Vor einigen Wochen erschien in der LuXemburg ein Artikel von Daniel Weidmann. Unter dem Titel „Her mit der Utopie!“ fragt der Autor nach dem Kern linker Gewerkschaftspolitik. Dabei setzt er sich vor allem kritisch mit meinem zuvor bei Jacobin erschienenen Artikel „Warum die Linkspartei Gewerkschaften priorisieren muss“ auseinander. Deutlich dabei wird, dass sich unterschiedliche Vorstellungen linker Gewerkschaftspolitik argumentativ herausschälen. Die folgende Erwiderung geht daher auf die formulierten Kritikpunkte ein. Sie sollte als ein weiterer Beitrag zur Debatte über eine zeitgemäße linke Gewerkschaftspolitik verstanden werden.

Organizing und Gewerkschaftsalltag sind keine Gegensätze – in der Tat!

Daniel Weidmann beginnt seinen Artikel mit der Feststellung, dass Organizing und Gewerkschaftsalltag keine Gegensätze sind. Er argumentiert völlig zu Recht, dass kontinuierliche Gewerkschafts- und kritische Betriebsratsarbeit nicht nur in Streiks und Betriebsversammlungen stattfinden und dass Belegschaften auch in Fragen des betrieblichen Alltags auf den Aufbau betrieblicher Gegenmacht angewiesen sind. Dabei wird ein Gegensatz konstruiert, der gar nicht im Raum steht. Denn unbestritten ist, auch in meinem Artikel, dass Belegschaften nur dann wirksam ihre Interessen durchsetzen können, wenn sie das strukturelle Ungleichgewicht in der Beziehung von Kapital und Arbeit durch gewerkschaftliche Organisierung ausgleichen. 


Der eigentliche Dissens besteht vielmehr in der Frage, welchen Stellenwert die beiden gewerkschaftspolitischen Kernbereiche – ­Aufbau von Organisationsmacht einerseits und gewerkschaftliche Strategiebildung andererseits – für die Gewerkschaftspolitik der LINKEN haben sollten. Ich stelle die These auf, dass die Gewerkschaftsorientierung von Partei und Rosa-Luxemburg-Stiftung aktuell einen so starken Fokus auf bloße Solidarisierungsadressen mit Streikenden und Organizing-Strategien legt, dass dabei die Bedeutung linker Impulse für die gewerkschaftliche Strategiedebatte aus dem Blick gerät. Das schwächt die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit ebenso wie die der Partei DIE LINKE. Untermauern möchte ich diese These mit einem Verweis auf die Streikkonferenz, die im Mai dieses Jahres in Bochum stattfand. Hier wurde ein starker Schwerpunkt auf die Veränderung betrieblicher Kräfteverhältnisse gelegt, wofür es angesichts unzumutbarer Arbeitsbedingungen insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge berechtigte Gründe gibt. Weitgehend ausgeblendet wurden dabei aber die Veränderung von Gewerkschaftspolitik durch Krieg und Aufrüstung und notwendige Wege zu einer stärkeren Wahrnehmung des gesellschaftspolitischen Mandats durch die Gewerkschaften.


Dass gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit nicht allein durch Mitgliederwachstum entsteht, sondern auch dann, wenn die Lohnabhängigen Kräfteverhältnisse einordnen, wenn sie das Ineinandergreifen betrieblicher und politischer Entwicklungen durchdringen, wenn sie persönliche Abhängigkeitsverhältnisse in den Kontext gesellschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse stellen können, ist eine Binse. Sie dürfte unumstritten sein. Sie hat eine gewerkschaftliche Strategiediskussion und den Austausch von politischen Einschätzungen zur Voraussetzung, wird allerdings durch einen hochaggressiven Krisen-, Kriegs- und Katastrophenkapitalismus vor komplexe Herausforderungen gestellt. Zu diesen Herausforderungen gehört auch, dass sich herrschende Politik nur noch mit dem Anspruch begnügt, die Menschen vor den krassesten Krisenfolgen schützen zu wollen, wie Hans-Jürgen Urban in „Krise. Macht. Arbeit.“ nachvollziehbar herausgearbeitet hat. In der Konsequenz führt das dazu, dass mit dieser Entwicklung „der traditionelle Anspruch von sozialreformerischer Politik, von sozialdemokratischer oder auch sozialistischer Politik, die Dinge nicht so laufen zu lassen, sondern einzugreifen, um sie im Sinne von Werten wie sozialer Gerechtigkeit oder gesellschaftlichem Gemeinsinn zu gestalten,“ (Urban 2023, 16) verkümmert. Damit erodiert auch die historische Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und SPD und ruft die Gewerkschaften als gesellschaftspolitischen Akteur zurück auf die Bühne. Linke Gewerkschaftspolitik sollte diese Entwicklung nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sichtbar machen und die Gewerkschaften darin bestärken, ihre Rolle als gesellschaftspolitischen Akteur zu definieren und auszufüllen. Ausgehend von dieser These halte ich eine Weiterentwicklung unserer Gewerkschaftspolitik für erforderlich.

Linke Impulse brauchen Verankerung

Das – im oben formulierten Sinne – Eingreifen in gewerkschaftliche Strategiediskussionen gelingt nur einer gewerkschaftlich verankerten Partei. Will die LINKE mit ihren politischen Angeboten die Belegschaften erreichen und ein politisches Verhältnis zur Klasse der Lohnabhängigen aufbauen, braucht sie dazu betrieblich und gewerkschaftlich verankerte Mitglieder. Linke Impulse finden leichter ihren betrieblichen Adressaten, wenn sie nicht von außen an die Belegschaften herangetragen, sondern von den gewerkschaftlich Aktiven ausgesendet werden. Das heißt: Linke Verankerung schafft linke Impulse. Gleichzeitig kann die Unterbreitung politischer Orientierungsangebote, der Kampf um Argumente, der konstruktive Streit um gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit die Anerkennung im Betrieb stärken. Linke Impulse können also auch Verankerung schaffen.


Für die politische Praxis bedeutet das, dass die LINKE dann zum Kompass in der gewerkschaftlichen Debatte werden kann, wenn sie integraler Bestandteil der schwierigen und manchmal widersprüchlichen Arbeit betrieblicher Interessenvertretung ist. Dazu muss die Stärkung der Vertrauensleutearbeit ebenso in den Blick genommen werden wie die Politisierung der tagtäglichen Arbeit von Betriebsräten, Personalräten und Mitarbeitervertretungen und nicht zuletzt die Stärkung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Viele Genoss*innen fungieren bereits in den Gewerkschaften als Bildungsreferent*innen, sie sind Betriebs- und Personalräte, engagieren sich in der Schwerbehindertenvertretung oder bilden als Teil des Vertrauenskörpers den Kern der Gewerkschaft im Betrieb. Aktuell hat die LINKE ihnen für ihre gewerkschaftliche Arbeit wenig anzubieten. Eben hier aber könnten wir von der belgischen Partei der Arbeit (PTB) lernen, die über linke Betriebsgruppen ihre Mitglieder dabei unterstützt, unter ihren Kollegen zum politischen Referenzpunkt zu werden.

Herausforderungen gewerkschaftlicher Strategiebildung

Eine zunehmende soziale Polarisierung, epochale Umbrüche in der Arbeitswelt, der immer wahrscheinlicher werdende Klimakollaps und die wachsende Kriegsgefahr stellen eine arbeitnehmerorientierte Interessenvertretung auf unterschiedlichen Ebenen vor komplexe Probleme. So konfrontiert die aktuelle Vielfachkrise die Gewerkschaften sowohl mit konjunkturellen Krisen, als auch mit einer fundamentalen Strukturkrise kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die Komplexität besteht darin, dass die einzelnen Krisenprozesse ineinandergreifen und sich dadurch verstärken. So erfordert die Krise der fossilen Industrieproduktion neue industriepolitische Weichenstellungen im Westen, wird aber von geopolitischen Rivalitäten mit aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie China begleitet. Neue geopolitische Bündnisse beschleunigen die Blockbildung und machen den Umschlag der wachsenden ökonomischen Konkurrenz in militärische Auseinandersetzungen immer wahrscheinlicher. Gleichzeitig richten neue Kriege ein unbeschreibliches ökologisches Desaster an –  und das in einer Zeit, in der der Kampf gegen den Klimawandel die schnelle Reduktion von CO2-Emissionen diktiert und zügig Dekarbonisierungsprozesse erforderlich macht. Doch statt diese in die Wege zu leiten, binden schwindelerregende Rüstungsprojekte finanzielle Ressourcen, die zur Armutsbekämpfung oder zur sozial-ökologischen Transformation aufgewendet werden müssten. 


Immer deutlicher zeigt sich, die Instrumente zur Gestaltung betrieblicher Transformationsprozesse stoßen an ihre Grenzen, wenn sie sich innerhalb bisheriger Denkmodelle bewegen. Auswege aus Konjunktur- und Systemkrise müssen den Anspruch formulieren, dass Investitionen in Nachhaltigkeit nicht länger aus Gründen der Renditesteigerung vorgenommen werden dürfen, sondern dem Prinzip gesellschaftlicher Nützlichkeit folgen müssen. Doch das Skizzieren neuer Entwicklungs- und Gesellschaftsmodelle, die ein naturverträgliches Wachstum mit Verteilungsgerechtigkeit und sozialer Sicherheit zusammenbringen, müssen eine sorgfältige Analyse des auf fossilem Wachstum beruhenden Wohlfahrtsmodells zur Grundlage haben. Das System, das historisch auf der Umverteilung von Profiten beruht, die durch fossiles Wachstum zustande kommen, gerät in die Krise, weil die Natur dieses Wachstum nicht mehr aushält. Damit verändert sich notwendigerweise auch die Rolle der Gewerkschaften. Denn ein fossiler Wohlfahrtsstaats- und Wachstumskapitalismus, der ökologisch an seine Grenzen stößt, ist zugleich ein Angriff auf die gewerkschaftliche Identität und jahrzehntelange gewerkschaftliche Kämpfe (Urban 2023, 55). Eine linke Gewerkschaftspolitik, die sich auf der Höhe der Zeit bewegen will, muss diese strategischen Dilemmata der Gewerkschaften wahrnehmen und linke Impulse in die gewerkschaftliche Strategiedebatte geben wollen.

Im Bündnis mit Gewerkschaften oder Gewerkschaftslinken?

Doch mit wem führen wir die gewerkschaftlichen Strategiedebatten und wer sind dabei unsere Bündnispartner? Für Daniel Weidmann sind es nicht die Gewerkschaften als Ganzes, sondern die Gewerkschaftslinke im Besonderen. Dabei skizziert er gewerkschaftspolitische Vorstellungen, die die Gewerkschaftsarbeit der Partei schnell in die politische Isolation führen können und deshalb Teil unserer gewerkschaftspolitischen Strategiedebatte werden müssen. Die Gewerkschaftspolitik der SPD dürfe „nicht nachgeäfft“ werden, schreibt er, ohne weiter auszuführen, an welchen Punkten dies geschieht. Stattdessen konkretisiert er: „DIE LINKE muss alles daransetzen, die wichtigste parteipolitische Bündnispartnerin der Gewerkschaftslinken“ zu werden. Gesetzesinitiativen aus dem Ministerium von Hubertus Heil wie belastbare Home-Office-Regelungen, ein belegschaftsfreundliches Gesetz zur Arbeitserfassung und vermutlich auch das Verbot von Leiharbeit und Werkverträgen in der Fleischindustrie bezeichnet er als „neu aufgetragenen Gewerkschaftslack“ und fordert eine scharfe Abgrenzung von der Gewerkschaftspolitik der SPD. 


Wie oben bereits erläutert, befinden sich die Gewerkschaften in anspruchsvollen strategischen Klärungsprozessen. Eine linke Gewerkschaftspolitik, die den Anspruch formuliert, nur die Gewerkschaftslinke ansprechen zu wollen, läuft Gefahr, sich in einer avantgardistischen Stellvertreterpolitik einzurichten. Zusammenarbeit mit denjenigen, die es „bereits verstanden“ haben, könnte die Folge davon sein. Eine solche Politik verkennt, wie sehr in der aktuellen gesellschaftlichen Krisensituation bisherige Denkmuster buchstäblich aus den Fugen geraten und sich Gelegenheitsfenster öffnen, Alternativmodelle gesellschaftlicher Zusammenarbeit und gesellschaftlichen Zusammenlebens, die weit über profitorientierte Marktlogiken hinausreichen, breit zu diskutieren.

Die SPD ist nicht der Hauptgegner

Hinzu kommt: Eine pauschale Abgrenzung von der Gewerkschaftspolitik der SPD scheint ein wenig apolitisch und birgt die Gefahr, dass sich die LINKE in den Gewerkschaften isoliert. Das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften ist ein historisch gewachsenes. Die Agenda 2010 schuf einen Moment, in dem dieses Verhältnis zu Recht fragil wurde. Die Politik der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder zielte darauf ab, die Belegschaften zu disziplinieren und griff auf unterschiedlichen Ebenen ihre Besitzstände an. Aus gutem Grund wurde diese Politik von links kritisiert und bekämpft. Die aktuellen Gesetzesinitiativen aus dem Ministerium von Hubertus Heil dagegen, wie wir sie beispielsweise nach den Masseninfektionen unter Beschäftigten in den Schlachthöfen erlebten, zielen auf eine Regulierung der Arbeitsverhältnisse. Sie sind mehr als „neu aufgetragener Gewerkschaftslack“, denn sie haben die Arbeitsbedingungen von zehntausenden Beschäftigten verbessert. So sollen am Stammsitz Tönnies laut Unternehmensangaben mehrere Tausende Werkvertragsarbeiter*innen übernommen worden sein. 


Die regulierende Bilanz dieses Gesetzes ist nicht unbedeutend: Seit 2021 sind Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie verboten. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz verbietet den Einsatz von Subunternehmen im Kerngeschäftsbereich. Schlacht-, Zerlege- und Fleischverarbeitungsprozesse dürfen nur noch von regulär Beschäftigten vorgenommen werden. Darüber hinaus gibt es Mindestanforderungen für Gemeinschaftsunterkünfte und die Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung. Eine solche Gesetzesinitiative als reine Kosmetik der SPD abzutun, ist aus mehreren Gründen problematisch. Sie macht nicht zuletzt auch die Forderungen der LINKEN unglaubwürdig, denn Markenkern unserer Partei seit ihrer Gründung ist der Kampf gegen die Auswüchse prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Sie erschwert zudem die Bündnispolitik, die für die Durchsetzung weiterer Verbesserungen notwendig wäre.

Politische Widersprüche und Einheitsgewerkschaft

Orientierungspunkt linker Gewerkschaftspolitik sollte immer die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen sein. Diese werden auf der betrieblichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene reguliert und dereguliert, angegriffen und verteidigt, zur Disposition gestellt und immer wieder neu ausgefochten. Für eine erfolgreiche Auseinandersetzung ist die Klasse der Lohnabhängigen darauf angewiesen, dass sie ihre Kämpfe für Regulierung und gegen Deregulierung gemeinsam führt. Eine sektiererische, das heißt nicht inhaltliche, sondern pauschale Auseinandersetzung mit der Politik der SPD legt die Axt an die Grundfeste unserer Gewerkschaftsbewegung. Aus gutem Grund gilt in der deutschen Gewerkschaftsfamilie das Prinzip der Einheitsgewerkschaft. Linke Gewerkschafter*innen sollten dieses Prinzip nicht in Frage stellen, sondern dessen entschiedenste Verfechter*innen sein. 


Zusätzlich gibt eine solche Politik auch das Instrument aus der Hand, politische Initiativen dort zu kritisieren wo sie es verdient haben. Denn wie so häufig haben sich die Arbeitgeber auch beim Arbeitsschutzkontrollgesetz mit ihrer bewährten Strategie, Teilen der Klasse regulierte Arbeitsverhältnisse vorzuenthalten, durchgesetzt. In der Zeit betrieblicher Produktionsspitzen – wie etwa in der Grillsaison – ist Leiharbeit in der Fleischverarbeitung weiterhin möglich, wenn auch befristet bis April 2024. Außerdem ist das Fleischerhandwerk, also Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigten, von den Regeln des Gesetzes ausgenommen. Hinzu kommt, dass die Regelung nur für den Kernbereich der Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung gilt, Leiharbeit im Bereich der Verpackung oder Reinigung also weiter erlaubt ist. Linke Handlungsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit sozialreformistischer Politik entsteht nicht, wenn pauschal abgelehnt wird, was die SPD in der Regierung beschließt, sondern wenn sie die sinnvollen Gesetzesinitiativen begrüßt und eine Ausweitung der Regulierung auf alle Bereiche und andere Branchen fordert. Linke Gewerkschaftspolitik sollte also politisch verallgemeinern und reformerisch zuspitzen, um gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit einen Fokus zu geben, statt sinnvolle arbeitsmarktpolitische Gesetzesinitiativen der SPD pauschal als Kosmetik abzutun.

Politische Widersprüche suchen, da wo sie sind

Natürlich ist klar, dass Einheit nicht die einzige Voraussetzung für gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit ist. Aus der Geschichte wissen wir, dass der Kampf für die organisationspolitische Einheit ebenso wichtig ist wie die Auseinandersetzung um politische Klarheit. Die friedenspolitische Gewerkschaftskonferenz, die von der IG Metall Hanau-Fulda in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in diesem Sommer organisiert wurde, war eine solche Auseinandersetzung. Dabei wurde der Konflikt mit der Politik der Bundesregierung gesucht, weil sich außenpolitische und tarifpolitische Fragen im Kontext des Krieges immer stärker ineinander verschieben. Entspannungspolitik ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Umverteilungspolitik. Deshalb müssen die Gewerkschaften zum Akteur für eine schnelle Beendigung des Krieges werden. Die leidenschaftlichsten Beiträge auf der Konferenz kamen im Übrigen von einer Gruppe junger Gewerkschafter*innen, die aus Hamburg angereist war und parteipolitisch in der DL 21, dem linken Flügel innerhalb der SPD, organisiert ist. Sie waren es auch, die sich bei dem anwesenden Jeremy Corbyn für den unsäglichen Umgang ihrer Schwesterpartei, der Labour-Party, mit seiner Person entschuldigten.


Linke Gewerkschaftspolitik sollte das Ziel verfolgen, mit allen Beschäftigten die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Wenn Daniel Weidmann fordert, dass die Aufklärung über die Kosmetik der SPD zum Schwerpunkt erhoben werden muss, dann ist das zwar die logische Konsequenz seiner Analyse, führt aber strategisch in die Sackgasse. Die Gewerkschaftspolitik der SPD ist richtig, solange sie die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen anstrebt. Und sie ist falsch, wenn sie dies nicht tut. Eine Linke, die sich daneben stellt und im Grunde positive Gesetzesvorlagen als „Gewerkschaftslack“ bezeichnet, isoliert sich und schwächt die Gewerkschaften in ihrer Gesamtheit. Das Problem sozialdemokratischer (Gewerkschafts-)Politik besteht nicht in der Kosmetik, sondern darin, dass sie sich vor Brüchen scheut. Ein Eintreten für ein schnelles Ende militärischer Konflikte und eine Absage an weitere Aufrüstungsinitiativen würde die Bedingungen für erfolgreiche Umverteilungskämpfe schaffen. Und eine kompromisslose Politik zur Reichtumsbesteuerung würde die Ressourcen freisetzen, die für eine humanistische Migrationspolitik erforderlich wären. Weil die SPD in beiden Fragen die politischen Brüche mit der herrschenden Politik scheut, wird sie in der aktuellen sicherheits- und migrationspolitischen Debatte ebenso wie Grüne, FDP, CDU/ CSU und Freie Wähler zum Treiber des gesellschaftlichen Rechtsrucks. 

Gewerkschaftspolitik auf der Höhe der Zeit

Linke Gewerkschaftspolitik auf der Höhe der Zeit muss die Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht unterstützen, darf aber nicht dabei stehen bleiben. Wenn unter dem Einfluss von Inflation und Energiekrise Tarifpolitik schwieriger wird, muss sie die Auswirkungen des Krieges stärker in den Mittelpunkt gewerkschaftlicher Strategiedebatten stellen. Hinzu kommen die Auswirkungen milliardenschwerer Aufrüstungsprogramme, aber auch die deutschen Nachhaltigkeitsbemühungen, die sich im Kontext des Krieges gerade in Luft auflösen, natürlich der gesellschaftliche Rechtsruck und die wachsende Stärke der AfD. Beides torpediert gesellschaftliche Solidarisierungsprozesse und schwächt die Klasse der Lohnabhängigen. Bei der Lösung all dieser Fragen spielen selbstbewusste und handlungsfähige Gewerkschaften eine Schlüsselrolle. Aus diesem Grund müssen die LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung die Rolle definieren, die sie im Kontext gewerkschaftlicher Strategiebildung spielen wollen. Dabei sollte die Frage diskutiert werden, was gewerkschaftliche Handlungsmacht stärkt und was sie schwächt. Was den Gewerkschaften aktuell fehle, schreibt Hans-Jürgen Urban, sind die Fähigkeit und die Bereitschaft, das weitverbreitete Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt und dass die Nachhaltigkeitswende des Gegenwartskapitalismus gar nicht nachhaltig ist, zu intellektualisieren und konsequent zu durchdenken (ebd., 16). Diese Leerstelle von links zu füllen, würde die Gewerkschaften bei der Bewältigung der aktuellen epochalen Herausforderungen stärken.


Aber natürlich braucht eine solche Neuausrichtung strukturelle Veränderungen. Eine gewerkschaftspolitische Schwerpunktsetzung, die keinen Platz hat, an dem sie gemeinsam strategisch erwogen, erarbeitet und diskutiert wird, hat in erster Linie einen selbstreferenziellen Charakter. Es muss also ein Ort geschaffen werden, an dem genau diese Diskussion ausgetragen wird. Der Gewerkschaftsrat ist dieser Ort nicht, denn er hat nur eine Beratungsfunktion gegenüber der Partei. Strategische Schwerpunkte müssen der Beratung im Gewerkschaftsrat vorgelagert werden. Sie müssen aus dem verknüpften Diskurs der verschiedenen „Gewerkschaftsabteilungen“ erarbeitet werden. Ebenso wie die Stiftung ein Referat für Gewerkschaftspolitik und die Bundestagsfraktion einen gewerkschaftspolitischen Sprecher hat, muss sich auch die Partei eine Abteilung Gewerkschaftspolitik einrichten. Dies würde die gemeinsame Analyse gewerkschaftspolitischer Herausforderungen und Strategiediskussionen institutionalisieren. Wie hilfreich eine solche Institutionalisierung für die Koordinierung der Debatte sein kann, haben zuletzt die wichtigen und guten strategischen Diskussionen im Gewerkschaftsrat mit regelmäßiger Präsenz der beiden Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan sowie die jüngste Diskussion des Parteivorstandes über gewerkschaftspolitische Schwerpunktsetzungen gezeigt. Das wäre ein Gewinn sowohl für die Gewerkschaften als auch für die Partei DIE LINKE.