In der linken Debatte in Deutschland besteht viel Unklarheit über die Diagnose der „Faschisierung“. Oft wird sie missverstanden als Aufstieg der AfD zur führenden Kraft der politischen Rechten oder als unmittelbar bevorstehende faschistische Diktatur. Der französische Soziologe und Faschismusforscher Ugo Palheta bietet in seinem neuen Buch „Why Fascism Is on the Rise in France. From Macron to Le Pen“ eine andere Perspektive: Faschisierung begreift er als umkämpften Prozess einer dreifachen – neoliberalen, autoritären und (anti-muslimisch) rassistischen - Radikalisierung von Teilen der herrschenden Klasse. Palheta gelingt es, seine Analyse der Faschisierung in Frankreich mit einer Erneuerung marxistischer Faschismustheorie zu verbinden. Was wir daraus lernen können, darüber sprach Lia Becker für die Redaktion mit dem Autor.
Die Ära Macron scheint dem Ende entgegenzugehen. In deinem Buch präsentierst du eine Analyse eines Prozesses der Faschisierung mit Bezug auf den kapitalistischen Staat und die Gesellschaft in Frankreich. Droht in Frankreich die „nächste Stufe“?
Macron hat ja letztlich die Dynamiken fortgesetzt, die in der französischen Politik seit fast vier Jahrzehnten vorhanden sind, jedoch mit einer stärkeren Akzentuierung ihrer autoritären Züge. Unter seiner Regierung hat sich nicht nur das Tempo der neoliberalen Reformen beschleunigt, sondern es haben sich auch autoritäre Tendenzen intensiviert. Etwa die polizeiliche und gerichtliche Repression gegen Protestierende; Minderheiten, insbesondere die muslimische werden stigmatisiert und ihre demokratischen Rechte angegriffen. Linke werden dämonisiert und parlamentarische Institutionen und zivilgesellschaftliche Akteure wie die Gewerkschaften umgangen.
Sein Projekt war von Anfang an ein Minderheitenprojekt. Mit anderen Worten, er hatte im Land keine solide soziale Basis – und die Arbeiter*innenklasse sowie die Jugendlichen blieben nicht untätig. Macron musste auf massiven Widerstand wie gegen die Rentenreform reagieren, was die Durchsetzung seiner sozial zerstörerischen Agenda verzögerte. Es war dieser Widerstand und die Schwäche seiner sozialen Basis (hauptsächlich das Bürgertum und die privilegierten Schichten der Arbeiter*innenklasse), die ihn dazu veranlassten, bewusst zu einer weitaus intensiveren Repression zu greifen als jede der vorherigen Regierungen. Mit einem Maß an staatlicher Gewalt, das in Frankreich wohl seit dem Algerienkrieg beispiellos war. So wurden bei den Protesten zwei Personen von der Polizei getötet (Zineb Redouane und Mohamed Bendriss) und Dutzende von Menschen verloren während der Gelbwestenbewegung 2018-2019 sowie während der Unruhen in Arbeiter- und Einwanderer*innenvierteln 2023 ein Auge oder eine Hand.
Diese Verschärfung der Repression war ein Produkt wie ein Sinnbild der Hegemoniekrise, die sich im Land seit mindestens zwanzig Jahren vertieft. Zur Hegemoniekrise gehört eine tiefe ideologische Krise des neoliberalen Projekts, eine Krise der politischen Repräsentation, und der Vermittlung zwischen Staat und Bürger*innen. Die Repression hat die Hegemoniekrise noch erheblich verschärft. Denn sie offenbarte die Unfähigkeit der neoliberalen Autoritären, irgendeine Form des sozialen Kompromisses zu schließen. Sie können ihren fehlenden Rückhalt in der Bevölkerung allein mit Gewalt kompensieren.
Weshalb hat es dann Macron dennoch geschafft, 2022 wiedergewählt zu werden?
Es gibt mindestens drei Gründe: Erstens die Angst, dass die radikale Rechte des Rassemblement National (RN) an die Macht kommt, und damit verbunden die Möglichkeit für den Kandidaten des ‚extremen Zentrums‘, sich erneut als Brandmauer gegen rechts zu positionieren. Dann zweitens die historische Schwäche der Linken, deren Zahl an Wähler*innen in zehn Jahren von etwa 45 auf 30 Prozent gesunken ist. Und schließlich der Niedergang der traditionellen Partei des französischen Bürgertums, Les Républicains (LR, Die Republikaner), die sich nicht als glaubwürdige Alternative zum Macronismus präsentieren konnte.
Dies hat zu einer massiven Stärkung der radikalen Rechten geführt, so dass die wahrscheinlichste Option für die kommenden Jahre eine von der RN dominierte rechtsradikale Koalition sein wird, die einen großen Teil der konservativen und liberalen Rechten (LR und Renaissance[1]) einbindet und dominiert. Dann beginnt die zweite Phase der Faschisierung, die insbesondere dazu dienen wird, die starken Oppositionsbewegungen zu zersetzen, die sich unter Macron entwickelt haben, einschließlich der Linkspartei La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich, LFI).
Du analysierst Faschisierung als einen multidimensionalen Prozess, in dem sich unterschiedliche Elemente verbinden, und zugleich als eine dreifache Radikalisierung des neoliberalen Machtblocks. Um welche Elemente handelt es sich in Frankreich und wie können wir ihre Artikulation verstehen?
Faschisierung bezeichnet einen Prozess, der die Errichtung eines faschistischen Staates ideologisch und materiell vorbereitet. Dafür ist es wichtig zu verstehen, was einen faschistischen Staat auszeichnet. Ein Staat, der offenen Krieg gegen alle Protestbewegungen, Minderheiten und die Arbeiter*innenklasse führt; ein Staat, der bestrebt ist, alle Formen des Widerstands und alle Räume der Gegenmacht zu zerstören; ein Staat, der seine Bevölkerung zugleich atomisiert und ideologisch homogenisierend anruft. Ein Staat, der verspricht, die Kapitalakkumulation auf autoritäre Weise wiederzubeleben.
Faschisierung ist kein linearer Prozess – aber ein organisches Phänomen. Was bedeutet das? Ein faschistischer Staat ist nicht einfach das Ergebnis einer faschistischen Bewegung , die an die Macht kommt, den kapitalistischen Staat wie eine Festung erobert und ihn dann in eine faschistische Richtung umgestaltet. Das ist keineswegs das unvermeidliche Schicksal jedes kapitalistischen Staates in einer Phase der Hegemoniekrise. Faschisierung ist vielmehr eng mit den aktuellen Transformationen des Kapitalismus verbunden, mit der Politik der herrschenden Klassen und daher auch mit den etablierten Parteien.[2]
Wir können zwischen den Faktoren der Faschisierung und ihren Vektoren und Akteuren unterscheiden. Eine Hegemoniekrise ist ein komplexes Produkt der Krise des Kapitalismus. Die Akkumulation von Kapital stößt an Grenzen und Blockaden, stagniert. Identifizierbare Sektoren des Kapitals (fossiles Kapital, spekulatives Finanzkapital, Agrarindustrie, Militär- und Überwachungsindustrien) radikalisieren ihre politische Agenda und unterstützen (direkt oder indirekt) rechtsradikale Bewegungen. Die dominierenden Parteien verlieren an Glaubwürdigkeit und unter großen Teilen des (alten und neuen) Kleinbürgertums sowie unter den etablierteren Schichten der Arbeiter*innenklasse breitet sich Abstiegsangst aus.
Die Krise der Hegemonie kann in einigen Fällen zu einer vorrevolutionären Krise führen, doch meist sind eher Formen von Regierungsinstabilität die Folge. Vor dem Hintergrund der historischen Schwäche der Linken und der Arbeiter*innenbewegung kommt es in der gegenwärtigen Hegemoniekrise zu „Ausbrüchen“ popularer Unzufriedenheit, aber ohne Zukunft, das heißt ohne klare politische Forderungen oder eine soziale Alternative. Die Krise zeichnet sich auch durch eine autoritäre Verhärtung des kapitalistisch-neoliberalen Staates aus: die verstärkte Zentralisierung der Regierungsgewalt, Umgehung des Parlaments, Kriminalisierung von Gegnern und zunehmende Repression, Stärkung der Polizei usw. Dazu kommen Kampagnen, die Minderheiten rassistisch dämonisieren und zusammen mit Linken zu Feindbilden zusammenfassen.
In Deutschland gibt es in der Linken die Tendenz, den „autoritären Neoliberalismus" mit seinen Kürzungspolitiken, Militarisierung und Krieg, der Diagnose der "Faschisierung" entgegenzustellen. Wie schätzt du das Verhältnis von neoliberal-autoritärem Staat und Faschisierung ein?
Meine Hypothese ist, dass wir eine Faschisierung des neoliberal-autoritären Etatismus erleben. Oder anders gesagt: Der neoliberale Staat kann uns unter den gegenwärtigen Bedingungen durchaus mit einer hohen Wahrscheinlichkeit hin zu neofaschistischen Mächten führen – wenn das Momentum nicht von emanzipatorischen Kräften gestoppt wird.
Der marxistische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas betrachtete Ende der 1970er Jahre den entstehenden neoliberal-autoritären Staat nicht als eine neue Form des Ausnahmezustands, der Abkehr vom liberal-demokratischen und parlamentarischen Staat [sondern als autoritäre Ent-Demokratisierung hin zu einer neuen „Normalform“ des Staates, Anm. LB]. Doch gibt es mindestens drei wesentliche Unterschiede zum damaligen Kontext, die uns erlauben, die gegenwärtige autoritäre Verhärtung des Staates anders zu beurteilen und sie als Teil von Prozessen der Faschisierung zu verstehen.
Das erste Element ist offensichtlich die multiple oder Polykrise des Kapitalismus, sowohl ökologisch (Klimakatastrophe), ökonomisch (Stagnation) als auch in politisch-ideologischer Hinsicht (Legitimationskrise, Regierungsinstabilität). Diese Krise ist viel tiefer als in den 1970er Jahren, trotz einer weltweit deutlich schwächeren Arbeiter*innenbewegung. Das zweite Element ist die Präsenz mächtiger rechtsextremer Bewegungen, die sich zunächst und vor allem auf dem Feld der Wahlen entwickeln, aber in zahlreichen Ländern zunehmend auch auf den Straßen und in der Gesellschaft verankern. Das dritte Element ist die Entstehung einer breiten sozialen Massenbasis, allerdings keine Mehrheit, für diese radikale Rechte. Derzeit ist diese noch nicht bereit, sich in paramilitärische Strukturen einzureihen, die wir spontan mit Faschismus assoziieren. Aber sie ist durchaus gewillt, eine neo-faschistische Kraft zu wählen und Prozesse der Faschisierung des Staates mehr oder weniger aktiv zu unterstützen.
Die Qualität und Geschwindigkeit des Faschisierungsprozesses hängt nicht nur vom Projekt oder der Ideologie der herrschenden Kräfte ab, sondern mehr noch von der Tiefe zukünftiger Krisen, deren Intensität unvorhersehbar ist (Kipppunkt des Klimas, Aufstieg des Militarismus und das Risiko von Wirtschafts- und Finanzkrisen usw.) – und nicht zuletzt von der Intensität des popularen Widerstands. Das zeigt die Situation in Frankreich deutlich. Unter Macron gab es in den letzten Jahren eine brutale und autoritäre Unterdrückung der popularen Bewegungen, die im Vergleich zu anderen neoliberalen Regimen eine spezifische Qualität hat. Das liegt aber nicht an der Besonderheit des Macronismus im Vergleich zu anderen nationalen Varianten des Neoliberalismus, sondern daran, dass das Niveau der Mobilisierung in Frankreich viel höher war als irgendwo sonst in Europa, insbesondere seit 2016, und an der Präsenz einer relativ starken radikalen Linken (La France Insoumise konnte 2017 und 2022 bei den Präsidentschaftswahlen ca. 20 Prozent der Stimmen gewinnen).
