Tuđmans Westintegration

Selbst der kroatische Nationalismus der 1990er, dem gemeinhin Antieuropäismus vorgeworfen wurde, sah sich als Mittel zu diesem Zweck. Tuđman strebte nicht nach Autarkie, sondern nach „westlicher Integration“. Diese wurde von ihm als vermeintliche Rückkehr Kroatiens in den „westeuropäischen Kulturkreis“ propagiert. Die tiefe Krise des jugoslawischen Projekts der 1980er Jahre war geprägt von wirtschaftlicher Stagnation und Schuldenkrise, von Macht- und Verteilungskämpfen zwischen den damaligen Teilrepubliken und deren Parteieliten, von IWF initiierten Strukturanpassungsprogrammen und massenhaften Arbeiterprotesten. In dieser Situation sahen vor allem die relativ entwickelten nordwestlichen Republiken Slowenien und Kroatien ‚Europa’ als Ausweg. Im Narrativ der Nationalisten bedeutete dies zugleich, alle Verbindungen zum Balkan aufzulösen, der als kulturrassistisch aufgeladener Gegenpol zu Europa fungierte. Die krisenhafte Entwicklung des jugoslawischen Projektes nach Titos Tod galt als vermeintlich empirischer Beleg für seine inhärenten Irrationalismen. Die Eingebundenheit in einen Vielvölkerstaat mit weniger entwickelten und angeblich „kulturell fremden“ östlichen Nachbarn, samt der daraus folgenden Zahlungsverpflichtungen in den Föderationshaushalt, wurden zum Haupthindernis der „Rückkehr nach Europa“ erklärt. Den Nationalisten ging es darum, die politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zu Jugoslawien zu kappen und so den Weg für eine schnelle Integration in die Europäische Gemeinschaft zu bahnen. Seine ideologischen Angelpunkte waren neben Antijugoslawismus und Antiserbismus auch ein Antisozialismus. Es ging um nationale Selbstständigkeit und kapitalistische Restauration.

Neoliberalismus und EU-Beitritt

Aber die Nationalisten waren nicht die einzigen, die eine „Rückkehr nach Europa“ anstrebten. Auch reformorientierte Teile der politischen und gesellschaftlichen Eliten operierten innerhalb dieser Dichotomie: Europa versus Balkan. Als der Nationalismus mit dem Ende des Krieges 1995 seine unmittelbare Mobilisierungsfunktion einbüßte, distanzierten sie sich immer expliziter von Tuđmans Ethnochauvinismus. An dessen Stelle trat die Verknüpfung wirtschaftsliberaler Prinzipien mit einem europatauglicheren Menschenrechtsdiskurs. Da Tuđmans Politik das Land eher in die internationale Isolation, als zu einer schnellen Europaintegration manövriert hatte, konnte die Europäisierungsforderung nun gegen ihn selbst in Stellung gebracht werden. Nach seinem Tod zahlte die Kroatische Demokratische Union (HDZ) an den Wahlurnen den Preis für ihren Plausibilitätsverlust als Europäisierungskraft. Unter der Führung des Sozialdemokraten Ivica Račan kam im Jahr 2000 eine sozialdemokratisch-liberale Koalition von sechs Parteien an die Macht, mit dem deklarierten Ziel, den blockierten Europaintegrationsprozess fortzuführen. Der deutlichste Unterschied zur Regierungszeit der HDZ bestand in einer weniger archaisch gefärbten Kulturpolitik. In den öffentlich-rechtlichen Medien wurde die antiserbische (und antijugoslawische) Rhetorik zurückgefahren und man distanzierte sich von Tuđmans ethno-nationalistischer Folklore und regressiver Minderheitenpolitik. Wirtschaftspolitisch trieb die neue Koalitionsregierung unter Račan die Liberalisierung voran und bemühte sich, verbleibende sozialistische „Irrationalismen“ auszumerzen. Da dies den EU-Beitrittsforderungen (und der zunehmenden Neoliberalisierung der europäischen Sozialdemokratie) entsprach, konnte es als notwendige Anpassung an ‚europäische Standards’ legitimiert werden. Račan versprach – in Abrenzung vom Tuđmanschen „Kapitalismus mit balkanischer Prägung“ – einen europäischen Kapitalismus, charakterisiert durch Stabilität, Wachstum, Wohlstand, Inklusivität und ein ausgeprägtes soziales Gewissen. Dieser würde mit dem EU-Beitritt gesichert werden. Die soziale Brisanz vertiefter neoliberaler Reformen wurde durch kreditfinanziertes Wachstum und den Konsum importierter westlicher Waren entschärft, der scheinbare Anschluss an einen „europäischen“ Lebensstandard mit dem Preis der strukturellen Schwächung der kroatischen Wirtschaft bezahlt: zunehmende Verschuldung großer Teile der Bevölkerung und des Staates, eine effektiv an den Euro gekoppelte und überbewertete Währung, ein chronischer Handelsdefizit, anhaltende Deindustrialisierung und hohe Arbeitslosigkeit sind Kennzeichen des kroatischen Entwicklungsmodells. Der Wahlsieg einer europäisierten HDZ unter der Führung Ivo Sanaders im Jahr 2003, änderte abermals nichts an dieser Grundausrichtung. Bis zu seinem abrupten Rücktritt aufgrund von Korruptionsskandalen im Juli 2009, galt Sanaders als Wegweiser eines modernen, normalisierten Konservativismus. Er hatte seine Partei erfolgreich von rechtspopulistischen und extremistischen Anstrichen gesäubert und somit „europafähig“ gemacht. Diese kurze Geschichte der kroatischen Europa-Debatten verdeutlicht die Konsens stiftende Kraft der Erzählung von einer „Rückkehr nach Europa“. Eine Aussicht auf EU-Mitgliedschaft und das damit verknüpfte Wohlstandsversprechen trugen maßgeblich dazu bei, die öffentliche Diskussion um neoliberale Strukturreformen und den damit einhergehenden Abbau sozialer Rechte zu entpolitisieren und als ‚administrative Notwendigkeiten’ auf dem Weg zur Integration darzustellen. Deren Infragestellung konnte als populistisch fehlgeleitete Gefährdung eines breit geteilten Endziels ‚Europa‘ ausgelegt und entkräftet werden.

Bedingungen linker Kritik

Unter diesen Bedingungen fehlte einer linken Kritik an Neoliberalisierung und kapitalistischer Restauration der gesellschaftliche Resonanzboden. Sogar ihrem Selbstverständnis nach linke Intellektuelle und NGOs nahmen erst spät kapitalismuskritische Motive in ihr politisches Repertoire auf. Erst im Zuge der stark links geprägten Studierendenbewegung von 2009, die sich durch wochenlange Fakultätsbesetzungen Gehör verschaffte, begann Neoliberalismuskritik in Teilen der Medien und der Öffentlichkeit eine gewisse Verbreitung zu finden (vgl. Milat in LuXemburg 1/2013, 128ff). Die Studiengebühren – Aufhänger der Proteste – konnten zwar nicht abgeschafft werden. Aus dem Umfeld der Studierendenbewegung ist jedoch ein lebendiges Netzwerk oft explizit kapitalismuskritischer Organisationen und Initiativen entstanden, die Teile der bestehenden NGOs und andere Akteure der Zivilgesellschaft, Journalisten und Intellektuelle maßgeblich beeinflussen. Diese Konstellation wird gemeinhin als die Neue Kroatische Linke bezeichnet. Neben der Studierendenbewegung gehörten vor allem Organisationen und Initiativen gegen Gentrifizierung und die Einhegung öffentlichen Raums zum politischen Entstehungskontext dieser Neuen Linken. Viele von ihnen arbeiten inzwischen mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren und teils feministischen NGOs an der Artikulation einer breiten Plattform gegen die Privatisierungsprojekte der seit Dezember 2011 regierenden sozialdemokratisch-liberalen Koalition. Kooperationen mit Gewerkschaften sind – wegen deren Anfälligkeit für Sozialpartnerschaftsideologie, korporatistische Einbindungsangebote und kurzsichtiges Beharren auf sektorspezifischer Interessenpolitik – teils noch fragil. Obwohl drastische Beschneidungen der Arbeitnehmerrechte immer wieder mit Verweis auf Forderungen aus Brüssel und den angestrebten EU-Beitritt legitimiert wurden, versprechen sich viele Gewerkschaftsfunktionäre von der EU-Mitgliedschaft nach wie vor eine generelle Verbesserung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen und somit auch der Lebensverhältnisse der eigenen Mitglieder. Die Auswirkungen der Finanz- und Weltwirtschaftskrise sowie die Perspektive anhaltender Austeritätspolitik haben den EU-Beitrittsenthusiasmus in den letzten Jahren jedoch erheblich gedämpft. Trotz der massiven Pro-EU-Kampagnen der gesamten politischen Klasse (einschließlich der Opposition), öffentlich-rechtlicher wie privater Medien, der katholischer Kirche, in Den Haag inhaftierter Generäle, großer NGOs, bekannter Intellektueller und Künstler, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ließen sich für das Beitrittsreferendum nur 43,5 Prozent der Wahlberechtigten zum Urnengang motivieren. Diese stimmten jedoch am 22. Januar 2012 mit einer Mehrheit von 66,3 Prozent für den Beitritt.

EU-Kritik statt Anti-EU

Teile der Neuen Linken hatten das Referendum als Gelegenheit genutzt, um in die öffentliche Diskussion einzugreifen. Unter dem umstrittenen Namen „Demokratische Initiative gegen die EU“ publizierten sie kritische Analysen und Polemiken, in denen die von offizieller Seite und den Mainstream-Medien verbreiteten Heilsversprechungen mit der real existierenden Europäischen Union konfrontiert wurden. Auch wenn die Reichweite solcher EU-kritischen Argumente auf ein relativ enges Spektrum von Intellektuellen, Journalisten und Aktivisten begrenzt blieb, so hat die Kampagne dieses Umfeld (und einige kleinere Gewerkschaften) doch nachhaltig beeinflusst. Erstmals wurde öffentlichkeitswirksam Kritik an antidemokratisch-autoritären Entwicklungen und der neoliberalen Ausrichtung der EU geübt. Auch die in der linksliberalen Öffentlichkeit verbreitete Hoffnung, die EU würde als Bollwerk gegen das erneute Aufkommen eines aggressiven kroatischen Nationalismus dienen, wurde mit Gegenbeispielen aus anderen EU-Mitgliedsländern in Frage gestellt: Von der Mitgliedschaft in einer EU, die ökonomisch von einem Konkurrenzkampf auf dem Binnenmarkt geprägt ist, sei in wirtschaftlich schwächeren Ländern wie Kroatien mittel- bis langfristig eher die Stärkung standortnationalistischer Denkmuster zu erwarten. Gerade die Kombination von lang anhaltender Wirtschaftskrise und Standortnationalismus begünstige das Umschlagen in explizit nationalistische Projekte mit xenophoben Ausprägungen – dies sollte den Bürgern Kroatiens schon aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit der politischen Zerfallsdynamik Jugoslawiens verständlich sein. Die Neue Linke hatte sich keine Illusionen gemacht, den Ausgang des Beitrittsreferendums relevant zu beeinflussen. Die Überlegungen, gezielt in die öffentliche Diskussion einzugreifen, waren andere: Mit dem Versuch, eine EU-Kritik von links zu formulieren, sollte verhindert werden, dass Anti-EU-Positionen von der politischen Rechten vereinnahmt werden. Gleichzeitig ging es darum, den Boden für künftige Auseinandersetzungen zu bereiten, wie sie nach der endgültigen Erschöpfung der EU-Illusionen abzusehen sind. Das jahrzehntelang beschworene Ziel einer EU-Mitgliedschaft ist seit Sommer dieses Jahres erreicht. Damit fällt ‚Europa‘ als konsensstiftendes Fernziel aus dem ideologischen Repertoire. Gesellschaftliche Widersprüche lassen sich nicht mehr so leicht mit Verweis auf vermeintliche automatische Lösungen entschärfen. Neue Debatten stehen an. Für die Linke ist dies eine Chance und eine Gefahr zugleich. Ein ungarisches Szenario mitsamt ‚kroatischem Orban’ ist nicht auszuschließen. Die wachsende Stärke einer organisierten Linken in Slowenien, wie die „Initative für Demokratischen Sozialismus“ lässt jedoch auch andere Entwicklungen möglich scheinen. Gleichzeitig steckt die kroatische Linke noch in den Kinderschuhen, hat ernste Schwächen: Es fehlt eine Organisationsstruktur, die langfristiges, strategisches Handeln ermöglichen und die als Gravitationspunkt für Bewegungen und die weitere Öffentlichkeit dienen könnte. Auch fehlt es an plausiblen positiven Gegenentwürfen zur dominanten neoliberalen Krisenbewältigung. Diese müssen – angesichts der neuen Realität einer EU-Mitgliedschaft – in enger Zusammenarbeit mit der europäischen Linken erarbeitet werden. Hier liegt eine Verantwortung von etablierten Kräften wie der Linkspartei in Deutschland für die künftige Entwicklung der Linken in peripheren Ländern wie Kroatien. Sie sind wichtiger Referenzpunkt und Ansprechpartner.