Sicherlich gibt es viele Unterschiede zwischen der Zeit, in der das Manifest entstand und unserer Gegenwart. Der Stalinismus ist faktisch verschwunden, sowohl als real existierendes soziales System wie auch als eine geballte politische Kraft in den westlichen Gesellschaften. Als das Manifest geschrieben wurde, regierte ein sozialdemokratischer Konsens Britannien und den größten Teil der westlichen Welt im Sinne des nach dem Zweiten Weltkrieg begründeten Klassenkompromiss. Zwar war dieser völlig unzureichend und deckte mit seinen Lösungen die vom Kapitalismus verursachten tiefen Wunden zumeist nur oberflächlich ab – in einer Weise, die sich leicht beseitigen ließ und dann auch beseitig wurde. Doch mit seiner Verbindung von starken Gewerkschaften, hoher Besteuerung von Reichtum, Verstaatlichung einzelner Sektoren der Wirtschaft und weitreichender staatlicher Eingriffe erzeugte dieser Klassenkompromiss die größte Kombination von ökonomischem Wachstum und gesteigertem Lebensstandard in der britischen Geschichte.
Das jetzige Zeitalter ist nicht mehr von Prosperität gekennzeichnet: noch immer leiden wir unter den verheerenden wirtschaftlichen Konsequenzen des Zusammenbruchs der unregulierten Finanzmärkte. Die Austerität hat insbesondere schlecht bezahlte Beschäftigte, Menschen mit Behinderung und eine ganze Generation junger Menschen ins Elend gestürzt, während soziale Infrastrukturen zerlegt wurden. Die Ideologie, die uns heute regiert, ist der Neoliberalismus. Er verficht die maximale Vernichtung des Öffentlichen zugunsten der Marktkräfte, das Zurückstutzen der Steuern für Reiche, die massenhafte Deregulierung und die Zerstörung kollektiver Organisierung. Als Folge wurden den britischen Beschäftigten die schlimmsten Lohnkürzungen von allen OECD-Ländern mit Ausnahme Griechenlands aufgenötigt, und zwar über den bisher längsten Zeitraum seit vielleicht dem achtzehnten Jahrhundert.
Dennoch gibt es eine herausstechende Ähnlichkeit zwischen beiden Zeitaltern. Das Manifest wurde in der Zeit eines wachsenden linken Bewusstseins geschrieben. Wie das Manifest belegt, war die Linke dabei, eine schlüssige Alternative zur bestehenden Gesellschaftsordnung herauszuarbeiten und zu artikulieren. Im Gegensatz dazu war die heutige Linke bis vor kurzem noch fragmentiert, isoliert, in der Defensive und zum großen Teil mit dem Versuch beschäftigt, existierende Errungenschaften vor dem Rollback zu bewahren. Das hat sich in einer Weise geändert, die viele der Unterzeichner*innen des Manifests sehr überraschen würde.
Das Manifest war sehr skeptisch gegenüber dem Potenzial der Labour Party, zum Vehikel sozialistischer Transformation zu werden, es war voller Verachtung für das stolz proklamierte Selbstverständnis der Partei, sie sei eine Koalition. Man glaubte, dass dies Bauernfängerei sei, die lediglich dazu beitrage, die Linke zu integrieren und zu zähmen sowie von Macht und Einfluss abzuschneiden. Es ist deshalb einigermaßen erstaunlich, dass der linke Labour-Flügel 2015, als er sich in einer historisch einmaligen Situation der Schwäche befand, mit Jeremy Corbyn die Führung der Partei übernahm. Nach 18 Monaten internen Kampfes war diese Führung in der Lage, der britischen Öffentlichkeit zu den Wahlen von 2017 ein Manifest zu präsentieren und 40 Prozent der Stimmen zu gewinnen, was auch die Position innerhalb der Partei absicherte.
Großbritannien befindet sich seither in einer neuen politischen Ära. Der neoliberale Konsens ist in sich zusammengefallen. Er wird nicht länger als naturgegeben angesehen. Seine Vorkämpfer*innen mussten sich wieder auf ihre Grundlagen besinnen und ihre Vorstellungen und Ideologien grundlegend verteidigen, zum ersten Mal im Verlaufe einer ganzen Generation. Tory-Abgeordnete befinden sich in einem Zustand persönlicher Panik und fürchten, dass der Zusammenbruch ihrer Regierung das Ende des Thatcherismus einläutet und den Weg für eine transformative sozialistische Regierung bereitet, wie es sie womöglich noch in keiner westlichen Gesellschaft gegeben hat.
Genau jetzt ist die Zeit für die Linke, wie das Manifest ehrgeizig die Grundlagen für eine ganz neue Gesellschaft zu legen, statt an der bankrotten und zerfallenden herrschenden Ordnung herumzuflicken, die im Kriegszustand mit den Sehnsüchten und Bedürfnissen von Millionen von Menschen steht. Wie das Manifest seinerzeit zu Recht formulierte: „Nur ein fortgeschrittener Sozialismus birgt die Chance, die menschliche Kontrolle zurückzugewinnen“
Im Jahr 2017 untermauerte Corbyns Labour-Manifest einen radikalen, inspirierenden Ausbruch aus dem Neoliberalismus. Die Steuern für die oberen fünf Prozent der Top-Verdiener*innen und die großen Unternehmen sollen angehoben und die City of London mit einer Steuer für finanzielle Transaktionen belegt werden, die in das Gesundheits- und Bildungssystem investiert werden sollen. Ein riesiges Programm für Sozialen Wohnungsbau soll aufgelegt werden und der private Mietmarkt reguliert werden. Eisenbahn, Energie und Wasser würden in öffentliches Eigentum überführt werden. Die Rechte der Lohnabhängigen sollen wiederhergestellt und das Machtverhältnis zu ihren Gunsten verschoben werden. Ein gesetzlich festgelegtes existenzsicherndes Mindesteinkommen („living wage“) würde eingeführt werden. Studiengebühren würden abgeschafft und die Last der Verschuldung von den Schultern junger Leute genommen werden, die es gewagt hatten, von universitärer Bildung zu träumen.
Doch dieses Labour Manifesto kann nur als bescheidener Anfang gesehen werden. Eine breite Linke muss sich dafür stark machen, diese Vorschläge noch auszuweiten, sowohl bevor Labour an die Macht kommt wie auch nach einem Wahlsieg. Durch eine breite Massenbewegung sollte Labour gedrängt werden, sich nach der Regierungsübernahme zu radikalisieren – und den definitiven Bruch mit dem Kapitalismus zu wagen.
Nehmen wir die Steuern: die Labour-Partei schlägt einen neuen Einkommenssteuersatz von 45 Prozent für Einkommen über 80.000 Pfund vor – das betrifft die obersten fünf Prozent – und einen Satz von 50 Prozent für Einkommen über 123.000 Pfund – das betrifft die obersten zwei Prozent der Einkommensbezieher. Die Körperschaftssteuer würde Schritt für Schritt von 19 auf 26 Prozent erhöht werden. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass die Spitzensteuersätze selbst zu Thatchers Regierungszeit bei über 60 Prozent lagen, und dass wohlhabendere Länder – wie Dänemark und Schweden – Spitzensteuersätze über 50 Prozent haben. Selbst mit den von Labour vorgeschlagenen Steuererhöhungen hätte Britannien noch den niedrigsten Satz innerhalb der Industriestaaten der G7. Und es gibt schlagende Argumente, für noch höhere Sätze zu plädieren: sie sind notwendig, um weitere Investition in soziale Dienstleistungen zu tätigen, um die Wirtschaft zu transformieren und um groteske Ungleichheiten abzubauen. Damit sind nicht nur Einkommen gemeint. Der neugewählte Führer der schottischen Labour-Partei, Richard Leonard, schlug eine Vermögenssteuer in Höhe von einem Prozent für die reichsten zehn Prozent vor: eine Politik, die unbedingt auf ganz Großbritannien ausgedehnt werden sollte.
Dann ist da noch das Thema Arbeitszeit. Die Arbeiterbewegung und die Linke haben in der Geschichte immer für eine kürzere Wochenarbeitszeit gekämpft. Dieses Thema muss wiederbelebt werden. Der technologische Fortschritt sollte genutzt werden, um einen höheren Lebensstandard zu erreichen und dabei die Arbeitszeit zu senken. Wie es im Manifest von 1968 heißt: „In einer Klassengesellschaft wird die große Zahl der Menschen nur als Arbeitskräfte auf einem Arbeitsmarkt angesehen und das Gemeinwohl bleibt randständig.“ Einen so großen Teil unseres Lebens aufzugeben, um für andere zu arbeiten, beraubt uns unserer Freiheit, schadet unserem seelischen und körperlichen Wohlbefinden, stiehlt uns wertvolle Zeit mit unseren Familien und uns lieben Menschen – und es hindert uns daran, unseren kulturellen Horizont zu erweitern. Untersuchungen weisen darauf hin, dass weniger Arbeitszeit die Produktivität erhöhen könnte, unsere CO-2-Bilanz verbessern, Arbeit zu denjenigen umverteilen könnte, die sie suchen und uns alle glücklicher machen könnte.
Auch in der Ausweitung des öffentlichen Eigentums müssen wir noch weiter gehen. Das Top-down-Modell der Verstaatlichungen der Nachkriegszeit wurde vom rechten Parteiflügel entwickelt, nicht zuletzt von Herbert Morrison, der im Übrigen der Großvater von Peter Mandelson ist. Die Labour-Linke – von Tony Benn bis zu Jeremy Corbyn – bekennt sich seit langem zu einem anderen Modell: demokratisches Gemeineigentum unter Beteiligung von Arbeiter*innen, Nutzer*innen und Konsument*innen. Das Manifest von 1968 spricht davon, „den Begriff öffentliches Eigentum neu zu bestimmen.“ Der heutige Labour-Vorschlag zum öffentlichen Eigentum des Energiesektors schließt beispielsweise nicht den Aufbau eines zentral kontrollierten und geleiteten Unternehmens ein, sondern sieht eher lokales Eigentum auf Gemeindeebene vor.
Tatsächlich stellt sich die Frage: wenn das Modell des kollektiven Eigentums für Güter wie Energie, Bahnwesen und Wasser funktionieren könnte, warum dann nicht auch anderswo? In der Tat hat Labour das ‚Recht, zu besitzen‘ (‚right to own‘) in die Debatte gebracht: also das Recht für Beschäftigte, ihre Firmen aufzukaufen. Die gesellschaftliche Linke sollte hier in eine breite Offensive gehen und für eine umfassende Sozialisierung und Demokratisierung der britischen Wirtschaft argumentieren.
Ein Vorgänger ist Schwedens sogenannter Meidner-Plan der 1970er Jahre, der Unternehmen die Abgabe von Anteilen an Beschäftigtenfonds auferlegen wollte, die von Gewerkschaften gehalten würden. Diese Fonds würden sich dann Stück für Stück einen Mehrheitsanteil aneignen. Auch andere Beispiele sind bemerkenswert: Singapur wird oft absurderweise als libertäres Paradies beschrieben, obwohl so gut wie alles Land und beinahe das gesamte Wohnungswesen in staatlichem Eigentum sind. Seine in Holdings zusammengefassten und durch den Staatsfonds gemanagten staatliche Unternehmen spielen die zentrale Rolle in der Wirtschaft. Singapur ist ein Beispiel für staatlich geführte Entwicklungspolitik. Solche Holdings werden auf eine „Armlänge“ Distanz zum Staat gehalten und sind hocheffizient. Natürlich ist Singapur insgesamt ein undemokratisches Modell, aber das Beispiel zeigt die Vorteile des öffentlichen Eigentums.