Andrea Nahles gab sich einen Ruck: Wenn „man ehrlich ist“, konzedierte sie Ende letzten Jahres zu den seit 2001 bisher erschienenen vier „Armuts- und Reichtumsberichten“, „war das bisher immer nur ein Armutsbericht.“[1] Der 5. ARB sollte das ändern – schließlich stehen Wahlen an und es wird wie nie zuvor in der Republik über wachsende Ungleichheit diskutiert. Das Thema Reichtum / Vermögen sollte Stimmen bringen und nicht zuletzt die LINKE aus dem Parlament halten[2]. Tatsächlich widmet sich der gut 650 Seiten starke Bericht ausführlicher als seine Vorgänger dem Thema und stellt insofern einen deutlichen Fortschritt dar, da verschiedene in diesem Berichtsformat bislang weitgehend ignorierte Fragen aufgegriffen und einschlägige Daten und Indikatoren zusammengetragen werden.

Unter Bezug auf den Bericht in Gänze hob die Ministerin hervor:

„Transparenz war mir bei der Erarbeitung des Armuts- und Reichtumsberichtes ein besonderes Anliegen. Deshalb haben wir den Erstellungsprozess auf einer eigenen Internetseite ausführlich dokumentiert. Das gilt auch für die Forschungsergebnisse, die uns als Grundlage für die Schwerpunktthemen dienen, etwa einer intensiveren Betrachtung des Themas Reichtum. Dieser Aspekt fiel viel zu lange unter den Tisch. Es kann aber nicht sein, dass wir über diejenigen, die wenig haben, fast alles wissen und über diejenigen, die viel haben, fast nichts. Da müssen wir Licht ins Dunkel bringen.“ [3]

Doch das Licht, das da ins Dunkel gebracht werden soll, reicht beileibe nicht bis zum Ende des Tunnels – und dies nicht ohne Absicht. Wie in den Berichten zuvor ist der Blick (wie die Augenheilkunde erklärt) ein Tunnelblick, das Gesichtsfeld ist bis auf einen kleinen Rest eingeschränkt und die Wahrnehmung des Gehirns lässt zu wünschen übrig („Röhrengesichtsfeld“, „Scheuklappen“).

Die Herrschaftsfrage

Die seit 2015 publizierten Interviews und Zwischenberichte zur Entstehung des Berichts auf der Website des BMAS[4] sind bis zum Spätherbst 2016 in der politischen und medialen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert worden. Das änderte sich Anfang Oktober 2016, als der erste Entwurf des ARB (ARB I) in die Ressortabstimmung der Ministerien ging. Vor allem im Spiegel und der Süddeutschen Zeitung erschienen erste Details, die sich überwiegend auf die Reichtumsanalyse und eine vom BMAS geförderte Studie über „Hochvermögende in Deutschland“ (HViD) bezogen. Eine im Dezember erschienene zweite Version des Berichts auf (ARB II) enthielt eine Reihe von weitgehenden Änderungsvorschlägen offenbar insbesondere des Finanzministeriums und des Bundeskanzleramtes. Ein Vergleich beider Fassungen zeigte, dass im Zuge dieser Ressortabstimmung ganze Abschnitte eines Textteils über den Zusammenhang von Reichtum und Demokratie verändert oder gestrichen worden waren (ARB II, 166ff.). Dabei ging es um die Bereitschaft der Politik bzw. der Regierung und des Parlaments, unterschiedliche Interessen und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen („Responsivität“), also ob und inwieweit politisches Durchsetzungsvermögen von der Einkommens- bzw. Vermögensverteilung in der Gesellschaft abhängt.

Eine klassische Frage nach „gesellschaftlicher Macht durch Reichtum“ (BMAS), der in einer von dem Ministerium in Auftrag gegebenen Studie nachgegangen worden war.[5] Ihr Resultat ließ sich in zwei – dann gestrichenen – Sätzen zusammenfassen:

„Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikänderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikänderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird. Wenn ein geringerer Anteil von Menschen mit höherem Einkommen eine Politikänderung unterstützt, ist die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Änderung hingegen gering.“ (ARB I,170).


Die weitgehende Beseitigung der Wiedergabe der Ergebnisse dieser Studie im ARB II fand ihrerseits eine Menge „Responsivität“ – etwa im Spiegel[6], dem Deutschlandfunk[7] oder der Welt[8]. Christina Deckwirth von Lobby Controlhat den bemerkenswerten Vorgang ausführlich dokumentiert.[9] In der zum Abschluss erstellten Kurzfassung des Berichts ruderte die Regierung zurück auf den sicheren Boden des Gemeinplatzes:

„Die politische Beteiligung bis hin zur Teilnahme an Wahlen ist bei Menschen mit geringem Einkommen deutlich geringer und hat in den vergangenen Jahrzehnten stärker abgenommen als bei Personen mit höherem Einkommen und der Mittelschicht. Auf politische Entscheidungen wirken sie damit vergleichsweise weniger ein. In der internationalen Politikwissenschaft wird zudem seit einigen Jahren diskutiert, dass die Positionen der politischen Akteure zunehmend homogener geworden sind und Personen aus dem unteren Einkommensbereich sich vielfach in Entscheidungen nicht wiederfinden. (…) Die Ursachen für den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und demokratischer Beteiligung sind komplex und lassen sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Sie liegen teils außerhalb der Analysen und des Themenspektrums, die im vorliegenden 5. Armutsbericht bearbeitet werden.“ (ARB, XLII).


Damit verschwand jeder konkrete Bezug auf die bundesdeutsche Situation und damit die Frage, ob und inwieweit hierzulande soziale bzw. ökonomische Ungleichheit politische Ungleichheit hervorruft. Die dezidierte Einschätzung der zu diesem Thema in Auftrag gegebenen Studie („Es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.“) findet sich hier nicht mehr wieder. Ein Abschnitt zur Frage des Lobbyismus wurde komplett gestrichen.

Der Kern des Vorgangs kann darin gesehen werden, dass damit die in den bisherigen vier Armuts- und Reichtumsberichten faktisch ignorierte und auch im Konzept des 5. ARB nur beiläufig erwähnte politische Schlüsselfrage nach „gesellschaftlicher Macht durch Reichtum“[10] oder gar nach Kapitalmacht oder „Herrschaft“ (Begriffe, die im ARB nicht vorkommen) vor allem insofern keine Rolle spielt, als die Frage nach der konkreten Wirkungsmacht nicht mehr beantwortet wird. Zwar wird die allgemeine Frage nach „Armut und Reichtum und Demokratie“ (ARB, 165ff.) im abschließenden Bericht auf – gerade mal – zehn Seiten behandelt. Erörtert werden dort und beiläufig auch anderswo im Bericht Fragen der sozialen Selektivität der Wahlbeteiligung, allgemeines politisches Engagement bzw. politisches Interesse.

In der öffentlichen Reaktion auf die Veränderungen der ursprünglichen Texte trat aber zurück, dass hier der Zusammenhang von Demokratie und Reichtum im Wesentlichen auf die parlamentarische Dimension – die repräsentative Demokratie – verkürzt wurde. Offensichtliche Kernfragen wie die nach Beteiligung in unterschiedlichen Institutionen und Organisationen – ein Beispiel wäre die Frage der Wirtschaftsdemokratie – oder – vor allem – nach der Einflussnahme im politischen Raum durch die „Hochvermögenden“ spielen schon Aufgrund der Ausgangskonzeption des Berichts keine Rolle im ARB. Die letztgenannte Frage wird nur einmal in völlig gegenteiliger Weise an anderer Stelle Thema: in der Wiedergabe der Studie zu „Hochvermögenden“ im ARB 5 wird erklärt, dass diese „kaum Möglichkeiten“ sehen, „selbst auf öffentliche Entscheidungen einwirken zu können“ (ARB, 145). Eine kritische Perspektive, inwieweit Reichtum zur Begründung, Entwicklung und Durchsetzung von – auch politischer – Herrschaft beiträgt, Exklusionsmacht durch die vorherrschende private Eigentumsform des Reichtums begründet und realisiert wird und welche Rolle ihrerseits Macht und Herrschaftsbeziehungen bei der Gestaltung von Reichtum spielen, behandelt der Bericht bestenfalls nur in Rudimenten. Insofern setzt der 5. ARB die Tradition der bisherigen Berichte fort.

Das Schweigen über „Kapitalismus“

Auch anderweitig folgt der Bericht häufig der Losung: „Gut, dass wir einmal mehr darüber nicht gesprochen haben!“, denn manche Probleme sind schon vorweg durch sorgfältige Begriffspflege abgeräumt worden. Der anscheinend politisch abgründige Begriff „Vermögenssteuer“, der im ARB I noch drei Mal vorkam, wurde dank der Ressortprüfung im ARB II komplett zum Verschwinden gebracht. Auch die einmalige Rede von der „kapitalistischen“ Produktionsweise im ARB I (96) mutierte im Zuge einer begriffssensiblen ministeriellen Prüfung zur „industriellen“ Produktionsweise (ARB, 106). Auch wenn so nicht unbedingt zwingend nahegelegt wurde, dass wer von Reichtum oder Armut sprechen möchte, vom „Kapitalismus“ schweigen sollte, so ist doch auffällig: an keiner Stelle des Berichts wird wenigstens kursorisch – sei’s theoretisch oder empirisch-historisch – der Zusammenhang zwischen Reichtumsdynamik und Kapitalakkumulation thematisiert.[11] Der Reichtumsteil des Berichts fokussiert zudem grundsätzlich auf Verteilung und ignoriert Produktions- bzw. Verwertungsverhältnisse. Damit aber verzichtet er darauf, die zentrale Erklärung der im aktuellen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus weltweit explodierenden Ungleichheit auch nur zur Debatte zu stellen.

Stattdessen setzt der ARB an ihre Stelle ein Allerweltsverständnis von „Wachstum“, wodurch die „Wechselwirkungen zwischen Wachstum und Ungleichheit“ (ARB II, 48ff.) aufgeklärt werden sollen. Er bezieht sich dabei von Beginn an in erster Linie auf eine begrenzte Frage, die in Studien der OECD und des IWF diskutiert wurde. Dort wurde darauf verwiesen, dass die auch international zu konstatierende wachsende Ungleichheit zu sinkenden Wachstumsraten führe. Sowohl wachsende Einkommens- als auch hohe Vermögensungleichheit könnten solche Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum haben, weshalb ggf. staatliche Interventionen zum Abbau derartiger Trends zu wachsender Ungleichheit nötig sein könnten. Bemerkenswert ist jedoch, dass die im Zuge der Ressortabstimmung entstandene Version des ARB im Gegenzug zur Positionierung dieser OECD- und IWF-Studien die Einschätzung des neoliberal dominierten „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ übernimmt: „Empirisch ist der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum jedenfalls nicht eindeutig, so dass einzelne empirische Ergebnisse mit erheblicher Vorsicht interpretiert werden sollten.“ (Jahresgutachten 2015, nach ARB II, 52)[12]. Diese Einbringung des SV in die Debatte hat das Ziel, die problematische Beziehung zwischen Ungleichheit und Wachstum als ungeklärt und offen darzustellen und so die im ARB bereits frühzeitig formulierte Position abzustützen: „Wirtschaftliches Wachstum trägt maßgeblich dazu bei, Wohlstand, gute Arbeitsplätze und Lebensqualität zu schaffen.“ (ARB II, 34). Der BRD wird ein „solides“ und „stabiles“ Wachstum bescheinigt (ebd. – diese Lieblingsbegriffe aus dem PR-Kasten der Regierungsrhetorik kommen übrigens im ARB 17 bzw. 84mal vor), wodurch – so die implizite Folgerung – Ungleichheiten reduziert würden. Im Übrigen wird die weiterreichende Frage nach kriseninduzierten Ungleichheitseffekten von Wachstum (Kapitalakkumulation) im Gegenwartskapitalismus nicht gestellt.[13]

Insgesamt besteht das Skelett der „großen Erzählung“ zu Vermögen (Reichtum) des ARB aus einer Handvoll Sätze:

  • „Ein individuelles Vermögen steht für finanzielle Unabhängigkeit und materielle Absicherung. (ARB, 508) … Vermögen kann als monetäre Absicherung des Lebensstandards in den Wechselfällen des Lebens oder im Alter verstanden werden, ein hohes Vermögen kann noch darüber hinaus weite Gestaltungsspielräume eröffnen (588)“. Einkommensreichtum bedeutet – zusätzlich zu den materiellen Aspekten – ein hohes Maß an Gestaltungs- und Verwirklichungschancen (579) …
  • Einerseits müssen mehr Leistung und Innovationen auch mit höheren Einkommen honoriert werden. Durch dieses Erfolgsversprechen werden Anreize gesetzt und der einzelne motiviert – zum Wohle der Gesellschaft insgesamt. Sind andererseits die Unterschiede zwischen arm und reich zu groß, und es erfolgt keine als gerecht empfundene Beteiligung am gesellschaftlichen Reichtum, so stellt dies die Akzeptanz der Wirtschaftsordnung in Frage (579)…
  • Indikatoren zu verschiedenen Aspekten von Reichtum sollen dazu beitragen, die Diskussion über Reichtum zu versachlichen. (579) … Reichtum entzieht sich wie Armut aufgrund seiner Vielschichtigkeit einer allgemein gültigen Definition (579)…“



Nicht gedacht wird in diesem Narrativ, dass Reichtumsvorstellung und -bild seit je her gespalten war. Diese Spaltung hat sich in den letzten drei Jahrzehnten vertieft. Auf der einen Seite geht es um ein erstrebenswertes reiches Leben, das Lebensqualität, Gute Arbeit, Gesundheit, Bildung, Zeitsouveränität oder Sicherheit vor allem im Alter mit sich bringt. Auf der anderen Seite steht das Negativ einer privilegierten, sozial weit entfernten und unerreichbaren Figur, die von Luxus, Macht und oftmals Korruption geprägt ist. Die soziale Rebellion, die offenbar immer klarer das Zeichen des gegenwärtigen Jahrzehnts wird, spiegelt die Kluft zwischen diesen Vorstellungen wieder.

Hier hat der Reichtum keine Adresse

Der ARB legt sich aber nicht nur auf eine ganz bestimmte ökonomische Sichtweise fest. Die Behandlung der Reichtumsfrage ist in Gänze ökonomistisch verengt. Der Bericht formuliert kurzweg: „Auch in der Wissenschaft wird Reichtum entweder anhand des Einkommens oder des Vermögens definiert“ (135). Auf dieser Grundlage präsentiert er unter Rückgriff auf die HViD-Auftragsstudie („Hochvermögende in Deutschland“)[14] die Figur einer nach Einkommens- oder Vermögensgrößen strukturierten „Reichtumspyramide“ (ARB, 10, 197) als konzeptionelle Weiterentwicklung. Tatsächlich übernimmt er damit längst bekannte und genutzte Übersichten und Visualisierungen, die sich bei Banken, „Vermögensverwaltern“ oder Versicherungsunternehmen wie UBS, Credit Suisse, Julius Bär oder Allianz finden, ebenso in privaten und wirtschaftsnahen Medien (die fast immer zumindest indirekt selbst im Besitz von Milliardären sind) oder endlich bei Marktforschungsunternehmen wie WealthX (Singapur) und Unternehmensberatungsfirmen wie die Boston Consulting Group (USA), Knight Frank (England) oder Capgemini (Frankreich), die sich alle auf »private banking« und »wealth management« und damit auf die Märkte der sog. Hocheinkommensgruppen und Top-Vermögenden spezialisiert haben.

Das Bild der Pyramide soll die innere Differenzierung des Reichtumsfeldes widerspiegeln. Als Visualisierung ihrer sozialen Gestalt wäre freilich eine Bauform angemessen, deren Spitze durch einen aufgesetzten und in die Stratosphäre reichenden Wolkenkratzer gebildet wird, der Tag für Tag in die Länge und oben im Penthouse-Sektor durch milliardenschwere Anbauten in die Breite geht; sein treppenförmiger Basissockel wird sukzessiv ein bisschen dicker und seine Grundfläche dehnt sich kontinuierlich und rapide aus. Dann würde der krasse Oben-Unten-Abstand in „Richistan“ (Frank) deutlich. Das Sample der im ARB breit präsentierten HViD-Studie spiegelt diesen Abstand in keiner Weise wieder: die (nicht bevölkerungsrepräsentativen) HViD-Befragten bewegen sich im untersten Bereich Reichlands.[15]

Im ARB gibt es keine überzeugende Systematik oder Typologie des Reichtumsbegriffs. Vor allem die Aussagen über Vermögen sind sehr knapp gehalten[16], ein Fazit zu Einkommensreichtum weicht auffällig ab.[17] Die ständig neue gigantische Reichtumsvernichtung im Krisenzyklus der kapitalistischen Wirtschaft, die unmittelbar destruktive Gestalt der Reichtumsvermehrung durch Rüstung, Naturzerstörung etc. oder auch die massiven Formen kriminellen, mafiösen und korrupten Reichtums ignoriert der Bericht. Ansonsten gilt: so reduziert über Vermögen, Einkommen oder Reichtum zu sprechen ohne ihre Vermittlung über die variantenreichen Verhältnisse des Eigentums an Kapital einzubeziehen greift buchstäblich zu kurz. Sinnvoll wäre etwa, ökonomisches Kapital (Geld- und Betriebs- bzw. Industrie- sowie Sachvermögen, Immobilien (Grund und Boden), immaterielles Kapital, Konsumvermögen), kulturelles oder ideelles Kapitel (unter Einschluss von Bildungskapital) sowie soziales Kapital nicht nur auf ihre Verteilungsmuster und wechselseitigen Zusammenhang, sondern auch auf die ihnen eigenen Machtmechanismen und ihre Wirkungen auf die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, Schichten und Akteuren zu untersuchen. Zwar behandelt der ARB durchaus Verteilungsmuster einiger der hier genannten verschiedenen Typen des ökonomischen Kapitals (Geldvermögen, Immobilien, Konsumvermögen etc.), aber er schweigt sich über die dazu gehörenden Eigentumsformen, Produktions- und Aneignungsverhältnisse sowie Machtmechanismen bzw. -gefüge vollständig aus und vermeidet folgerichtig durchgängig, die in einem so charakterisierten Reichtumsfeld agierenden sozialen Subjekte (Akteure) zu benennen. Im ARB hat der Reichtum anonyme Vermögende, Steuerpflichtige, Segregierte, Einkommensreiche, statistische Verteilungsränder, Dezile, Personen, Haushalte, Mieter, Paare oder unbestimmte Einkommensmillionäre im Angebot, die zuweilen mit Prozentangaben oder der Wortbeigabe „Top“ bedacht werden. Von Fall zu Fall kommen einige weitere Indikatoren hinzu wie Alter, Geschlecht, Erwerbsstatus, Migrationshintergrund, Wohnort, Bildungsstand oder politisches Interesse. Aggregationen zu sozialen, soziogeografischen, kulturellen, ökonomischen oder politischen Konkretionen werden jedoch vermieden, die es erlauben würden, den von Andrea Nahles angerufenen „Trend zur Refeudalisierung“ sozial und politisch zu identifizieren, der zu „Strukturen von mächtigen Zirkeln“[18] und zur Bildung einer „Oligarchie der Reichen in diesem Land“[19] geführt habe. Doch wo sind sie geblieben, die Räuberbarone, Mogule und Tycoons, die Großen des Geldadels, die Dynastien und Großfamilien, die Plutokraten und Oligarchen? Im neuen ARB wird man sie vergebens suchen. Der Reichtum des ARB hat keine Adressen, er ignoriert den Wolkenkratzer der „Pyramide“ und dessen Bewohner. Sogar die Begriffe „Reichtum“ (mit Ausnahmen) und „Reiche“ werden fast durchgängig vermieden und durch „Vermögen“ oder „Hochvermögen“ ersetzt.[20]

Für eine – Verschwörungstheorien zumindest erschwerende – empirische Analyse der Milieus, Organisationen, Verflechtungen, Kultur, der Sozialgeografie und inneren Hierarchie-, Macht- und Herrschaftsstruktur der Elitennetzwerke der „Oligarchie der Reichen“, der schutzwürdigen „Hochburgen des Reichtums“ oder der „Geldmacht“ gibt der Bericht überhaupt nichts her. Daher gibt der ARB auch keine Auskunft über die rapide Entwicklung der Konzentration des Reichtums bei den Komplexen des Finanzmarkt- und Computerkapitalismus. Hier ist von einem Aufgreifen des in der Konzeption des ARB angerufenen „soziologischen Forschungsstands“ (ARB II, 30) nichts zu spüren[21].

Schwer wiegt, dass mit diese Eskamotierung der Subjekte des Reichtums auch die Beziehungen der doppelten Abhängigkeit hinweggezaubert werden, die zu ihnen gehören: zum einen die Separierung, also die Abgrenzung des soziokulturellen Status nach unten. Es gibt kein gemeinsames Leben zwischen den Bewohnern der Wolkenkratzerpyramide und dem ganzen Rest. Man begegnet sich nicht, arbeitet und konsumiert nicht zusammen, hat keine gemeinsamen Ideen, Ziele und Vorstellungen voneinander, teilt weder Moral noch Ethik. Brutale und harte oder subtile, unmerkliche Grenz- und Zugangskontrollen sind dabei im Spiel, um die Unterscheidungslinien ständig neu zu ziehen. Zum anderen die Arrangements passenden Dienstpersonals zur sozialen Reproduktion dieser Pyramide – dazu wird Kapital angelegt in exklusive Institutionen, philanthrokapitalistische passion investments, zahllose persönliche Dienstleistungen und gut organisierte Entouragen.

Im Übrigen ist auch das Bild des ARB der Struktur der Gesellschaft ökonomistisch auf die Verteilungs- und die Einkommensverhältnisse verkürzt, auch wenn beiläufig eine “globale Mittelklasse” (ARB I, 49), gar “soziale Klassen” (ARB I, 97) oder bei der Analyse sozialer Mobilität auch eine obere bzw. untere „Dienstklasse“ (ARB I, 368ff.) erwähnt werden. Mehr noch: welche Bedeutung die zuweilen im Detail statistisch durchgearbeitete Ökonomie der Einkommensverhältnisse der Bevölkerung für die Entwicklung und Struktur der Gesellschaft als Ganzer haben könnte, bleibt offen. Es existiert eine Mittelschicht, das „darüber“ und „darunter“ anzusiedelnde Sozialpersonal hat keinen Namen. So ist zwar einmal die Rede von “den gut verdienenden Angehörigen der Mittelschicht” (ARB 2, 30), doch weder von einer “oberen” Mittelschicht“, die dann zu einer “Oberschicht” in Bezug zu setzen wäre noch von einer „unteren Mittelschicht“ oder einer “Unterschicht” bzw. “Unterklasse” ist die Rede. Es dominiert die sehr weit gespannte einkommensbasierte Betrachtung, „welche als Mittelschicht die Bezieherinnen und Bezieher mittlerer Einkommen“ ansieht.[22] Für diese gilt in der Bilanzierung von Nahles die gute Nachricht: „Die Mitte stabilisiert sich.“ [23]

Kein Bock auf Big Data

Offenbar nimmt die Lust auf Konkretion, die politisches Handeln erst aussichtsreich machen würde, im ARB desto mehr ab, je höher wir in dieser merkwürdigen Reichtumspyramide des Gegenwartskapitalismus steigen. Insofern bleibt der 5. ARB der einschlägigen Formulierung im ersten Bericht treu.[24] Das zeigen nicht nur diese gesellschaftsanalytischen und ökonomischen Blindstellen des Berichts oder die skizzierte Abservierung des politikrelevanten Themas „Responsivität“, sondern auch die oberflächliche, knappe und deutlich ablehnende Abhandlung der Vorschläge des ZEW[25] in einer weiteren Zuarbeit zum ARB, die sich der Verbesserung der Datengrundlage „am obersten Rand“ der Einkommens- und Vermögensverteilung widmet, denn derzeit „beruhen sämtliche Erkenntnisse über die Vermögensverteilung innerhalb des reichsten Zehntels der Gesellschaft allein auf Befragungsdaten und anekdotisch gesammelter Evidenz.“ (ZEW,4). Administrative Prozessdaten wie die Daten aus der Lohn- und Einkommenssteuerstatistik, die Lohndaten der Sozialversicherungen, Vermögensdaten (Erbschaft, Schenkungen, Grundsteuerdaten) oder die Daten der Gewerbe-,Umsatz- und Körperschaftssteuerstatistik sind unvollständig und zumeist nicht miteinander zu verknüpfen. Für Befragungsdaten aus dem Sozio-Ökonomischen Panel (SOEP), der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), des Mikrozensus oder der Befragung Privater Haushalte und ihrer Finanzen (PHF) durch die Europäische Zentralbank oder die „Reichenlisten“ von Forbes, Bloomberg, Manager-Magazin, Hurun, Sunday Times oder Bilanz gilt trotz der im Laufe der Jahre offensichtlich deutlich verbesserten Qualität dasselbe. Wenig verbreitet sind die oft internen oder hochpreisigen Datenproduzenten wie z.B. der Finanzmarkt-Datenservice (FMDS) oder der Private Banking Monitor der Marketing- bzw. Finanzforschung von TNS Infratest, die in der Debatte keine Rolle spielen. Die ZEW-Studie nun schlägt eine ganze Reihe detaillierter Maßnahmen vor, um die Datengrundlage substantiell zu verändern:

  • Kurzfristig die Ausweitung der amtlichen Erhebungen mit der Erweiterung des Mikrozensus als Kernprojekt (Abfrage des exakten Einkommens und nicht der nach oben begrenzten Einkommenskategorien, Einbau eines verpflichtend zu beantwortenden Moduls mit Fragen zu Vermögensbestand und -zusammensetzung, Zulassung einer anonymisierten Verknüpfung mit amtlichen Datensätzen und Etablierung eines sozialgeografisch verfeinerten Moduls, das die bundesweite Befragung von Haushalten in Gemeinden mit Hocheinkommen und –vermögen ermöglicht; dementsprechend damit im Zusammenhang auch eine verstärkte regionale Auswertung bestehender Statistiken)
  • Aufbereitung bestehender Einkommens- und Vermögenssteuerdaten
  • Als mittelfristige Zielsetzung die aufwändige Verknüpfung der Befragungsdaten im Rahmen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), SOEP und PHF -Befragung (Private Haushalte und ihre Finanzen)
  • eine Verknüpfung von Unternehmensstatistiken,
  • eine Verknüpfung und Vollerhebung von Erbschaften und Schenkungen
  • Aufbau einer bundeseinheitlichen Statistik des Grund- und Immobilienvermögens (Zusammenführung), das den überwiegenden Teil des gesamten Privatvermögens in Deutschland darstellt und schließlich
  • Reintegration der Abgeltungssteuer in die Einkommenssteuer sowie die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und die aufwändige Einführung eines Finanzkatasters.


Abschließend vermerkt die ZEW-Studie durchaus realistisch:

„Während es für die kurz- und mittelfristigen Maßnahmen vielfach kaum zusätzlichen Verwaltungs- oder Bewertungsaufwands bedarf und höchstens geringfügige gesetzliche Änderungen nötig wären, würden die langfristigen Maßnahmen sowohl unter politischen wie unter juristischen Aspekten deutlich größeren Vorlauf erfordern. Gleichzeitig wären sie politisch auch deutlich umstrittener und wohl nicht allein mit dem damit verbundenen Erkenntniswert für die Reichtumsberichterstattung durchzusetzen. Im Gegenzug würden die langfristigen Maßnahmen jedoch auch eine umso repräsentativere und präzisere Datengrundlage zu höchsten Einkommen und Vermögen liefern“ (ZEW, 26).


Die Kommentierung dieser substantiellen Vorschläge durch den ARB besteht aus dem Satz: „Hinsichtlich der Frage nach weiteren Verbesserungen gilt es zunächst, die Ergebnisse bereits durchgeführter bzw. geplanter Erhebungen und Untersuchungen abzuwarten.“ (ARB,131). Eine Beerdigung.
Nicht verwundern kann dann im Übrigen, dass abgesehen von einer äußerst schütteren Datenübersicht zum „staatlichen Vermögen“ (ARB, 46ff.) auch eine angesichts einer jahrzehntelangen und weiter anhaltenden Privatisierung öffentlichen Eigentums und Reichtums naheliegende korrelierende Analyse und Berichterstattung über den Reichtum der Gesellschaft bzw. des Öffentlichen fehlt.

Politische Handlungsperspektiven

Die zuständige Ministerin Nahles versichert: “dass wir die Schere zwischen Arm und Reich weiter schließen können, wenn wir uns anstrengen.”[26] Die Anstrengungen findet im ARB etwas diffuse Ausdrucksformen: „Anstrengungen…fortsetzen“, „evaluiert“, „Modellvorhaben“ „Anstrengungen weiter zu forcieren“, „einschätzen“, „fortzuentwickeln“ „prüfen“, „sollte fokussiert werden“… „bedarf weiterer Anstrengungen“, „berücksichtigen und für Lösungen sorgen“, „weitere Verbesserung“, der „Bekanntheitsgrad…sollten erhöht …werden“, “Einführung eines Online-Angebots zum Kinderzuschlag“…“werden dessen Bekanntheit erhöhen und prüfen, ob bürokratische Hürden bestehen und abgebaut werden“, „Evaluationen“…“kann entschieden werden“, „weiter verfolgt“, „weiterentwickelt“, „gestärkt werden“, „zusätzliche Spielräume …in Betracht gezogen werden können“, „Anstrengungen zu einer Verbesserung…sind fortzusetzen“, „eine Grundlage bieten, eventuellen Fortentwicklungsbedarf einzuschätzen“, „prüft“, „aufeinander abgestimmt“, „noch konsequenter um- und durchgesetzt werden“, „Fortsetzung“, „setzt sich“.

Noch anders formuliert: der Arbeits- und Reichtumsbericht vermeidet problemlösende, grundlegende und weiterreichende Handlungsperspektiven. Schon die Konzeption rechtfertigte diese auffällige Selbstbeschränkung damit, dass es um einen „Bericht der vergangenen vier Jahre“ und nicht um einen „Trendreport“ gehe.[27] Weder strategisches, noch kurz- oder mittelfristig angelegtes Handeln oder auch nur entsprechende Handlungsoptionen werden genannt, sofern sie nicht bereits im politischen Konsens beschlossen sind. Der im ARB II neu eingefügte Abschnitt II.6 zur Steuerpolitik („Maßnahmen der Bundesregierung zur Sicherung der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit des Staates“) zieht mit seinem Verweis auf die „fiskalischen Handlungsspielräume“ (ARB, 30) dafür dezidierte Schranken hoch. Der weit überwiegende Grundtenor des Berichts ist: Im „Berichtszeitraum“ gab es keine großen Veränderungen von Ungleichheit, Armut und Reichtum. Vorhandene Ungleichheiten – deren radikale Beseitigung ohnehin weder sinnvoll noch möglich wäre – hätten sich im letzten Jahrzehnt nicht weiter vertieft oder sind noch weiter durch die Politik und nützliche Markteffekte abgebaut worden. Folgerichtig erübrigt es sich, kritisch über Maßnahmen zu berichten, die zur Vergrößerung und nicht zur Verringerung von Ungleichheit geführt haben. Auch eine selbstkritische Bewertung der in früheren Berichten empfohlenen politischen Eingriffe gibt es nicht.

Stattdessen werden der „Berichtszeitraum“ und die bestenfalls fragmentarisch aufgerufenen längeren historischen Zeiträume in der Regel als unzusammenhängende Materialsammlung für politische Erfolgsgeschichten ausgeschlachtet. Dabei stellen in der Ungleichheitsdebatte genau diese langfristigen Entwicklungen Fragen an die politische Gegenwart, die auf langfristige Zukunftsfähigkeit zielen und entsprechendes Handeln erforderten. Das bekannteste Beispiel aus dieser Debatte – das durchaus in den „Berichtszeitraum“ fiel – ist die Schlüsselthese des Buches von Thomas Piketty, wonach die Vergrößerung der Einkommens- und Vermögensungleichheit im Kapitalismus nicht die Ausnahme, sondern die Norm sei und daher das große Versprechen von sozialem Aufstieg und Gleichheit fehl gehe.[28] Dann jedoch ist eine radikal andere Politik überfällig. Eine Gleichheits- und Gerechtigkeitspolitik, die in erster Linie beteuert, dass problematische Entwicklungen sich längst verlangsamt oder sogar zum Stillstand gekommen seien, verdient diesen Namen nicht.

Lichter am Ende des Tunnels

Die fünfte Armuts- und Reichtumsbericht ist ein Ärgernis. Vor allem: ein anderer Bericht zum Thema Reichtum wäre möglich. Dafür gibt es zwei Gründe. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat es eine so intensive Debatte in der Öffentlichkeit über Reiche und „Vermögen“ gegeben wie im Augenblick. Der Bericht erweckt jedoch weitgehend den Eindruck, als ob er die Anreize und analytischen Möglichkeiten dieser „Debatte von unten“ ignoriert oder sogar bewusst ausklammert. Er versäumt es bis auf wenige Ausnahmen – wie etwa drei Seiten zu Luxuskonsum – den Reichtum der dort zu Tage tretenden Probleme, Themen und Wünsche wissenschaftlich und politisch aufzugreifen. Ebenso unterlässt er es weitgehend, solche seit Ende der 80er Jahre in großer Zahl publizierten empirisch-theoretischen Studien aufzugreifen, die vor allem im internationalen Raum diese Debatte zur Kenntnis genommen haben und eine Fülle von Fragen aufgreifen, die in dem Bericht fehlen und sich dabei etwa auf die Subjekte des Reichtums an den berühmten oberen „Rändern“ beziehen – Fragen des „super-rich capitalism“ also.

Wie sieht die Gesellschaftsgeschichte des Reichtums aus? Wie sind die „super-rich“ entstanden? Welche Quellen und Triebkräfte hat das Wachstum dieser Gruppe? Wie unterscheidet man zwischen informativer und informierter, aber unkritischer Analyse dieser reichsten Gruppe der Weltbevölkerung? Welche Bedeutung hat die große Zahl der sog. „Reichenlisten“? Welche Visualisierungen dieser Gruppe und ihrer Positionierung sind angebracht, welche (starken!) Selbstbildnisse gibt es, von welchen Kontexten hängen sie ab und wie unterscheiden sie sich von anderen Gesellschaftsbildern? Wie leben die „Reichen“ und drücken ihren Reichtum aus? Wie hat die Geografie des Reichtums ihre Orte und Räume des Lebens und die des „ganzen Rests“ verändert? Wie erfahren sie die Lebensstile und Milieus der Reichtumsmacht jenseits der nicht-reichen Gesellschaftsgruppen? Wie also entsteht, verdichtet, konzentriert und reproduziert sich dieser Reichtum? Gilt das Brecht’sche Verdikt „…wär ich nicht arm, wärst du nicht reich?“ Wie hat sich das Verhältnis von öffentlicher Armut und privatem Reichtum entwickelt? Was bedeuten „Finanzialisierung“, „Securization“ und „Privatisierung“ für diese Gruppe? Welche Rolle spielt der „Philanthrokapitalismus“ etwa für die Märkte der Kunst, Wissenschaft, Sport oder Immobilien? Welchen Einfluss hat der Reichtum auf die Immobilienmärkte, die vollends seit 2008 immer wieder als Krisenfaktoren fungieren? Wie entwickeln sich die Märkte, Räume und imperialen Lebensweisen der Luxuskonsumtion? Wie steht es um das Feld des „unerlaubten“, kriminellen und korrupten Reichtums und seine illegale Akkumulation? Welche Bedeutung für die Ökologie hat die politische Ökonomie des Reichtums? Wie reproduziert und organisiert sich diese Ökonomie über Banken, professionelle Dienstleistungsindustrien, Kanzleien, Medien etc.? Und endlich die Schlüsselfragen: sind die Akteure des Reichtums die neuen Souveräne? Welcher Reichtum hat Bestand und welcher nicht, welche Gründe gibt es dafür – und wer, zum Teufel, tut es?