Jede strategische Diskussion der politischen Linken muss sich der Analyse des Status quo widmen wie der Klärung der eigenen programmatischen Zielvorstellungen und der beide Aspekte verbindenden Diskussion der möglichen und notwendigen Wege vom einen zum anderen. Das Verdienst des vom Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) vorgelegten Papiers über »Die gesellschaftliche Linke in den gegenwärtigen Krisen« – eine Kurzfassung erschien in Luxemburg 1/2009 – liegt darin, dass es sich um eine solche neue strategische Diskussion der gesellschaftlichen und parlamentarischen Linken bemüht und dabei die Frage aufwirft, auf welche Weise die trotz der Weltwirtschaftskrise fortbestehende Hegemonie der maßgeblichen Akteure des Neoliberalismus aufgebrochen und durch eine neue Hegemonie von links abgelöst werden könnte.. Viele der im Papier angesprochenen Analysen und Aspekte teilen wir durchaus. Einspruch erheben wir allerdings gegen das von den AutorInnen skizzierte strategische Projekt, das in die Orientierung auf ein »solidarisches Mitte-Unten-Bündnisses« für einen linken »Green New Deal« mündet, das sich auf Gewerkschaften und soziale Bewegungen stützen und dessen politischer Ausdruck eine rosa-rot-grüne Koalition sein soll. Mit dem Bündnis und dem Koalitionsprojekt soll die als eine wesentliche Ursache der Schwäche und mangelnden Hegemoniefähigkeit der Linken in Deutschland dargestellte Fragmentierung ihrer politischen Formationen überwunden werden. Hieran hätten nicht nur die Partei Die Linke, sondern auch SPD und Grüne ein Interesse, um aus ihrer ansonsten fortbestehenden Subalternität gegenüber dem »bürgerlichen Lager« ausbrechen und sich Regierungsoptionen diesseits von Union und FDP erschließen zu können. Da SPD und Grüne eine solche Orientierung bislang nicht verfolgen, sei es Aufgabe der Partei Die Linke, deren »Anreizstrukturen« in Richtung des Bündnisses zu verändern.

Blinder Fleck: die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse

Die IfG-AutorInnen reflektieren nicht, dass sowohl die tatsächlichen (»realpolitischen«) Handlungsspielräume von Regierungen, als auch der Diskurs der veröffentlichten Meinung maßgeblich durch die Kräfteverhältnisse in der Zivilgesellschaft bestimmt werden. Unter Zivilgesellschaft fassen wir hier die interessenspolitisch unterschiedlich orientierten BürgerInnen unterhalb bzw. »diesseits« der Apparate und Institutionen, d.h. der Medien, Parteien, Parlamente, Regierungen und Verwaltungen. Auch wenn Parteien und Regierungen die zivilgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse mit Hilfe der Medien durchaus beeinflussen können und als solche im Fokus öffentlicher Meinungsbildung stehen, so stehen sie doch in enger und abhängiger Beziehung zum grundlegenden Interessenkonflikt des Kapitalismus: dem zwischen Lohnarbeit und Kapital. Er bildet gleichsam ihren Fluchtpunkt und definiert auch im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts die zivilgesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse. Bei Strafe des Untergangs kann eine Reformregierung nie weiter gehen, als ihr zivilgesellschaftliches Unterstützerpotenzial sie zu tragen bereit ist. Der Siegeszug des Neoliberalismus war deswegen auch in Deutschland keine bloß »politische« Veranstaltung von Regierungspolitik und parlamentarischen Mehrheiten. Zivilgesellschaftliche und institutionelle Politik arbeiteten vielmehr Hand in Hand. Der zivilgesellschaftliche Vormarsch des Neoliberalismus fand nicht zuletzt – unter Nutzung auch des strukturellen Gewaltpotenzials wirtschaftlicher Macht – auf dem Gebiet der Tarifpolitik statt. Der letzte große gewerkschaftliche Kampf in Deutschland, in dem das Klasseninteresse als Interesse der Allgemeinheit in Erscheinung trat und damit eine wesentliche Voraussetzung gesellschaftlicher Hegemoniefähigkeit aufwies (der Kampf um die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich 1984), liegt ein Vierteljahrhundert zurück und endete in einem problematischen Kompromiss. Spätestens seitdem befinden sich die Gewerkschaften in einer – durch die weltpolitische Entwicklung beförderten – strategischen Krise, die schließlich im »Bündnis für Arbeit« und dem Bekenntnis zur »Lohnzurückhaltung « offen hervortrat. Vor diesem Hintergrund und ohne den ernsthaften Versuch der Gewerkschaften, mit einer glaubhaften solidarischen Gegenstrategie das Blatt zu wenden, entmutigte die Kette tarifpolitischer Misserfolge die Mitgliedschaft zunehmend und begünstigte während der 1990er Jahre den allmählichen, sich durchaus auch »von unten nach oben« vollziehenden Wandel der Sozialdemokratie zur post-sozialdemokratischen Partei der Neuen Mitte – mit wiederum verheerenden Rückwirkungen in Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden. Die »Lohnzurückhaltung« ließ einerseits die Finanzprobleme der Sozialversicherung anwachsen, als deren »Lösung« die Agenda- Reformen auftraten, andererseits weckte die Ebbe im Portemonnaie der ArbeitnehmerInnen deren Empfänglichkeit für Versprechungen einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge (»Lohnnebenkosten«-Debatte). Dies scheint uns die entscheidende Ursache zu sein auch für den Wandel von SPD und Grünen ins Gegenteil ihrer selbst. Anders, als das IfG suggeriert (»Die Niederlage in den Deutungskämpfen antizipiert die Niederlage in den politischen und ökonomischen Kämpfen.«), haben die Neoliberalen nicht zunächst die »Deutungshoheit« errungen, um danach deren materielle Früchte zu ernten. Vielmehr bildeten beide »Ebenen« Momente ein und desselben Prozesses der Rechtsverschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Eine moderne linke Gegenstrategie wird daher nur erfolgreich sein, wenn sie den organischen Zusammenhang zwischen zivilgesellschaftlichen und parteipolitisch- parlamentarischen Kräfteverhältnissen und die Abhängigkeit der letzteren von den ersteren in eine »Doppelstrategie« übersetzt, deren primärer Fokus nicht »die machtpolitisch durchsetzungsfähige Alternative« fordert (These 6) – Machtpolitik hier im landläufigen Sinne von Regierungspolitik verstanden –, sondern auf die Veränderung der zivilgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse jenseits der Institutionen gerichtet sein muss.

Agenda 2010 und Krieg: Historische Zäsur für SPD und Grüne

Dem traditionellen common sense folgend, SPD und Grüne dem »linken Lager« oder dem »Mitte-Links-Spektrum« zuzurechnen, sprechen die IfG-AutorInnen diese Parteien als »politische Formationen der Linken« an. So verständlich dies sein mag, um jeden sektenhaften Gestus zu meiden, so wenig lässt sich eine solche Lagerzuordnung von SPD und Grünen sachlich rechtfertigen. Vielmehr gilt es, die historische Zäsur in den gesellschaftlichen Rollen der beiden Parteien wahrzunehmen, die in ihrer Implementierung der Agenda 2010 und der Restauration des Krieges als Mittel der Außenpolitik zum Ausdruck kam und ihre Politikentwicklung seither nachhaltig prägt. Es waren nicht nur die Schröder’schen Spitzengenossen, sondern überwältigende Parteitagsmehrheiten, die sich frontal gegen die existenziellen Interessen ihrer lohnabhängigen Kernwählerschaft wandten. Und es waren Parteitagsmehrheiten der Grünen, die mit der Billigung der Kriege und einer »Scharnierpolitik« zwischen SPD-»Reformern« und Union den Bruch mit der Friedensbewegung und anderen Ansätzen sozial-ökologischer Bewegungen vollzogen. Völlig zurecht erinnern Oskar Lafontaine und Gregor Gysi ein ums andere Mal daran, dass »die anderen« sämtlich neoliberale Parteien seien. Gutes Zureden von außen wird da nicht helfen: Hat eine Partei ihre sozialen und/oder politischen Wurzeln erst einmal gekappt, sind die »Brücken zurück« zerstört. Beide Parteien haben den Großteil ihrer vormaligen linken Flügel – wer sonst sollte Träger einer inneren linken Erneuerung sein? – unterwegs verloren. Die Teile, die weiterhin parteipolitisch aktiv sein wollen, haben sich in der Linkspartei versammelt. Wir kennen auch keinen historischen Präzedenzfall, der die Annahme einer möglichen »Re-Sozialdemokratisierung« der SPD rechtfertigen könnte. Bündnisse mit SPD und Grünen bleiben daher Bündnisse mit Parteien eines moderaten Neoliberalismus – und ein gemeinsames Projekt auf der gleichen Richtungsspur. Bereits das »rot-grüne Projekt« des Realoflügels der grünen Linkspartei der späten 1980er und 90er Jahre war insoweit illusionär (und insoweit das Gegenteil von Realpolitik), als es den »Einstieg in die sozial-ökologische Transformation der Industriegesellschaft« vorrangig als Top-down-Projekt einer Regierungskoalition statt als Produkt eines zivilgesellschaftlichen Richtungskampfes verstand. Allerdings war die SPD damals noch sozialdemokratisch, so dass es im Rückblick ungleich realistischer erscheint als ein heutiges linkes Reformprojekt von Rosa-Rot-Grün.

Bewegung, Partei und Parlament

Die versprochene neue soziale Idee, mit der die Partei Die Linke 2005 ihren Durchbruch schaffte, ist in den letzten vier Jahren kaum nennenswert mit Leben gefüllt worden. Ob die Konzepte eines »linken Green New Deal« hier nachhelfen können, darüber sind selbst die IfG-AutorInnen offensichtlich uneins. Auf Seite 16 legen sie dies nahe, doch zwei Seiten zuvor betonen sie, dass auch der linke Green New Deal »wesentliche Züge eines Bündnisses der Bessergestellten im Rahmen einer ökologischen Modernisierung« aufweise. Wie auch immer: Allen bisherigen New-Deal- Projekten ist jedenfalls gemeinsam, dass sie Lösungen der relevanten gesellschaftlichen Probleme im Wege des Regierungshandelns und auf der Grundlage eines neuen Klassenkompromisses herbeiführen wollen. Gerade ein linkes Projekt sozial-ökologischer und demokratischer Re-Regulierung des Marktes stünde aber vor der entscheidenden Frage, wie gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu Stande kommen können, unter denen sich die neoliberale Bourgeoisie zu einem entsprechenden Klassenkompromiss bereit finden könnte. Alle früheren substanziellen Fortschritte bei der Zivilisierung des Kapitalismus waren mit ernsthaften Herausforderungen der kapitalistischen Herrschaft verbunden: mit dem Aufstieg sozialdemokratischer ›Umtriebe‹ zur Zeit Bismarcks, mit der Novemberrevolution 1918/19, der totalen Legitimationskrise des Kapitalismus nach Faschismus und Krieg oder der fundamentalen Gesellschaftskritik von »1968«. Dies bezeichnet kein Entweder-Oder, kein Ausspielen der Bewegungspolitik gegen die Parlamentsarbeit. Wohl aber geht es um eine andere Gewichtung im gemeinsamen Feld. Bezeichnet »Sozialistische Strategie« den Entwurf von Projekten eines potenziellen Regierungshandelns, scheint sie uns das Pferd von hinten aufzuzäumen. Sie muss vor allem anderen darauf setzen, dass neue solidarische Bewegungen von unten, Bewegungen kollektiver Gegenwehr zunächst, eine nachhaltige Veränderung der Kräfteverhältnisse herbeiführen, dem Pendel eine andere Richtung geben. Es geht uns dabei nicht um die Routinebeschwörung der »Wichtigkeit der sozialen Bewegungen «, sondern um eine neue kollektive Überlegung, wie Partei- und Parlamentsarbeit zum Mittel der Selbstermächtigung breiter Bevölkerungsteile werden könnten. Ein »solidarisches Mitte-Unten-Bündnis« kann allenfalls ins Leben treten, wenn es im wirklichen Leben Gestalt annimmt, in gemeinsamer solidarischer Aktion – was die IfG-AutorInnen nur in Nebensätzen (These 6) zugestehen. Und da die von ihnen beschriebenen Schichten, auf die sich ein solches Bündnis stützen soll, wesentlich Schichtungen der lohnabhängigen Klasse sind, ergänzt um (teils »subproletarische«) prekäre Selbständige, wäre eine tragende Formierungssäule eines solchen Bündnisses die enge Verzahnung mit einer erneuerten Gewerkschaftspolitik, die den grundlegenden Daseinszweck von Gewerkschaften wieder mit Leben füllt: die Konkurrenz der Lohnabhängigen durch Formulierung gemeinsamer (Klassen-)Interessen zu überwinden und mit dem Kampf um dieselben als Gegenmacht aufzutreten. Gute Arbeit in kurzer Vollzeit mit mehr Zeitsouveränität und in sozialer Sicherheit könnte das Themenfeld umreißen, weil es anschlussfähig ist für Interessenlagen von Ingenieuren wie von Erwerbslosen, von Beschäftigten des privaten wie des öffentlichen Sektors. Die konsequente Vertretung von Interessen der Lohnabhängigen, Rentner und Erwerbslosen als »strukturkonservativ« und »hegemonieunfähig« zu bezeichnen, soweit sie nicht eingebunden ist in ein Bündnis mit den »sozial-libertären Mittelschichten« (IfG 2009a, 79), ist jedenfalls eher die Fortsetzung der linken Misere als ihre Überwindung. Nur ein neuer zivilgesellschaftlicher Aufbruch wird in der Lage sein, die Hegemonie der Neoliberalen in Politik und Gesellschaft wirksam zu brechen und alternative Entwicklungswege zu einer realistischen, praktikablen Option zu machen. Das politische Koordinatensystem würde insgesamt verschoben und sich damit auf die Positionierungen nicht nur einer, sondern grundsätzlich aller Parteien auswirken. Eine neue Schicht von AktivistInnen und von Menschen, die sich in der Bewegung politisierten, würde ins politische Leben eintreten und alte ›Gewissheiten‹ in Frage stellen. Soweit sich die Partei Die Linke als politische Organisation bewusster und entschiedener VorkämpferInnen sozial-ökologischer und emanzipatorischer Gesellschaftstransformation begreift, sollte sie unverzüglich beginnen, sich der Aufgaben auf dem Terrain des zivilgesellschaftlichen Kampfes systematisch anzunehmen. So richtig es bleibt, dass große soziale Bewegungen nicht von Parteien ›gemacht‹ werden können, so falsch wäre der Glaube, die linke ›Avantgarde‹ brauche nur in den Parlamenten zu warten, bis ›sie‹ kommen, um dann ihre Früchte ernten zu können. Vielmehr ist es gegenwärtig die vornehmliche Aufgabe der Linken, zur Entfaltung sozialer Bewegung zu ermutigen, weil allein dadurch ihre politischen Konzepte – selbst wenn sie vorerst nur auf substanzielle Reformen im Kapitalismus zielen – in Reichweite der Umsetzbarkeit gebracht werden können. Mehr noch: Das sozialistische Thema der Überwindung der kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse fällt insgesamt zusammen mit dem Thema der demokratischen Selbstermächtigung der lohnabhängigen Mehrheit der Zivilgesellschaft, der Beflügelung ihres Selbstbewusstseins und der Entfaltung ihrer Selbstorganisation und Selbsttätigkeit.