: Erst recht, weil die Bundesregierung selbst gezielt Desinformation streut. Nancy Faeser hat versichert, dass Menschen aus Syrien nicht in die Grenzverfahren kommen würden – das ist faktisch falsch. Durch die Verdrehung von Tatsachen wird die GEAS-Reform als Schritt dargestellt, um Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen zu verhindern. Da haben sich die Diskurse komplett von der Realität entkoppelt.
Das heißt es ist nicht einfach eine Frage der Abstumpfung, wenn der Protest ausbleibt?
BÜNGER: Wir erleben eine riesige Ermüdung, aber auch Stigmatisierung und Kriminalisierung all derjenigen, die sich engagieren. Hilfsorganisationen werden als Schlepper verleumdet, es gibt Repression und Desinformation. Das sind auch Gründe, warum nicht Zehntausende auf die Straße gehen. Natürlich leisten viele immer noch Unglaubliches. Sie dokumentieren Pushbacks, begleiten Menschen in Abschiebeverfahren. Aber es erzeugt keinen gesellschaftlichen Druck. Und das resultiert in großer Hilflosigkeit. Ich glaube, dass viele in der Bewegung im Moment reflektieren, wie sie damit umgehen und wieder effektiv werden können.
KASPAREK: An den Außengrenzen werden systematisch und alltäglich grundlegende Menschenrechte verletzt sowie Völkerrecht und europäisches Recht gebrochen. Das ist ein Skandal. Es müsste eigentlich einen Aufschrei geben. Doch vielen erscheint es eher als tragisches Geschehen ohne Folgen. Und mittlerweile werden wir aktiv aufgefordert, uns daran zu gewöhnen. So als wären Menschenrechte nur „nice to have“. Dabei ist das eine fundamentale Krise der europäischen Demokratie, die alle Bürger*innen Europas über kurz oder lang treffen wird und auch unsere Grundrechte infrage stellt.