Bei einem Putschversuch im April 2002 gelang es ihr mit Unterstützung der US-Regierung, Chávez zeitweise aus dem Amt zu entfernen. Nachdem massive Proteste und loyale Militärs Chávez zurück an die Macht verholfen hatten und dieser Weg der Opposition nicht mehr offen stand, organisierte die Opposition Ende 2002 und Anfang 2003 einen Generalstreik, der in der Ölindustrie einer Sabotage gleichkam. Es war der Versuch, die Wirtschaft lahmzulegen und Zwietracht zwischen weiten Teilen der Gesellschaft zu säen. Doch auch diese Bemühung war vergebens, eine Organisierung von unten nahm in dieser Zeit eher zu. Ein weiterer Rückschlag für die Opposition war ihr gescheiterter Versuch, 2004 den Präsidenten durch ein Referendum abzusetzen. Obwohl die unabhängigen internationalen BeobachterInnen die Fairness und Transparenz des venezolanischen Wahlsystems lobten, versuchte die Opposition das Scheitern des Referendums wie bei jeder verlorenen Wahl als Betrug darzustellen. 2005 boykottierte sie die Wahlen zur Nationalversammlung in der falschen Hoffnung, dass ihr Rückzug von diesem Spielfeld die Legitimität des politischen Systems unter Chávez vollkommen untergraben würde. (vgl. Weisbrot 2014) Nach dem Tod von Hugo Chávez gewann Maduro – wenn auch nur mit einem geringen Abstand von weniger als einem Prozent der Stimmen – die Präsidentschaftswahlen im April vergangenen Jahres vor Henrique Capriles, dem rechten Kandidaten der Mesa Unida Democrática (Runder Tisch für demokratische Einheit, MUD). Wie vorauszusehen war, reagierte die Opposition mit Wut auf die erneute Niederlage. Capriles und seine Unterstützer weigerten sich, das Ergebnis anzuerkennen und organisierten Proteste, in deren Verlauf Dutzende bolivarische[i] AktivistInnen ums Leben kamen und ungefähr einhundert verletzt wurden. Die Ausschreitungen des letzten Aprils verursachten auch große Schäden an öffentlichen Gebäuden und Institutionen. Als deutlich wurde, dass die Unruhen in den Straßen nicht dazu imstande waren, die Regierung zu destabilisieren oder neue Teile der Gesellschaft auf die Seite der Opposition zu ziehen, ordnete diese sich neu und suchte nach einer anderen Taktik. Die neue Agenda der Rechten war, die Kommunalwahlen im Dezember 2013 zum Plebiszit über die Legitimität der Maduro-Regierung zu erklären. Bei den Kommunalwahlen konnte der Chavismus allerdings einen deutlichen Sieg einfahren und manchen politischen Boden wieder gutmachen, den er in den Präsidentschaftswahlen acht Monate zuvor eingebüßt hatte. Obwohl keine Wahlpflicht besteht und traditionell viele WählerInnen den Kommunalwahlen fernbleiben, kam es zu einer Beteiligung von 60 Prozent. Der Chavismus gewann mit etwa zehn Prozent Abstand und stellt infolgedessen 242 Bürgermeister, der MUD lediglich 75. Mit diesem unvorhergesehenen Ergebnis scheiterte die Oppositionsstrategie, die Legitimität von Maduros Präsidentschaft auszuhöhlen (Santander 2014). Der MUD war nicht in der Lage, dem Chavismus die Hegemonie auf dem Feld demokratischer Wahlen streitig zu machen.

Spaltung an der Oberfläche, Einheit im Kern

Kurz nach der Veröffentlichung des Wahlergebnisses änderte Capriles, nun in Funktion des Gouverneurs des Bundesstaates Miranda, die Gangart. Er folgte dem Aufruf Präsident Maduros, der die Bürgermeister und Gouverneure der Opposition nach den Kommunalwahlen erneut zu einem Treffen einlud und dazu aufforderte einen gemeinsamen Plan für Frieden und nationale Versöhnung auszuarbeiten. Neben Capriles nahm die Mehrheit oppositioneller Bürgermeister und Gouverneure an den Dialogen mit dem Präsidenten teil und sicherte die Mitwirkung an einem neuen Programm zur Verbrechensbekämpfung und Verbesserung der Bürgersicherheit zu. Der Schritt zu Mäßigung und Dialog überzeugte die Hardliner der Ultrarechten innerhalb der MUD-Koalition allerdings nicht, was die gegenwärtigen Ausschreitungen zeigen. Viele linke Chavisten neigen jedoch leicht dazu, die Spaltungen innerhalb des konterrevolutionären Blocks überzubewerten und die Gemeinsamkeit der Opposition in ihren Zielen zu unterschätzen (Evans 2014). „Wir sehen uns mit dem klassischen konterrevolutionären Schema konfrontiert“, heißt es in einem Kommuniqué der revolutionären sozialistischen Strömung Marea Socialista (Sozialistische Flut, MS), die innerhalb der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) organisiert ist. „Es besteht darin, die Regierung in einer Weise unter Druck zu setzen, dass sie antipopulare Maßnahmen erlässt, wodurch sie vollständig ihre soziale Basis verliert und ihr verbrauchtes Image in den Köpfen des bolivarischen Volks festigt, das in der Folge für eine Ablösung der Regierung eher offen sein wird, gleich, ob eine solche Ablösung nun gewaltsam oder friedlich erfolgt. Die Regierung Maduros begeht einen schwerwiegenden Fehler, wenn sie glaubt, dass es eine ‚gewalttätige‘ Rechte gibt und eine andere, ‚friedliche‘ Rechte, mit der die Regierung verhandeln kann und die die Verfassung achten wird. Wie in der alten Kombination von ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ treffen sich diese Flügel in einem zentralen Ziel: dem Ende des Bolivarischen Prozesses“ (Marea Socialista 2014). Die Kartographie der Proteste in Caracas spiegelt sehr genau die soziogeographischen Spaltungen der Hauptstadt mit seinem ‚hellerhäutigen‘ und reicheren Osten und ‚dunklerhäutigen‘ und ärmeren Westen wider. Die Mittelschichtsbarrikaden wurden im Osten errichtet, wo die Studierenden privater Eliteuniversitäten neben den Studierenden der wichtigsten staatlichen Universität wohnen – historisch ein abgeriegeltes Revier für die Kinder der Reichen.[ii] Der Westen ist von Unruhen dagegen relativ verschont geblieben. In den Tagen nach dem ersten Ausbruch der Unruhen gehörten zu den ‚friedlichen‘ Protesten der Rechten unter anderem Angriffe auf 50 Busse eines neu eingerichteten, für Arme bezahlbaren öffentlichen Transportsystems. Außerdem wurde die Bolivarische Universität, ein neues Institutionennetzwerk zur Integration ‚sozial schwacher Schichten‘ in das System der höheren Bildung, belagert. Und medizinisches Fachpersonal aus Kuba, das an dem Gesundheitsversorgungsprogramm Barrio Adentro beteiligt ist, wurde massiv körperlich angegriffen. Laut zahlreicher Augenzeugen operierten in den Straßen neben den Angriffen rechter Studierender auch paramilitärische Stoßtrupps. Aus den Protesten, die vorgeblich die Knappheit an allgemein zugänglichen Nahrungsmitteln und anderen Grundgütern bemängelten, kam es seitens rechter Militanter zu Angriffen auf Regierungsfahrzeuge, die ebendiese Produkte transportierten (González 2014). Capriles hat sich bisher dagegen gesträubt, in die Rufe nach Demonstrationen in den Straßen einzustimmen. Er hat in der Tat die exzessive Gewalt seitens der Protestierenden verurteilt. Jedoch muss er hoffen, dass das öffentliche Gedächtnis kurzlebig genug ist, um seine führende Rolle in den Demonstrationsaufrufen im vergangenen April vergessen zu haben, als bei den Protesten Dutzende Menschen starben. Ein anderes Anzeichen dafür, dass die aggressiven Studierendenproteste moderate Teile des konterrevolutionären Blocks bislang eher abgeschreckt haben, ist, dass sich nur wenige rechte Politiker von Rang formell hinter das Gewaltgebaren der studentischen und paramilitärischen Demonstrationen gestellt haben.

Gesellschaftliche Kräfte in der Rechten

Seit etwa 2008 wurde dem rechten Teil der durchgängig gespaltenen Studierendenbewegung die Rolle einer neuen Avantgarde angetragen, um die Agenda der Opposition voranzutreiben. Die Versuche der Konterrevolution, sich organisch mit anderen gesellschaftlichen Subjekten zu verbinden und eine neue Speerspitze zu bilden, hatten keine ernstzunehmenden Erfolge. Die in der Opposition führenden Großgrundbesitzer und Großkapitalisten sind nicht in der Lage durch die Einbindung breiterer gesellschaftlicher Schichten eine landesweite vereinigende Bewegung zu formen. Die oppositionelle Rechte ist in der formellen Arbeiterklasse kaum präsent, und auch in der breiten Bevölkerung ist ihr Einfluss, zumindest für den Moment, minimal. Daher ist es durchaus verständlich, dass die Rechte sich die Studierenden als Akteure und Kampffeld ausgesucht hat (vgl. Corriente Revolucionario Bolívar y Zamora – Poder Popular Socialista 2014). 2008 sprach das in den USA ansässige Cato Institute den mit 500 000 US-Dollar dotierten „Milton-Friedman-Preis für die Förderung der Freiheit“ dem Studierendenführer Yon Goicoechea zu, weil er für Proteste gegen die Nichtverlängerung der Sendelizenz des privaten Fernsehkanals RCTV mobilisiert hatte. In der Folge wurde ein beträchtlicher Teil der jährlich 45 Millionen US-Dollar, mit denen US-Institutionen die Opposition in Venezuela unterstützen, in Jugendprogramme gelenkt. Mittels dieses finanziellen Rückhalts und des logistischen Trainings für Medienkampagnen entwickelte sich die rechte Juventud  Activa Venezuela Unida (Vereinigte Venezolanische Aktive Jugend, JAVU) zu einer zunehmend rege agierenden Organisation. 2012 zum Beispiel führte die JAVU Proteste gegen die mutmaßliche Zensur privater Sender an und organisierte Kämpfe zur Verteidigung – wie sie es darstellten – der universitären „Autonomie“ gegen staatliche Eingriffe. In den gegenwärtigen internen Gefechten der Rechten haben sich die Studierenden offen auf die Seite der Utra-Rechte geschlagen. (vgl. Buxton 2014; Navea 2014) Während die Studierenden die offen sichtbaren Brigaden sind, die die Stadtlandschaft aufreißen, bildet eine komplexe Konstellation nationaler und internationaler Netzwerke den gesamten gegenwärtigen konterrevolutionären Block. Der Wirtschaftsverband Fedecámaras ist weiterhin aktiv, ebenso die großen privaten Medien, national wie international. Politische Parteien, NGOs und Kirchen sind unter dem Dach von MUD alle miteinander verbunden. Auch eine Reihe von Parteien sind an dieser fragilen Einheit beteiligt: so die Acción Democrática (Demokratische Aktion, AD); Primero Justicia (Gerechtigkeit zuerst, PJ); COPEI, La Causa Radical (Radikale Agenda, LCR); Voluntad Popular (Wille des Volks, VP); Proyecto Venezuela (Projekt Venezuela, PV) sowie eine Reihe kleinerer rechter Gruppen. Von den vielen Multimillionären, die die Opposition unterstützen, ist Pedro Carmona einer der einflussreichsten. Er wird häufig als Vater des golpismo (Umstürzlerei) in Venezuela angesehen. Inmitten des erfolglosen Staatsstreichs von 2002 war Carmona von Unterstützern des Coups kurzzeitig zum Präsidenten erklärt worden. Zwar befindet er sich im Moment im kolumbianischen Exil, jedoch wird ihm nachgesagt, ein konspiratives Netzwerk in Venezuela zu unterhalten. Jorge Roig ist einer der Unternehmer in Carmonas politischem Netzwerk in Caracas. Eligio Cedeño ist ein entscheidender Kontakt in Miami. Sowohl Roig als auch Cedeño werben gegenwärtig offen für Wirtschaftsboykott, Verknappung und Hortung von Gütern. Ihnen wird auch vorgeworfen, diverse zivilgesellschaftliche golpista-Gruppen wie die NGO Humano y Libre (Menschlich und Frei) finanziert zu haben. International haben US-Institutionen wie USAID und National Endowment for Democracy (NED) Kontakt zur rechten Opposition geknüpft und bieten dieser logistische und finanzielle Unterstützung an. Der volle Umfang ihrer Mitwirkung wird wohl für viele Jahre im Dunkeln bleiben, doch dank Wikileaks wissen wir bereits eine Menge. Auch im Inland gibt es zahlreiche Akteure, die die Opposition unterstützen wie beispielsweise viele NGOs. Darunter ist auch das Centro de Divulgación del Conocimiento Económico para la Libertad (Zentrum zur Popularisierung Ökonomischen Wissens für die Freiheit, CEDICE). Eine Hauptaktivität des CEDICE besteht darin, Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung zu üben und Boykottkampagnen offen zu unterstützen. Zu seinen wichtigsten Finanzquellen gehört das Center for International Private Enterprise (CIPE) aus den USA. (vgl. Martínez 2014) Viele Chavisten sind überzeugt – und in der Vergangenheit finden sich hierfür zahlreiche Beispiele –, dass das ganze Spektrum rechter Akteure im Land regelmäßig mit dem Pentagon, der CIA und dem US-Außenministerium in Kontakt steht, um die Taktiken für die nächste Phase festzulegen.

Ökonomische Defizite

Während die Darstellung der rechten Opposition zeigt, wie Widersprüche und Antagonismen bewusst herzustellen versucht werden, kommt der jüngste Anstoß zu den außerparlamentarischen Aufständen aus einer Reihe dem Chavismus innewohnender echter Widersprüche und Krisen. Der Ausbruch der Revolte fällt zusammen mit verstärkten Symptomen struktureller Schwächen der wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie der Regierung. Die zugrunde liegenden Probleme haben sich zuletzt heftigen Ausdruck verschafft – darunter sind die Inflation und die Engpässe nicht die geringsten Übel. (vgl. Spronk/Webber 2014) Die Unzufriedenheit in einigen Schichten der chavistischen Basis ist real. Insbesondere die jüngste Kapitulation der Regierung vor den Forderungen aus dem ‚soft-rechten‘ Capriles-Lager, die Währung ein zweites Mal in Folge abzuwerten, hat Unzufriedenheiten verstärkt (Schipani 2014). Die hohe Inflation senkt die Löhne der Arbeitenden drastisch und macht die kürzlich beschlossene zehnprozentige Lohnerhöhung praktisch rückgängig. Die soziale Basis des Bolivarismus wünscht sich seit langem einen härteren und konsequenteren Umgang mit der Bourgeoisie, aber die Maduro-Regierung hat sich auf improvisierte und ineffektive Kontrollen, Gesetze, Sanktionen und eine Reihe weiterer Maßnahmen beschränkt, die sich nicht zu einer kohärenten Wirtschaftsstrategie fügen (Sutherland 2014). Die Vorwürfe der Regierung, dass die Kapitalistenklasse einen „Wirtschaftskrieg“ führt, sind zwar berechtigt (Ciccariello-Maher 2014), vernachlässigen aber die Grundprobleme, die der ganz alltägliche kapitalistische Akkumulationsprozess in Venezuela aufwirft. Es ist ziemlich schwierig, den Bolivarischen Prozess unter den gegenwärtigen Bedingungen aufrechtzuerhalten, geschweige denn einen langfristigen Übergang zum Sozialismus zu vertiefen und auszuweiten, wenn man bedenkt, welche Stellung das private Kapital immer noch in der Wirtschaft genießt. Sutherland zufolge erlebte Venezuela in der Periode fester Wechselkurse eine Kapitalflucht von etwa 150 Milliarden US-Dollar, was ungefähr 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 2010 entspricht. Diese Kapital-Plünderung ist eine der Triebkräfte für die Entwertung der nationalen Währung und heizt die Spekulation auf den Dollar in den Schwarzmärkten an (Dollars werden dort für das 15-fache des offiziellen Wechselkurses verkauft). Kommerzielle Händler orientieren sich bei der Festlegung der Preise am Schwarzmarktkurs, wenn man von einigen Gütern absieht, deren Preise staatlich reguliert werden. Der rasante Preisanstieg, das Problem des Hortens einmal außer Acht gelassen, ist also immer noch ein zentrales Problem, das nach Lösung verlangt. Jene kommerziellen Akteure, die legal Dollars durch offizielle Kanäle erwerben, vorgeblich um Importwaren aus dem Ausland zu kaufen, haben keinen Anreiz, die Dollars tatsächlich zu diesem Zweck einzusetzen; stattdessen haben sie jeden Grund, diese Dollars illegal in den Schwarzmarkt abzuzweigen, um außerordentlich hohe Profite abzugreifen. Diese Praxis verstärkt die Güterknappheit und den Preisanstieg und führt zu geringerer Qualität von Gütern und Dienstleistungen. Der Grund für die gegenwärtige Wirtschaftskrise liegt also nicht so sehr in einer Verschwörung des Kapitals zu ökonomischer Kriegsführung, sondern in dem ganz regulären Verhalten unter den gegebenen Anreizstrukturen. Eine offnesive wirtschaftspolitische Antwort der Regierung auf diese Emntewicklungen wäre es, alle im Land verfügbaren Dollars unter zentrale gesellschaftliche Kontrolle zu bringen – egal ob diese Dollars über den Ölhandel ins Land kommen oder in ausländischen Konten deponiert sind, einschließen. Sie müsste massiv in das gesamte inländisch operierende private Bankensystem eingreifen, um die ökonomische Planung zu finanzieren und um gleichzeitig die Kontrolle über alle Geldmittel zu zentralisieren, die zur Zeit durch das öffentliche Bankensystem verwaltet werden. Eine offensive Wirtschaftspolitik müsste eine staatliche Produktion basaler Subsistenzgüter dringend wiederherstellen, um auf die reale Mangelkrise zu reagieren. Und sie müsste eine unter ArbeiterInnen- und öffentlicher Kontrolle durchgeführte Enteignung der größten Unternehmen beinhalten, die sich am aktivsten an der Hortung, Spekulation und am Schmuggel beteiligen. Nicht zuletzt müsste eine Offensive in der Wirtschaftspolitik die Bevölkerungen und Regierungen Lateinamerikas zur Unterstützung und Solidarität in Form von Bereitstellungen von Grundgütern und Arzneimitteln aufrufen, um die kurzfristigen Probleme zu überwinden. (Sutherland 2014)

Bürokratische Sklerose

Um die fortschreitende bürokratische Erstarrung innerhalb der verschiedenen Organisationen der Bewegung zu verstehen, müssen wir uns einige analytische und empirische Grundlagen ansehen (Spronk/Webber 2014). In einem kürzlich veröffentlichten offenen Brief lenkt Mike González, Autor einer gerade erschienenen Biographie von Chávez, unsere Aufmerksamkeit auf eine „neue bürokratische Klasse, die selbst die Spekulanten und Eigentümer dieser neuen und scheiternden Ökonomie sind […] man sieht sie feurige Reden gegen Korruption halten und das obligatorische rote Shirt und die rote Kappe des Chavismus tragen. In den vergangenen Jahren sind aber buchstäblich Milliarden von Dollar ‚verschwunden‘; der außerordentliche Reichtum, den führende Chavisten angehäuft haben, ist das deutlichste Zeichen, dass ihre Interessen zur Geltung gekommen sind, während die Institutionen der Volksmacht weitgehend ausgetrocknet sind. […] Die Rechte hofft, sich diese Desillusionierung zunutze machen zu können“ (González 2014). Wie Roland Denis analysiert, gibt es jedoch auch reale Spaltungen innerhalb des Kapitals. Diese drücken sich durch die gegenwärtigen Kämpfe um die Vormachtstellung in der rechten Oppositionsführung aus. Es gibt laut Denis eine nationale Fraktion der Bourgeoisie, die sich „in den vergangenen Jahren paradiesischer Profite [erfreute], die sie unter dem Modell des bürokratischen Korporatismus und des vom Wirtschaftsentwicklungsplan der Regierung geförderten Staatskapitalismus erwirtschaftet hat“ (Denis 2014). Dieser Analyse zufolge haben Korruption und Klientelnetzwerke für diesen Teil der nationalen Bourgeoisie ebenso wie für die interne bürokratische Schicht des Chavismus, die González kurz angesprochen hatte, Profite erzeugt. Diese Fraktion hat daher ihre potenziellen Machtmittel wie Geschäftsstreiks, offene Sabotage der Wirtschaft oder interne Putsche für den Angriff auf die Regierung nicht eingesetzt. Denn sie ist an einer relativen Stabilität und einem Regimewechsel interessiert, welche das gegenwärtige Profitparadies nicht gefährden. (ebd.) Der Bürokratisierungsprozess ist Denis zufolge auch dafür verantwortlich, dass die ursprüngliche Vitalität der Graswurzelorganisationen des Bolivarischen Prozesses verloren gegangen ist. Sie haben sich zunehmend in reine Geldempfänger des Staats entwickelt, die bloß auf die Anreizstrukturen eines staatskapitalistischen Entwicklungsmodells in einem Land mit Ölreichtum reagieren, statt selbstbestimmte Subjekte einer potenziellen Revolution zu sein, die sich einmal deutlicher am Horizont abzeichnete: „Das parasitäre klientelistische Modell des Staatskapitalismus […] bringt Kontrollpolitik, Machtkonzentration und Ersetzung gesellschaftlicher Kontrolle durch technokratische und bürokratische Funktionäre mit sich. […] Wenn dieses Modell nicht grundsätzlich infrage gestellt wird mit Maßnahmen, die es kurzfristig radikal transformieren, wird es weiterhin zu unkontrollierten Engpässen und Inflation führen“ (ebd.).

Inneren ‚Frieden‘ erkaufen – die strukturelle Gewalt des Kapitalismus

Im Gegensatz zu einer wirtschaftspolitischen Offensive und einem härteren Vorgehen gegen die Interessen der Bourgeoisie führt eine Strategie nationaler Versöhnung zwangsläufig zu einer Restauration des Kapitalismus und einer Rücknahme der sozialen Errungenschaften seit Chávez' Amtsantritt 1999. Der ‚Pazifismus‘ der Maduro-Regierung stellt für Denis „einen ‚Frieden‘ dar, der nicht produktiv ist, der keine Herausforderungen und keine neue Stufe der Mobilisierung bringt. Damit signalisiert die Regierung deutlich ihre Schwäche“ (ebd.). Ähnlich sieht dies Carlos Carcione, ein pointierter Kritiker aus der sozialistischen Linken innerhalb des Chavismus: „Eine Regierungskampagne, die zum ‚Frieden‘ aufruft, kommt gelinde gesagt zu einem ungünstigen Zeitpunkt und endet notwendig in Enttäuschung. Sie hält fest an einem zum Scheitern verurteilten Plan, einen Gesprächspartner in der Bourgeoisie zu finden, um einen Versöhnungsprozess in Gang zu setzen, statt sich um demokratische Teilhabe der Leute, die von ihrer Arbeit leben, zu bemühen, was unmittelbar antikapitalistische Maßnahmen nach sich zöge. Dies sind die hervorstechenden Symptome der aktuellen Phase, die über die kommenden Wochen oder Monate eine Entscheidung über die unmittelbare Zukunft des sogenannten Bolivarischen Prozesses bringen wird, wobei den Aktionen auf der Straße ein besonderes Gewicht zukommen wird“ (Carcione 2014). Einige Unterstützer des Chavismus, die eine solche Kritik der gegenwärtigen Bürokratisierung des Prozesses nicht teilen, legen eine vollkommen selbstzufriedene Haltung an den Tag, was die Aussichten zur Lösung des aktuellen Konflikts angeht. Sie verweisen darauf, dass die bolivarischen Kräfte, anders als 2002, heute viel gefestigter sind. Sie kontrollieren die Ölgewinne, die über den Staatskonzern PDVSA erzielt werden. Sie kontrollieren die Streitkräfte und den Zugang zu internationalen Reserven. Und sie haben eine sehr viel zentralere Stellung in der Produktion und in den Medien (Severo 2014). Die Frage ist, ob der linke Flügel des Chavismus in der gegenwärtigen Konjunktur einen Sieg davontragen kann; ob er in der Lage ist, sich von allen Illusionen über einen technokratischen, mit den ‚demokratischen‘ Fraktionen der Bourgeoisie ausgehandelten ‚Frieden‘ freizumachen, von jenen Illusionen, die die konservativsten Elemente des Chavismus und die bürokratischen Schichten der Regierungspartei pflegen. Wenn der chavistischen Linken dies gelingt, ist es nicht ausgeschlossen, dass daraus eine allgemeine transformative Erneuerung und Wiederbelebung des Prozesses hervorgeht. Es zählt nicht nur, dass dieser dritte Aufstand der konterrevolutionären Rechten besiegt wird, sondern wie er besiegt wird, und auch dass er wirklich besiegt wird. Konkret könnte das die Einbindung der Basis in die höchsten Entscheidungsebenen der Regierung bedeuten – das heißt die Einbindung sozialer und politischer Organisationen des bolivarischen Volkes, ihrer Basisgewerkschaften und ihrer Kommunen und Räte, sowie die Ausstattung dieser Institutionen mit wirklicher Macht. Es könnte bedeuten, die unabhängigen Kämpfe der Ausgebeuteten zu ermutigen und zu unterstützen, die zurzeit für Lohnerhöhungen und Arbeitsplatzerhalt kämpfen wie in der Automobilindustrie. Die Regierung muss den legitimen autonomen Kampf der arbeitenden Bevölkerung ermutigen, nicht kriminalisieren, während sie sich den Kräften der Konterrevolution entgegenstellt, gerade um ihre Chancen in dieser Auseinandersetzung zu erhöhen (Marea Socialista 2014). Eine solche Neuorientierung würde wahrscheinlich auch eine Erneuerung der Führungszirkel erfordern.   Gekürzte Fassung des Artikels "February Traumas: The Third Insurrectionary Moment of the Venezuelan Right", erschienen bei New Politics,  http://newpol.org.  Aus dem Englischen von Daniel Fastner  

Literatur

Buxton, Julia, 2014: The Real Significance of the Student Protests, in: AVN, 20.2.2014, www.avn.info.ve/contenido/mentiras-derecha-para-impulsar-golpe-estado Carcione, Carlos, 2014: El Proceso Bolivariano en la hora de verdad, in: Rebelión, 20.2.2014, www.rebelion.org/noticia.php?id=181061 Ciccariello-Maher, George, 2014: LaSalida? Venezuela at a Crossroads, in: The Nation, 21.2.2014, www.thenation.com/article/178496/lasalida-venezuela-crossroads Corriente Revolucionario Bolívar y Zamora – Poder Popular Socialista, 2014: Momento y perspectivas: la nueva asonada contrarrevolucionaria, in: Rebelión, 19.2.2014, www.rebelion.org/noticia.php?id=181029 Denis, Roland, 2014: Desactivar el fascismo, in: Aporrea, 19.2.2014, www.aporrea.org/oposicion/a182411.html Evans, Nicmer N., 2014: Oposición dividida pero no desunida y ‘la salida’, in: Rebelión, 6.2.2014, www.rebelion.org/noticia.php?id=180472 González, Mike, 2014: Is Venezuela Burning? A Letter from Caracas, in: Revolutionary Socialism, 22.2.2014, http://revolutionarysocialism.tumblr.com/post/77478189373/is-venezuela-burning-a-letter-from-caracas Marea Socialista, 2014: Rectificar y avanzar hacia la revolución económica: Para frenar la ofensiva de la derecha, in: Rebelión, 15.2.2014, www.rebelion.org/noticia.php?id=180860 Martínez, Ricardo, 2014: Los actores del golpismo en Venezuela, in: RT Actualidad, 18.2.2014, http://actualidad.rt.com/blogueros/ricardo-martinez/view/120209-actores-golpismo-venezuela Navea, Ana, 2014: Mentiras de la derecha para impulsar un golpe de Estado, in: AVN, 20.2.2014, www.avn.info.ve/contenido/mentiras-derecha-para-impulsar-golpe-estado Santander, Pedro, 2014: Diálogo o golpismo: Lo que está en juego en Venezuela, in: Rebelión, 19.2.2014, www.rebelion.org/noticia.php?id=181024 Schipani, Andrés, 2014: Venezuela: Amid Unrest, Another Forex Mechanism, in: Financial Times, 20.2.2014, http://blogs.ft.com/beyond-brics/2014/02/20/venezuela-amid-unrest-another-foreign-exchange-mechanism/?Authorised=false#axzz2yIijqXHX Severo, Luciano Wexell , 2014: Golpe de Estado suave, in: Rebelión, 21.2.2014, www.rebelion.org/noticia.php?id=181112 Spronk, Susan und Jeffery R. Webber, 2014: Sabaneta to Miraflores: The Afterlives of Hugo Chávez in Venezuela, in: New Politics (Winter), 23.2.2014, http://newpol.org/content/sabaneta-miraflores-afterlives-hugo-chávez-venezuela Sutherland, Manuel, 2014:  Siete apuntes sobre las protestas en Venezuela, in: Aporrea, 17.2.2014, www.aporrea.org/ideologia/a182254.html Weisbrot, Mark, 2014: U.S. Support for Regime Change in Venezuela is a Mistake, in: Guardian, 18.2.2014, www.theguardian.com/commentisfree/2014/feb/18/venezuela-protests-us-support-regime-change-mistake  


[i]       Bolivarische Revolution oder Bolivarianische Revolution (spanisch Revolución Bolivariana) wird ein vom ehemaligen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez begründeter Prozess genannt, der die Gesellschaft im Geiste von Simón Bolívar ausrichten und dabei das politische Leben neu gestalten soll. Da dieser Prozess 1998 mit der Präsidentschaft von Chávez begann, der grundlegende Veränderungen vornahm, wird bolivarische Revolution und Chavismus oft synonym verwendet.
[ii]      Allerdings ist es auch wahr, dass die Studentenbewegung immer gespalten war und der linke Teil zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten auch in den staatlichen Eliteuniversitäten präsent war.