Die europäischen Regierungen haben sich auf die Reform des gemeinsamen Asylsystems GEAS geeinigt. Sie ermöglicht Inhaftierungen und Schnellverfahren an den Außengrenzen für einen Großteil von Geflüchteten. Ist das ein Dammbruch? 

Bernd Kasparek: Es ist noch nicht klar, wie die Umsetzung aussieht. Trotzdem würde ich sagen, ja, das ist eine Zäsur. Denn es bedeutet die Abkehr vom individuellen Rechtsanspruch auf Zugang zu einem Asylverfahren. 


Clara Bünger: Die Praxis der Entrechtung gibt es schon heute an den Außengrenzen der EU. Mit dem rechtlich fragwürdigen EU-Türkei-Deal sind in den griechischen Hotspots Lager entstanden, wo Menschen teils jahrelang unter unwürdigen Bedingungen ausharren. Dass die Reform die systematische Entrechtung in Lagern wie Moria nun verrechtlichen soll – das ist die Zäsur. 

 


⇒ Die Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurde vom Europäischen Rat vereinbart und soll bis April 2024 in Abstimmung mit dem EU-Parlament verabschiedet werden. Sie soll Asylverfahren an die Außengrenzen verlagern. Wer aus Ländern mit geringen Anerkennungsquoten kommt oder über „sichere Drittstaaten“ einreist, darf im Schnellverfahren abgewiesen werden. Durch die Ausweitung der Drittstaatregeln wird das einen Großteil von Geflüchteten treffen. Eine Krisenverordnung ermöglicht zudem, die Regeln auszuweiten, Haftzeiten zu verlängern und direkte Abschiebungen vorzunehmen.


Ist das ein autoritärer Kipppunkt, also eine Veränderung, die unsere Demokratie langfristig bedroht? 

BÜNGER: Ja, wenn das so durchkommt, wird es schwer bis unmöglich, diese Rechte zurückzugewinnen, erst recht unter diesen politischen Verhältnissen. Die Reform wird juristischen Kämpfen, die seit Jahren zum Schutz von Migrant*innen geführt werden, die Grundlage entziehen. Auch wenn diese Auseinandersetzungen auf EU-Ebene heute schon schwierig sind und Urteile oft keine Konsequenzen haben, fehlt dann der Hebel, um Rechtsbrüche überhaupt zu ahnden oder zu skandalisieren. 

Wer sind die treibenden Kräfte der Reform?

KASPAREK: Der Prozess zeichnet sich seit 2015 ab. Das EU-Grenzregime, das man teils gegen die Interessen einzelner Mitgliedstaaten aufgebaut hatte, konnte den Sommer der Migration nicht verhindern. Seitdem machen die EU-Mitgliedstaaten verstärkt, was sie wollen und das neue Paket stellt ihnen nun in vielen Fragen frei, wie sie agieren. Das führt zu einer hochproblematischen Zersplitterung der Asylsysteme. 

 

»Den Rechten geht es nicht nur um Migration, sie wollen einen autoritären Umbau Europas.« (Bernd Kasparek)

BÜNGER: 2015 darf sich nicht wiederholen, das ist die erklärte Absicht der europäischen Regierungen und daran orientiert sich auch die GEAS-Reform. Insbesondere migrationsfeindliche Regierungen wie in den Visegrád-Staaten haben den Diskurs nach rechts verschoben. Für die politische Umsetzung sind aber die mächtigen Player wie Deutschland verantwortlich. Die Ampel setzt sich auf EU-Ebene dafür ein, sogenannte Sekundärmigration um jeden Preis zu verhindern, anders als im Koalitionsvertrag vereinbart. 

2015 schien es durchaus eine gesellschaftliche Mehrheit zu geben, die Flüchtlinge aufnehmen wollte. Was ist passiert? 

KASPAREK: Der Diskurs hat sich massiv verschoben. Nach 2015 war die Willkommensbewegung öffentlich wenig sichtbar, weil die konkrete Unterstützungsarbeit viele Kapazitäten gebunden hat. Die Rechten haben sich das Thema angeeignet und damit große Diskursmacht aufgebaut. Obwohl sich die Anzahl der Geflüchteten nach 2015 „normalisiert“ hat, ist der vermeintliche Skandal der Migration in ganz Europa Dauerthema. Das hat eine enorme Wirkung auf die etablierten konservativen Parteien, die überall im Niedergang sind und nun nach rechts rücken. Und nicht nur die, auch Teile der Sozialdemokratie sind bereit, das Spiel der Rechten zu spielen, siehe das Beispiel Dänemark oder die Äußerungen von Sigmar Gabriel.

Wie erklärt sich das Umschwenken, ja Einknicken von SPD und vor allem Grünen in der Asylpolitik? 

BÜNGER: Aus den Reihen der Grünen habe ich tatsächlich gehört, man könne dem Faschismus in Europa nur begegnen, wenn man den Rechten ein Stück entgegenkommt und die Zahl der Asylsuchenden begrenzt. Das ist der Tenor von Lang und Nouripour, die eine „Rückführungsoffensive“ fordern bis zu Annalena Baerbock, die die GEAS-Reform inzwischen offensiv verteidigt. Statt den Rechten politisch die Grundlage zu entziehen, machen sie Kompromisse, die deren Positionen enthalten – dadurch machen sie schließlich selbst rechte Politik. Es ist die gleiche Argumentation, mit der schon 1993 der sogenannte Asylkompromiss in Deutschland begründet wurde. Sie war schon damals grundfalsch.

Warum? 

BÜNGER: Abschottung nach außen und rechtsautoritäre Formierung nach innen bedingen und verstärken sich gegenseitig. Es geht niemals „nur“ um Migration und die Rechte Schutzsuchender. Es geht darum, den Grundpfeiler einer autoritären Gesellschaftsordnung zu errichten. Dieses Projekt trifft auf immer breitere Resonanz. Es schafft neue Allianzen, von Migrationsfeinden über Corona-Leugner*innen bis zu rechten Umsturzprojekten. Es geht ums große Ganze. Darum darf man an dieser Front nicht einknicken und muss das Recht auf Asyl entschlossen verteidigen.

Wie wird diese Entwicklung weitergehen? Was ist das Ziel der Rechten?

KASPAREK: Das GEAS soll die Anzahl der Ankommenden reduzieren, das ist das zentrale Argument. Aber ich bin sicher: Das wird nicht passieren – und auch die Sekundärmigration wird nicht nachlassen. Denn weil es kein solidarisches Modell der Umverteilung gibt, fehlt den Staaten im Süden der EU der Anreiz, die Pläne umzusetzen. Das GEAS wird das vermeintliche Problem also nicht lösen. Dann werden die Rechten immer weiter skandalisieren können, was sie hassen: Europa funktioniere nicht, und die Migration müsse gestoppt werden. Womöglich steht dann eine noch weitgehendere autoritäre Wende an, wie es die Vorstöße von Thorsten Frei und Jens Spahn (beide CDU) schon andeuten: die vollständige Abkehr vom Grundrecht auf Asyl. Das wäre eine Entwicklung, die sich kaum zurückdrehen lässt. 


BÜNGER: „Irreguläre“ Migration beenden ist eine leere Versprechung. Die Ankunftszahlen werden nie bei null sein. Solange es Fluchtursachen gibt, hören Fluchtbewegungen nicht einfach auf. Wenn die Politik das als Ziel setzt, und dieses Ziel unerreichbar ist – dann gehen die Rhetorik und Politik der Entrechtung immer weiter. Die Rechten wissen das. Sie können ihre Politik der Angst die nächsten 20 Jahre darauf aufbauen. Doch das verstehen SPD und Grüne nicht und kommen ihnen immer weiter entgegen. 


KASPAREK: Es ist wie bei dem Thema der so genannten Inneren Sicherheit, einem anderen rechten Wahlkampfschlager. Eine absolute Sicherheit wird sich nie erreichen lassen. Also kann man immer mehr Polizei fordern und damit immer Zustimmung gewinnen. Auch hier gilt: Die sozialen Wurzeln von Kriminalität angehen, Entkriminalisierung befördern. Das wäre der andere, der linke Weg. 


BÜNGER: Das sehen wir auch als ein Problem in der LINKEN. Teile der Partei haben bei der Migration dieses Spiel mitgespielt, „verwirktes Gastrecht“ etc. Aber bei der Kriminalität sind wir bis jetzt stabil und fordern Prävention und Entkriminalisierung. Darum geht es doch: Stabil bleiben. Nicht der autoritären Formierung erliegen, sich der Repression von antifaschistischen, antirassistischen, klimabewegten Kräften entgegenstellen und linke Gegenstrukturen stärken.

In den letzten Jahren gab es viele Proteste, von #unteilbar bis #Seebrücke. Nun ist es still. Warum regt sich nicht mehr Widerstand gegen die GEAS-Reform und die rechte Asyldebatte? 

BÜNGER: Ein Problem ist, dass viele ihre Hoffnungen in diese Regierung gesetzt haben. Sie haben sich darauf verlassen, dass mit den Grünen an der Regierung eine solche Reform unmöglich ist. Wenn eine Partei sich jahrelang zur Repräsentantin der Bewegungen macht und dann einen solchen Angriff mitträgt, ist es schwerer, Widerstand zu organisieren.


KASPAREK: Es ist inzwischen auch extrem schwierig geworden, überhaupt die politischen Zusammenhänge zu überblicken. Bei der Grundgesetzänderung zum Asylkompromiss 1993 waren Tausende Menschen in Bonn und haben versucht, die Bannmeile zu stürmen. Allen war klar, worum es geht. Die GEAS-Reform ist dagegen schwer vermittelbar. Was ist ein Trilog? Was macht der Rat der Innenminister*innen? Was ist die Rolle des Parlaments und der Kommission? All das findet 2 000 Kilometer entfernt statt. Dadurch war es schwer, frühzeitig gegen die GEAS-Reform zu mobilisieren.


BÜNGER: Erst recht, weil die Bundesregierung selbst gezielt Desinformation streut. Nancy Faeser hat versichert, dass Menschen aus Syrien nicht in die Grenzverfahren kommen würden – das ist faktisch falsch. Durch die Verdrehung von Tatsachen wird die GEAS-Reform als Schritt dargestellt, um Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen zu verhindern. Da haben sich die Diskurse komplett von der Realität entkoppelt.  

Das heißt es ist nicht einfach eine Frage der Abstumpfung, wenn der Protest ausbleibt? 

BÜNGER: Wir erleben eine riesige Ermüdung, aber auch Stigmatisierung und Kriminalisierung all derjenigen, die sich engagieren. Hilfsorganisationen werden als Schlepper verleumdet, es gibt Repression und Desinformation. Das sind auch Gründe, warum nicht Zehntausende auf die Straße gehen. Natürlich leisten viele immer noch Unglaubliches. Sie dokumentieren Pushbacks, begleiten Menschen in Abschiebeverfahren. Aber es erzeugt keinen gesellschaftlichen Druck. Und das resultiert in großer Hilflosigkeit. Ich glaube, dass viele in der Bewegung im Moment reflektieren, wie sie damit umgehen und wieder effektiv werden können. 


KASPAREK: An den Außengrenzen werden systematisch und alltäglich grundlegende Menschenrechte verletzt sowie Völkerrecht und europäisches Recht gebrochen. Das ist ein Skandal. Es müsste eigentlich einen Aufschrei geben. Doch vielen erscheint es eher als tragisches Geschehen ohne Folgen. Und mittlerweile werden wir aktiv aufgefordert, uns daran zu gewöhnen. So als wären Menschenrechte nur „nice to have“. Dabei ist das eine fundamentale Krise der europäischen Demokratie, die alle Bürger*innen Europas über kurz oder lang treffen wird und auch unsere Grundrechte infrage stellt.

 

»Stabil bleiben. Darum geht es doch. Nicht der autoritären Formierung erliegen, sondern die Gegenstrukturen stärken.« (Clara Bünger)

BÜNGER: Ja, und darum ist der Vorwurf des Moralismus in der Migrationsfrage, der auch von selbsterklärten Linken kommt, so problematisch. Wenn wir nicht sehen, wie sich hier rechte Allianzen bilden und Angriffe verdichten, können wir nicht reagieren. Es geht um eine autoritäre Formierung in allen Bereichen – von der Hetze gegen Armutsbetroffene über die Repression gegen Klimaaktivisten oder Antifaschisten bis zum Angriff auf das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. 


KASPAREK: Ich kann das nur unterstreichen: Den Rechten geht es nicht nur um Migration, sie wollen einen autoritären Umbau Europas. Ein Europa der Nationen, im Sinne einer europäischen Konföderation – das ist ein eigenes, anderes europäisches Projekt. Den linken Bewegungen hat in den letzten Jahren eine alternative Vision von Europa gefehlt. 

Wie müsste die aussehen?

KASPAREK: Ein Europa, das weniger von den Nationalstaaten und stärker von unten, von den Kommunen her funktioniert. Mit mehr Demokratie und dem Aufbau einer europäischen Sozialunion. Dann könnten wir Migration und Aufnahme ganz anders verhandeln. Heute stecken wir fest im Korsett dieser EU mit ihren Demokratiedefiziten. Das ist ein System, das man kaum gegen die Verschärfungen verteidigen will. Dennoch: Viele Strukturen könnten funktionieren, das hat die Aufnahme der Menschen aus der Ukraine gezeigt. Da haben öffentliche Infrastrukturen und zivilgesellschaftliches Engagement gut zusammengewirkt. 


BÜNGER: Damit das gelingen kann, müssen wir aber die materiellen Voraussetzungen für resiliente Kommunen schaffen. Denn die sind überall in der Krise. In den größeren Städten gibt es einen großen Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Auf dem Land schließen die Einrichtungen und die Menschen ziehen weg. 


KASPAREK: Absolut. Wohnungen sind knapp, soziale Infrastrukturen wurden abgebaut, wir schaffen es nur mit Ach und Krach, regionale Mobilität zu ermöglichen. Wenn da mehr Leute dazukommen, wird es natürlich schwieriger. Aber das hat ja nichts mit Migration, sondern mit 30 Jahren Neoliberalismus zu tun. Deshalb müssen wir schauen: Wie kann das Leben vor Ort für alle besser werden? Wenn wir die Mieten deckeln, neue Freibäder bauen, Schulen besser ausstatten und mehr Angebote schaffen für Bildung und Beratung, dann profitieren alle davon. 

Bernd, für deine Arbeit ist das Konzept der „Autonomie der Migration“ zentral, das die Handlungsmacht von Geflüchteten betont. Was bleibt davon in einem fast schon totalitären Grenzregime?

KASPAREK: Der Ansatz sagt erst eimal nur, dass Geflüchtete nicht einfach passiv sind, getrieben von den objektiven Bedingungen in den Herkunftsländern, sondern dass Migration ein aktiver Vorgang ist, der immer auch von einem Begehren angetrieben ist. In der Bewegung der Migration, auch wenn sie nicht als solche organisiert ist, entstehen Vorstellungen davon, wie die Welt verfasst sein sollte. Sie drücken sich darin aus, dass Menschen sich das Recht nehmen, Grenzen zu überschreiten und ein neues Zuhause zu suchen. 

Aber haben sie aktuell noch diese Möglichkeit?

KASPAREK: Abschottung ist nie absolut, das sehen wir jetzt gerade an den steigenden Zahlen. Migration wird weiter stattfinden. Sie ist geprägt von staatlichem Handeln, klar, es wird mehr Leid, mehr Einsperrung geben. Aber sie wird dadurch nicht unterbunden. Darum müssen wir sie entkriminalisieren. Es geht nicht darum, die Internierung an den Außengrenzen humaner zu gestalten, sondern Migration als Grundbedingung von Gesellschaft zu akzeptieren. 

Was würde das bedeuten? 

KASPAREK: Wir können die Frage nicht von den massiven Umbrüchen unserer Gesellschaften trennen – von der Digitalisierung bis zu Krieg und Umweltkrisen. Wir müssen neue Formen finden, als Migrationsgesellschaft damit umzugehen. Auf der nationalen Ebene allein geht das nicht. Wenn wir uns abschotten und Menschen dafür sterben lassen, dann ist das eine kurzsichtige und fatale Weise, mit Krisen umzugehen. Sie verweigert sich letztendlich der Notwendigkeit, die globalen Krisen anzugehen und solidarische Lösungen zu suchen. Und die brauchen wir nicht nur in der Migration, sondern auch in der Klimafrage und natürlich in Bezug auf die extrem wachsende soziale und ökonomische Ungleichheit. Für mich bedeutet es, die Demokratie in globaler Perspektive neu zu erfinden.


BÜNGER: Soziale Ungleichheit ist ein wichtiges Stichwort. Fluchtpolitik ist auch Klassenpolitik. Die Menschen, die im Iran die Ölraffinerien bestreiken, die riskieren ihr Leben. Sie müssen unter Umständen am Ende auch in die EU fliehen. Sie sind Arbeiter*innen, unsere Genoss*innen, die bei uns Schutz suchen. Das müssen wir als Linke und auch in den Gewerkschaften noch stärker begreifen. Wir müssen eine Politik machen, die die Menschen als Subjekte, als Teil dieser Gesellschaft adressiert. 


Das Gespräch führte Hannah Schurian.

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