Trong, du bist schon lange in antirassistischen Zusammenhängen in Sachsen aktiv. Wie hat sich diese Arbeit über die Zeit verändert?

TRONG: In den letzten Jahren gab es eine antirassistische Konjunktur, die eng mit den Konjunkturen der tödlichen Gewalt und Unterdrückung verknüpft war. Denken wir an die Ermordung von George Floyd, an die Anschläge von Halle und Hanau oder an die Hetze nach dem Sommer der Migration. In dieser Zeit sind aber auch wichtige antirassistische Allianzen entstanden – etwa die Besetzung des Oranienplatzes in Berlin, das No-Border-Movement, das Netzwerk We’ll Come United oder auch das NSU-Tribunal, das zum ersten Mal eine Art postmigrantischer Erinnerungskultur sichtbar gemacht hat. Auch auf einer institutionellen Ebene hat sich einiges bewegt. Ferda Ataman ist 2022 zur unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung berufen worden, das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) wurde in Berlin gegründet und vieles mehr. Gleichzeitig sehe ich große Unterschiede zwischen Ost und West und zwischen städtischem und ländlichem Raum.

Inwiefern?

TRONG: In den Städten gibt es eine Normalisierungstendenz. Es wird anerkannt, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben und dass es Rassismus gibt. Aber das reicht nicht, um volle Teilhabe zu erkämpfen und Macht umzuverteilen. Aktivismus und Bewegungspolitik bleiben auf diese städtischen Räume beschränkt. Rassistische Anschläge im ländlichen Raum hingegen, gerade im Osten, werden oft einfach hingenommen, es fehlt an Empörung und Widerstand. Ich beobachte hier eine große Abstumpfung.

Was wäre nötig, um das zu ändern?

TRONG: Es bräuchte handlungsfähigere politische Akteure und ein stärkeres gesellschaftliches Bewusstsein. Um da hinzukommen, ist zuallererst eine ermächtigende Community-Arbeit wichtig, die diejenigen ins Zentrum stellt, die im Alltag von Rassismus betroffen sind. Ein Beispiel dafür ist die Swarming Tour 2019 von We’ll Come United im Vorfeld der #unteilbar-Demo in Dresden. Aktive fuhren damals in Orte, wo Geflüchtete untergebracht wurden, informierten und luden zu ihren Aktivitäten ein. Das Konzept zielt auf Vernetzung, Austausch, Ermutigung und Ermächtigung. So sind Regionalgruppen entstanden, die sich gegenseitig stärken, eine Gegenkultur leben und in die alltäglichen Kämpfe gegen Rassismus und Abschiebung, für Bleiberechte und Bewegungsfreiheit eingebunden sind.

Wie gelingt es unter so schwierigen Bedingungen, vor Ort antirassistische Politik zu machen?

TRONG: Ich denke, dass selbstorganisierte Migrant*innenbeiräte eine wichtige Rolle spielen können, wenn es darum geht, eine andere Migrationspolitik von der kommunalen Ebene her zu entwickeln. Bisher haben sie in Sachsen noch zu wenig Einfluss auf die Kommunalpolitik. Es wäre aber lohnenswert, diese Strukturen zu stärken und sie schrittweise mit Rechten und Ressourcen auszustatten, um auf der lokalen Ebene Teil politischer Aushandlungsprozesse zu sein. Im Bereich Flucht gibt es viele Unterstützungsgruppen oder Institutionen, die letztlich einen paternalistischen Ansatz verfolgen. Wir brauchen aber dringend Strukturen, die die Menschen ermächtigen, für sich selber zu sprechen. Der Migrant*innenbeirat hier in Leipzig hat zum Beispiel gerade ein eigenes House of Resources erstritten, einen zentralen Ort der Begegnung und des Lernens. Das ist noch kein Durchbruch, aber ein Anfang.

Glaubst du, dass solche Institutionen reale Partizipation ermöglichen?

TRONG: Ich verstehe antirassistische Politiken auch als Beziehungsarbeit und als Antwort auf Alltagsprobleme: Wohnen, Gesundheit, Bildung, Schutz vor Gewalt. Wenn wir die Selbstermächtigung der Menschen unterstützen wollen, die Rassismus erfahren, dann müssen auch Räume geschaffen werden, in denen diese Themen von Migrant*innen diskutiert und bearbeitet werden können. Migrationsbeiräte haben oft direktere Bezüge und mehr Wissen zu migrantischen Communitys als deutsche linke Gruppen und können deshalb ein wichtiger Ansatzpunkt sein. Um etwas bewirken zu können, müssen diese Orte aber angemessen ausgestattet werden. Dafür braucht es Druck von der Straße und in den Parlamenten. Das wäre ein wichtiges Handlungsfeld für linke antirassistische Gruppen, auch für linke Parteien.

Wenn es um Rassismus in Ostdeutschland geht, stehen meist die Jahre nach der Wende im Fokus. Danilo, du bist in der DDR aufgewachsen. Wie war deine Erfahrung vor dem Mauerfall?

DANILO: In der DDR wurde ich überall sehr schnell als »anders« erkannt und abgesondert, mal aus Naivität, mal aus Bösartigkeit. Ich hatte kaum Freundschaften jenseits der weißen Mehrheitsgesellschaft. Es gab weder Worte für Rassismuserfahrungen noch eigene Communitys, wo man hätte unterschlüpfen können. Wir waren uns selbst überlassen, die eigene Situation zu erkennen. Klar gab es auch solidarische Menschen, doch das Modell der Vertragsarbeit, dem die Migration im realen Sozialismus ab den 1970er-Jahren folgte, war zutiefst rassistisch und kolonial geprägt. Das wurde nicht reflektiert und ließ sich darum auch nicht überwinden.

Wie hat sich das mit der Wende verändert?

DANILO: Mit der vermeintlich friedlichen Revolution ging für Menschen wie mich ein Alltagsrassismus einher, den man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Es waren Jahre der offenen Gewalt, in denen es buchstäblich ums Überleben ging. Aber es geschah auch etwas sehr Interessantes: Aus den Vertragsarbeiter*innen, die sich bis dahin nur im Betrieb organisiert hatten, wurde eine tatsächliche Community. Es entstand ein neuer Kommunikations- und Resonanzraum, die Leute gewannen an Selbstbewusstsein.

Wie kam das?

DANILO: In den 1990ern mussten und wollten die Menschen aus den zentralen Wohnstätten ausziehen. Viele konnten ihre Familien nachholen oder durften endlich Kinder haben. Sie konnten sich wirtschaftlich stabilisieren, auch wenn es furchtbar prekär war. Durch die Abwanderung in den Westen wurden massenhaft Wohnungen frei und viele zogen in dieselben Quartiere. Diese selbstgewählte Segregation bot Vorteile: Es gab nachbarschaftliche Hilfe und man konnte sich gemeinsam besser gegen Anschläge schützen.

Mein Vater hat mir erzählt, dass sie sich damals in Dresden immer nur in Gruppen von mindestens sechs Menschen durch die Stadt bewegt haben – als Selbstschutz.

DANILO: Ja, bei mir waren es Gruppen von Jugendlichen, die durch die räumliche Nähe schnell zusammenfanden. Nicht nur als PoC, sondern als Metalheads oder Punks oder was wir sonst noch waren. Wir wollten die Welt verändern und waren ständig bedroht. Mit Schwarzen Freund*innen habe ich damals Zettel an alle verteilt, die wir als PoC gelesen haben: »Geht nie mit weniger als fünf Leuten auf die Straße« stand darauf. Wir nannten uns zwar nicht Antifa, haben uns aber als Verteidigungsgruppe begriffen. Tatsächlich konnten wir uns so einen gewissen Respekt verschaffen. Diesen Kampf um Respekt kannten wir von unseren Eltern. Sie mussten allerdings versuchen, durch Leistung, über erfolgreiche Geschäfte oder durch Nachbarschaftsarbeiten Anerkennung zu erlangen.

Gab es auch eine politische Organisierung, die über praktische Hilfe hinausging?

DANILO: Das nahm in den Nullerjahren zu, erst in den einzelnen Communitys, dann auch communityübergreifend. Den Leuten wurde bewusst, dass sie Rechte haben, und viele Verbände der migrantischen Selbstorganisation forderten Beteiligung ein. Die breite Politisierung erfolgte dann 2010 und 2015 mit dem Widerstand gegen die neuen rechten Bewegungen. Da ging es nicht mehr nur um Selbstverteidigung, sondern um die Demokratiefrage, um die postmigrantische Aushandlung von gesellschaftlicher Teilhabe. Als Migrant*innen der zweiten oder dritten Generation haben wir nicht nur formal die gleichen Rechte, wir wollen sie auch ausüben. Und das erfordert die Umverteilung von Macht. Dafür braucht man starke Strukturen, die über prekäre Einzelprojekte hinausgehen, und ein gewisses Maß an Professionalisierung, da gebe ich Trong recht.

Wie bewegt sich das Kulturbüro Sachsen, für das du tätig bist, in diesem Feld?

DANILO: Das Kulturbüro war eines der Strukturprojekte, die als Teil der rot-grünen Agenda nach den furchtbaren Ereignissen in Mölln und Solingen auf den Weg gebracht wurden. Als professionelles Gegengewicht zu den sich (re-)organisierenden rechten Bewegungen. Wir haben Initiativen gestärkt, die Hilfe und Beratungsangebote für Asylbewerber*innen und Menschen mit Migrationshintergund bieten. Dort passiert ganz viel Beziehungsarbeit. Auch bei der Gründung des Dachverbands der sächsischen migrantischen Selbstorganisationen oder dem Bündnis gegen Rassismus war das Kulturbüro mit dabei.

Ihr habt beide den Begriff Beziehungsarbeit benutzt. Was meint ihr damit in diesem politischen Kontext?

DANILO: Wir folgen der feministischen Einsicht, dass eine nachhaltige Veränderung nur in belastbaren sozialen Netzwerken entstehen kann. Ohne affektive und emotionale Bindung, ohne Empathie kann ich Menschen nicht erreichen und stärken. Das habe ich in der Arbeit mit Jugendlichen gelernt. Wir haben irgendwann aufgehört, nur »Feindbeobachtung« zu machen, und angefangen, mit den Jugendlichen zu arbeiten, die keine Nazis sind. Die können durch pädagogische Beziehungsarbeit neue Erfahrungen machen, neues Wissen sammeln und handlungsfähig werden. Das erlebe ich seit 2011 in verschiedensten Projekten, vom Filmemachen mit kurdisch-alevitischen Jugendlichen über Kindertheater bis zum Aufbau von Forschungsnetzwerken.

Trong, wie ist das für dich? Und welche Allianzen hältst du für wichtig?

TRONG: Für mich war die #unteilbar-Bewegung eine wichtige Erfahrung. In so einem breiten Bündnis kann man aber nur begrenzt nachhaltige Beziehungen aufbauen. Darum liegt mein Schwerpunkt jetzt auf der Ebene der Community und communityübergreifender Arbeit. Beziehungsarbeit braucht gemeinsame Zeit und Raum und damit Ressourcen. Ich halte außerdem die migrantischen Landesverbände und den Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland für wichtige Akteure. Auf kommunaler Ebene entstehen immer wieder Initiativen, die neue Verbindungen schaffen, etwa Haymat Ost – Konferenz für Migration und migrantische Kämpfe des Ostens 2022 in Leipzig oder die Initiative Postmigrantisches Radio. Solche Plattformen und Resonanzräume brauchen wir kontinuierlich. Doch außerhalb dieser Räume bin ich in Sachsen mit einer Dominanz organisierter rechter Strukturen und einer weißen Ignoranz konfrontiert, die mir schnell die Luft zum Atmen nehmen. Ich hoffe, dass wir aus den Erfahrungen und Fehlern der Vergangenheit lernen und starke Allianzen aufbauen können.

Was sind Themen oder Konflikte, die Ausgangspunkt für solche breiteren politischen Allianzen sein könnten, hier in Ostdeutschland und darüber hinaus?

TRONG: Zum Beispiel die Themen Wahlrecht und Bleiberecht für Menschen ohne deutsche Staatbürgerschaft. Die Initiative »Nicht ohne uns 14 Prozent«, die dafür eintritt, dass Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft wählen dürfen, bringt das schon auf die Straßen. Es sind aber noch zu wenige dabei, die selbst betroffen sind. Diese Kampagne könnte man noch mehr in die Breite tragen und mit Kämpfen auf der juristischen Ebene verknüpfen, um politischen Druck aufzubauen. Ein anderes Thema sind Sicherheit und Versicherheitlichung, von den Apparaten an den EU-Außengrenzen bis zur Aufrüstung der Polizei. Man müsste viel breiter diskutieren, welche Infrastruktur eine Migrationsgesellschaft braucht, um allen umfassende Gerechtigkeit und Sicherheit zu garantieren. Dann geht es um viel mehr Themen, von der Gesundheitsversorgung bis zum Wohnungsmarkt.


DANILO: Mir fallen zwei Themen ein, die langweilig klingen, aber Sprengkraft haben. Das eine ist die Anerkennung von ausländischen Berufsqualifikationen unter den Bedingungen des Fachkräftemangels. Hier kann man neue Bündnispartner*innen gewinnen, weil auch die Unternehmen auf der Seite der Betroffenen stehen. Das Zweite ist das Recht auf Unterricht in der Erstsprache. Das ist eigentlich gesetzlich fixiert, passiert aber in der Praxis nicht. Untersuchungen belegen, dass dadurch Bildungserfolge von Migrant*innen und ihren Kindern massiv eingeschränkt sind. Das wären praxisnahe Fragen, bei denen man etwas erreichen könnte und wo es vom Dachverband Sächsischer Migration bis zu Akteur*innen im Bundestag und im Europäischen Parlament starke Verbündete gibt. 


Das Gespräch führte Nam Duy Nguyen.