Bernie Sanders konnte die Vorwahlen am Ende nicht gewinnen. Was lernen wir aus dieser Niederlage? Und warum gibt uns seine Kampagne dennoch Hoffnung? 

Verlieren fällt schwer. Und Bernie Sanders’ jüngste Wahlniederlage war, neben der von Jeremy Corbyn in Großbritannien, besonders schmerzhaft, da so viel auf dem Spiel stand, unsere Erwartungen so hoch waren. Doch es wäre falsch, Sanders’ Wahlkampf von 2020 als reinen Fehlschlag zu verbuchen. Motivierte er doch, aufbauend auf dem Erfolg von 2016, Tausende neue Aktivist*innen und schuf zum ersten Mal seit Jahrzehnten im politischen Mainstream der Vereinigten Staaten eine Plattform für die Arbeiter*innenklasse und einen demokratischen Sozialismus. 

Die Stärken und die Unzulänglichkeiten des Sanders-Wahlkampfes sind differenziert zu bewerten, damit Linke in den USA und weltweit die richtigen strategischen Konsequenzen ziehen können. In diesem Beitrag untersuche ich drei zentrale Dynamiken: die Wiederkehr der Klassenpolitik, den Aufbau neuer, dezentraler Mobilisierungstechniken und die Grenzen radikaler Wahlkämpfe im Kontext einer generell schwach organisierten Arbeiter*innenklasse. 
Damit sind natürlich nicht alle Aspekte aufgearbeitet. Doch auch so lassen sich aus unserer gemeinsamen Erfahrung einige wesentliche Lehren ziehen.

Rückkehr der Klassenpolitik

Sanders’ Bewegung zeigt, und das ist wohl ihr Kern, dass Klassenpolitik politisch relevant und wahlentscheidend sein kann. Auch in einer Zeit, da sich der herrschende neoliberale Zentrismus und die aufstrebende extreme Rechte gegenseitig vorantreiben, bleibt eine klassenbezogene Strategie offenbar doch relevant. Dabei ist sie schon lange für tot erklärt worden, und das nicht nur von Gegner*innen sozialistischer Politik, sondern auch von vielen Linken selbst. 

Sanders ging es bei seiner politischen Mission – die wohl am besten als »klassenkämpferische Sozialdemokratie« zu bezeichnen ist  – um die Vereinigung einer diversen, multiethnischen Arbeiter*innenklasse gegen die Milliardär*innen. Anders als die traditionelle Sozialdemokratie und ganz zu schweigen von der typischen Politik der Demokratischen Partei sprach sich Sanders offen für eine Politik des Klassenkonflikts aus. Auf Twitter schrieb er: »Wenn es in diesem Land Klassenkampf gibt, dann wäre es an der Zeit, dass die Arbeiter*innenklasse ihn endlich gewinnt.« Das Wahlkampfteam ließ sich von einem Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA) aus Chicago inspirieren und druckte das Zitat auf einen offiziellen Aufkleber für die Kampagne »Bernie 2020«. 

Immer wieder wies Sanders darauf hin, wie dringend Reformen seien1 um große Umgestaltungen und Umverteilungen für die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse zu erzielen. Dazu zählten für ihn eine allgemeine Krankenversicherung (Medicare For All), kostenloser Zugang zur Hochschulbildung, ein Green New Deal und ein Mindestlohn von 15 Dollar. Auch wenn seine Widersacher*innen das Gegenteil behaupteten – Fragen von race und gender blendete er nicht aus. 
 

Dabei betonte er nicht nur, dass People of Color besonders von seinen Reformen profitieren würden, sondern forderte explizit die Beseitigung von Formen der Unterdrückung hinsichtlich race und gender. Während die Sozialdemokratie traditionell auf Wahlen setzt, radikal linke Aktivist*innen hingegen auf Massenbewegungen, verknüpfte Sanders seine Kampagne ausdrücklich mit Bemühungen, eine Massenmobilisierung von unten zu stärken. Das Wahlkampfteam verwendete finanzielle Mittel, um etwa Streikposten und streikende Arbeiter*innen zu unterstützen (Crosbie 2019). Sanders betonte immer wieder, dass er seine Themen angesichts des harten Widerstands der Etablierten in der Republikanischen und Demokratischen Partei nur durchbringen könne, wenn sich einfache Leute aktiv am politischen Leben und an den politischen Kämpfen beteiligten. Mit den Schlagworten »Not Me, Us!« und »Political Revolution« machte Sanders’ Team der Arbeiter*innenklasse deutlich, dass positiver Wandel nur dann zustande kommen kann, wenn sie selbst sich organisiert und ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt. 

Ein Mitglied des Wahlkampfteams beschrieb die Umsetzung dieser Aktionsformen in Iowa:
»Das Team veranstaltete eine Reihe von basisdemokratischen Kampagnentrainings mit Aktivist*innen, die führende Positionen übernehmen wollten. In den Sitzungen sprachen wir darüber, dass der Neoliberalismus für die aktuelle Krise verantwortlich ist. Wir zeigten den Teilnehmenden, wie sie Menschen anhand alltäglicher Fragen organisieren und eigene Themen ansprechen können. Dafür gab es Gesprächstechniken wie ›My Bernie Story‹, mit denen man persönliche Anliegen mit Politik verknüpfen kann. Die Freiwilligen sollten auch lernen, wie sie andere Personen aktivieren und Freund*innen und Familie mit direkten Fragen zur Teilnahme an der Kampagne bewegen können. […] Wir betonten in diesen Trainings immer auch, dass diese Techniken über den Wahlkampf hinaus einsetzbar sind. Mit ihnen stellen wir an der Basis sehr effektive, gemeinschaftlich organisierte Wahlkämpfe, Arbeitskämpfe und mehr auf die Beine. Nach den Trainings überlegten wir mit den Leuten sogar gemeinsam, was das nächste organisatorische Ziel für die Zeit nach Bernies Wahlkampf sein könnte.«

Verständlicherweise war Sanders’ Niederlage für viele entmutigend, doch die wichtigere Botschaft der Wahlkämpfe von 2016 und 2020 ist, dass seine Ideen Millionen inspirierten, den Sozialismus wieder legitim machten und die US-amerikanische Politiklandschaft veränderten. Ohne diesen Wahlkampf hätte sich die sozialistische Linke der Vereinigten Staaten wohl kaum aus unbedeutenden Splittergruppen zu einer wichtigen Akteurin lokaler und nationaler Politik entwickelt (Maisano 2021). Kongressabgeordnete bekennen sich als links, die Partei der Demokratischen Sozialist*innen Amerikas ist auf fast 100 000 Mitglieder angewachsen. 

Eine Analyse der von Sanders organisierten Wähler*innenschaft und Basisbewegung legt nahe, dass es für Klassenpolitik und sozialdemokratische Forderungen durchaus großflächige Unterstützung gibt, auch wenn es in den Vereinigten Staaten noch keine feste Mehrheitsbewegung für eine klassenkämpferische Sozialdemokratie gibt. Ende Februar 2020 schien Sanders nach dem Sieg bei den Vorwahlen von Nevada kurz vor der Nominierung zu stehen. Dann stellte sich das entsetzte Establishment der Demokratischen Partei, angeführt von Barack Obama, geschlossen hinter Joe Biden, der für sie als einziger Kandidat die Nominierung eines demokratischen Sozialisten zu verhindern vermochte. Dabei kam ihnen zugute, dass bei Vorwahlen der Demokratischen Partei im Vergleich zur gesamten Wähler*innenschaft eher ältere und reichere Wähler*innen ihre Stimme abgeben und diese sich fast ausschließlich darauf konzentrierten, den verhassten Donald Trump zu besiegen. 

Sanders gelang es letzten Endes nicht, diese Gruppe mehrheitlich davon zu überzeugen, dass er dafür der beste Kandidat sei, obwohl sein Wahlprogramm sehr geschätzt wurde und zahlreiche Umfragen ihn bei den Wahlen deutlich vor Trump sahen. Seinem Team glückte es auch nicht, traditionelle Nichtwähler*innen, die tendenziell arm, jung und nicht weiß sind, im erhofften Maß zur Teilnahme an den Vorwahlen zu motivieren, um die eher zentristischen Wähler*innen der Demokraten zu überstimmen. Somit gelang es nicht, die von Analyst*innen wie Thomas Piketty (2018) ausführlich dokumentierte jahrzehntelange Parteiflucht und Stimmenthaltung der Arbeiter*innenklasse umzukehren. Ob Sanders diese Wähler*innen bei der Wahl im November mobilisiert hätte, lässt sich nicht sagen. Doch die Millionen Stimmen, die Sanders tatsächlich erhielt, stehen für eine breite Unterstützung, vor allem unter jüngeren Menschen. Besonders bemerkenswert sind seine überwältigenden Ergebnisse bei Latino-Wähler*innen, die größtenteils zur Arbeiter*innenklasse gehören und zur am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe der USA gehören. In seiner grundlegenden Analyse von Sanders’ Wahlkampf 2020 beschreibt Matt Karp diese Dynamik:

»In besonders lateinamerikanisch geprägten Gegenden von East Los Angeles bis Northside Houston erhielt ›Tío Bernie‹ oft mehr Stimmen als Biden, Bloomberg und Warren zusammen. […] Und da Sanders diese Wähler*innen mit lebensnahen Umverteilungsfragen, die ihnen besonders wichtig sind, überzeugen konnte, war das Sanders-Bündnis von 2020 zwar kleiner als 2016, aber anscheinend noch besser in der US-amerikanischen Arbeiter*innenklasse verankert.« (Karp 2020)

Vor allem aber war die Jugend der entscheidende demografische Faktor dieser Vorwahlen. Kurzfristig gesehen war das pro­blematisch, denn Sanders hatte Schwierigkeiten, Wähler*innen über 45 für sich zu gewinnen. Doch Scharen enthusiastischer junger Menschen verhalfen ihm in nahezu allen Bundesstaaten in der Gruppe der unter 30-Jährigen und oft auch in der Altersgruppe 30 bis 44 zum Sieg (U.S. News, 11.3.2020). Dabei war der Vorsprung oft groß: In Kalifornien und Texas gewann Sanders unter jungen Wähler*innen – Schwarze, Weiße, Hispanics und andere – mit 50 oder mehr Prozent, obwohl die Liste der Kandidat*innen lang war. Karp erklärt, dass Sanders junge Latino-Wähler*innen »in Staaten wie Kalifornien mit unerhörten Vorsprüngen (84 Prozent!)« (ebd.) für sich gewann. 

Die Radikalisierung junger Menschen markiert einen beispiellosen historischen Generationenkonflikt, der noch größere Ausmaße annimmt als in den 1960er Jahren und den Folgejahrzehnten. Angesichts der wachsenden Ungleichheit und des katastrophalen Klimawandels gibt es auch keine Anzeichen dafür, dass die jüngeren Jahrgänge von heute mit dem Älterwerden moderater werden oder zukünftige Generationen wieder zur politischen Mitte zurückkehren. Das bedeutet nicht, dass die Linke auf den demografischen Wandel setzen sollte, um auf eine Mehrheit zu warten, sondern dass langfristig die politische Wetterlage günstig bleibt. Um in diese Bresche zu schlagen, müssen wir unsere Organisationskraft deutlich verstärken. Die Bewegung mag zwar mit jungen Leuten beginnen, aber wenn wir gewinnen wollen, darf sie nicht bei ihnen aufhören.

Organisatorische Innovationen

Während sich Sanders inhaltlich in vielerlei Hinsicht auf eine klassenbasierte Politik bezog, die ihre Blütezeit vor einem Jahrhundert hatte, waren die organisatorischen Strukturen und Mobilisierungstechniken seiner Bewegung bahnbrechend. 

So nutzte das Wahlkampfteam ein breites Arsenal von Strukturen, Instrumenten und Methoden, die weltweit vorbildhaft sein könnten.Im Grundsatz übernehmen Einzelpersonen mittels digitaler Technologien zentrale Koordinations- und Freiwilligenaufgaben, die früher in das Ressort von Vollzeitangestellten und deren Koordinierung des Haustürwahlkampfs fielen. Die dezentrale Organisierung delegiert und verteilt so viel Verantwortung und Arbeit wie möglich an Freiwillige, um eine massive Ausweitung von Aktionen zu erreichen und nicht durch die Anzahl der Vollzeitkräfte begrenzt zu sein, die man sich finanziell leisten kann. Bei »Bernie 2020« wurde dezentrale Organisierung nicht als Ersatz für herkömmliche Organisationsmethoden oder Personal verstanden, sondern als Maximierung der Gesamtkapazitäten. Dezentrale Aktivist*innen hielten den Angestellten sowie den Aktivist*innen vor Ort den Rücken frei für nicht aus der Ferne zu erledigende Tätigkeiten. Es wurde zum Beispiel nicht verlangt, dass Freiwillige ins Büro kommen, um potenzielle Wähler*innen anzurufen. Stattdessen tätigte das dezentrale Onlineteam über 15 Millionen Anrufe und setzte mehr als 20 000 Freiwillige ein, um Unterstützer*innen zu identifizieren, Freiwillige anzuwerben und letztlich für Wähler*innenstimmen zu sorgen. Über ein größtenteils automatisiertes digitales System telefonierten Freiwillige mit Wähler*innen und übertrugen die aufgenommenen Daten in ein Online-Formular. Besonders engagierte Freiwillige konnten sich zu Koordinator*innen dieser Anrufaktionen ausbilden lassen. 

Mithilfe des eigenen Peer-to-Peer-Kurznachrichtenprogramms schickten 30 000 Freiwillige mehr als 260 Millionen Nachrichten an potenzielle Wähler*innen – davon 14 Millionen in spanischer Sprache. Mit der »Bern App« konnten Freiwillige im ganzen Land ihre Freund*innen, Familien und Arbeitskolleg*innen über Bernies politische Aktivitäten informieren und relevante Daten an das Wahlkampfteam weitergeben. Dort wurden sie mit bestehenden Wähler*innenregistern abgeglichen. 

Hinter all dem stand der Anspruch, zu organisieren statt nur zu mobilisieren – die neuen Strukturen sollten Unentschlossene überzeugen und neue Führungsfiguren ausbilden. Dafür entstand das »Bernie Victory Captains Program«, an dem über 2 700 der engagiertesten Freiwilligen teilnahmen, indem sie einmal wöchentlich eine Veranstaltung für Wähler*innen organisierten. Insgesamt gab es 15 000 solche Veranstaltungen im ganzen Land. Jede*r »Victory Coach« wurde alle zwei Wochen vom zentralen Wahlkampfteam telefonisch beraten und geschult. 

Darüber hinaus wurde auch der Haustürwahlkampf standardisiert, an dem Tausende Freiwillige teilnahmen. Ohne direkte Beaufsichtigung durch offizielle Mitarbeiter*innen luden viele Engagierte andere Freiwillige zu sich nach Hause ein, um den Haustürwahlkampf lokal zu planen. Von der Zentrale erhielten die Gastgeber*innen entsprechende Schulungsunterlagen. Die an den Haustüren gesammelten Daten wurden von den Freiwilligen dann per Handy zurückgesendet. 

In einer immer stärker von Entfremdung und Argwohn und immer weniger von Solidarität geprägten Gesellschaft war es besonders bewegend, in die Wohnungen Gleichgesinnter eingeladen zu werden und an einem radikalen kollektiven Wandel zu arbeiten. Dabei war es nicht nur direkte Wahlwerbung, die die Menschen dezentral zusammenbrachte  – weitere Veranstaltungen dienten dazu, Freund*innen und Arbeitskolleg*innen in bestimmten Gegenden oder aus bestimmten Branchen zu organisieren. Als Hauptorganisator für die offizielle Sektion »Educators for Bernie« (Lehrer*innen für Bernie) unterstützte ich die Koordination Hunderter dezentraler Veranstaltungen im ganzen Land. Dabei ergriffen Lehrer*innen die Initiative, für ihr Kollegium Veranstaltungen zu organisieren, bei denen über Bernies Positionen zur Arbeiter*innenklasse oder zum öffentlichen Schulwesen sowie darüber gesprochen wurde, wie sie die übrigen Kolleg*innen in der Schule überzeugen könnten. Bei diesen und anderen Treffen baten wir die Teilnehmenden, Gruppenfotos auf Social-Media-Kanälen zu verbreiten, damit Freund*innen und Kolleg*innen sehen konnten, wie die Bewegung an Fahrt gewinnt. Sicherlich haben alle Kandidat*innen bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei ausgiebig Social Media genutzt, aber niemand annähernd so effektiv wie Bernie. (Nur Trumps Wahlkampfteam konnte wohl von sich behaupten, eine größere digitale Reichweite zu haben.) 

Wie effektiv der Einsatz der dezentralen Organisierungsmethoden war, lässt sich leider nur schwer einschätzen, wenn man nicht über Daten verfügt, die das Verhältnis der Maßnahmen zu den jeweiligen Wahlergebnissen in den einzelnen Staaten aufzeigen. Einerseits war es möglich, Wähler*innen aus der Ferne anzusprechen und Führungsfiguren mithilfe dezentraler Methoden auszubilden. Andererseits kritisierten einige Mitglieder des Wahlkampfteams, dass man sich mit Ausnahme der ersten vier Staaten, in denen Vorwahlen stattfanden (Iowa, North Carolina, Nevada und South Carolina) zu sehr auf dezentrale Instrumente und mediale Aufmerksamkeit verlassen habe. Es wäre demnach besser gewesen, weiterhin stark in bezahlte Kräfte im ganzen Land zu investieren, um konzertierte Aktionen zu starten, Unentschlossene zu erreichen, Wahlkreise mit einem hohen Arbeiter*innenanteil zu organisieren und deren politische Potenziale zu entwickeln. So habe man in den aktivsten dezentralen Gebieten enttäuschte Nichtwähler*innen in der Regel nicht gekannt oder habe nicht in deren Nähe gelebt, obwohl in unserem Wahlkampf ausdrücklich vorgesehen war, diese Gruppe anzusprechen. 

Es steht mir zwar nicht zu, einzuschätzen, wie berechtigt diese Kritik ist beziehungsweise ob es angesichts limitierter Ressourcen sinnvolle Alternativen gab. Doch es ist wichtig, diese Fragen aufzuwerfen, denn sicherlich müssen sich auch in Zukunft Wahlkampfteams und Organisationen mit ihnen befassen, wenn sie dezentrale Instrumente nicht nur für Mobilisierungszwecke, sondern auch für die eigene Organisationsstruktur verwenden wollen.

Fehlende Organisierung der Arbeiter*innenklasse

Ein übermäßiger Fokus auf einzelne taktische Entscheidungen lässt allerdings eine der großen politischen Lehren des Wahlkampfs aus dem Blick geraten, die auch Corbyn in Großbritannien ziehen musste: Ohne eine organisierte Arbeiter*innenklasse, eine auflebende Arbeiter*innenbewegung war es für Bernie besonders schwer, auf nationaler Ebene eine Wahl zu gewinnen, ganz zu schweigen davon, wie schwer es nach der Wahl gewesen wäre, sein Programm umzusetzen. 

Wer behauptet, dass Bernie gewonnen hätte, wenn er diesen oder jenen taktischen Fehler nicht begangen hätte, unterschätzt, wie stark die Gegenseite ist und wie viel besser wir uns organisieren müssen, um sie zu besiegen. Da sich der gewerkschaftliche Organisierungsgrad in den USA auf einem historischen Tiefststand befindet und nur ein kleiner Teil von Bernies Millionen Unterstützer*innen bei den Democratic Socialists of America organisiert ist, wäre es geradezu ein historischer Unfall gewesen, hätte es ab 2020 einen sozialistischen Präsidenten gegeben. Der Wahlkampf von Sanders wäre ganz anders verlaufen, wenn hinter ihm eine große, kämpferische Gewerkschaftsbewegung und eine sozialistische Organisation von Hunderttausenden überzeugten Aktivist*innen gestanden hätten. Ohne diese Macht, die in jahrelanger, geduldiger Organisierungsarbeit in den Arbeiter*innenmilieus entsteht, konnten wir nicht die nötige soziale oder politische Reichweite erlangen, um ein Mehrheitsbündnis aufrechtzuerhalten, nachdem das Establishment im März Joe Biden den Rücken gestärkt hatte (Heidemann/Thier 2020). 

Da die meisten Wähler*innen ihre politische Meinung von einflussreichen Institutionen beziehen, bedeutete das Fehlen einer starken, in der Arbeiter*innenklasse organisierten Linken, dass die meisten Wähler*innen am Ende auf die Medien und Funktionär*innen der Demokratischen Partei hörten. Wir waren auch nicht ausreichend an Arbeitsplätzen und in Gemeinden vertreten, um Nichtwähler*innen in großer Zahl zur Wahl zu bewegen. Ein paar Wochen oder Monate Klinkenputzen können keine tiefgreifende, jahrelange Organisierung ersetzen. Hamilton Nolan hat es auf den Punkt gebracht: »Bernie hat verloren, weil Amerika keine starke Arbeiter*innenbewegung hat.« (Nolan 2020) Die vor uns liegende Aufgabe – in den USA und weltweit – besteht also darin, eine solche organisierte Macht aufzubauen, während wir weiterhin für eine Politik der Arbeiter*innenklasse einstehen. Es besteht keine Garantie, dass wir mit unseren Bemühungen erfolgreich sein werden. Aber sie sind notwendiger als je zuvor. 

Aus dem Englischen von André Hansen und Lisa Jeschke

1. Vgl. www.berniesanders.com/issues/" href="#_ftnref">[]

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